Historie: Ein Drucker, drei Brüder und Karl Marx

Porträt Josef, Andreas und Heinrich Scheu
Die Brüder Josef, Andreas und Heinrich Scheu (v. l. n. r.). Sie vermittelten die von Karl Marx ausgehenden Impulse an die österreichische Arbeiter:innenbewegung. | © VGA Wien
Vor 140 Jahren starb Karl Marx. Seine Analyse des Kapitalismus und seine Überzeugung, dass die Arbeiterschaft sich organisieren müsse, um eine gerechte Gesellschaft zu schaffen, prägte die österreichische Arbeiter:innenbewegung von Anfang an mit.
Die Nachricht, dass Karl Marx am 14. März 1883 verstorben war, erreichte bald auch Wien. Dort hielt der Buchdrucker Karl Höger im Arbeiterverein „Wahrheit“ eine Gedenkrede und veranlasste das Absenden eines Kondolenztelegramms an die Hinterbliebenen. Es gehörte viel Mut dazu, diese kleine Feier zu organisieren, auch wenn sie unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, denn Polizeispitzel waren überall, und jeder Verdacht einer Sympathie für den Terroristen, als den die Herrschenden Europas den Verstorbenen sahen, konnte eine Verhaftung und die Anklage wegen Hochverrats zur Folge haben.

Radikale vs. Gemäßigte

In den 1880er-Jahren befand sich die junge Arbeiter:innenbewegung, die nach dem Ende des Vereins- und Versammlungsverbots ab 1867 entstanden war, auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung um den Weg, den sie einschlagen sollte. Es hatten sich ein Lager der „Gemäßigten“ und eines der „Radikalen“ gebildet, und in beiden Lagern gab es Gruppen, die sich auf Karl Marx, seine Kapitalismuskritik und seine Revolutionstheorie beriefen. Der Verein „Wahrheit“ war das Zentrum der nur noch wenigen „Gemäßigten“, die die autoritäre Staatsmacht im Kaiserreich realistisch einschätzten, einen gewaltsamen Umsturz für aussichtslos hielten und Terrormethoden ablehnten. Die Mehrheit unter ihnen glaubte aber wie die „radikalen Sozialist:innen“ an die Abschaffung des Kapitalismus als Grundvoraussetzung, um eine gerechte Gesellschaft zu erreichen, und daran, dass diese Revolution nur mithilfe der organisierten Arbeiterschaft gelingen könne.

Porträts Karl Höger und Eleanor Marx Aveling
Der Buchdrucker und Gewerkschaftspionier Karl Höger und Eleanor Marx Aveling,
die jüngste Tochter von Karl Marx. | © Wienbibliothek im Rathaus/Tagblattarchiv

Die „radikalen Sozialist:innen“ verstanden allerdings die gesellschaftliche Revolution nicht als langfristigen Prozess, sie sahen die Zeit dafür bereits gekommen. Was sie von den Anarchist:innen unter den „Radikalen“ unterschied, war die klare Ablehnung von Terroraktionen, um das verhasste Regime zu destabilisieren. Die gemeinsame Berufung auf Karl Marx bot schließlich die Basis für die Einigung, die mit Unterstützung des Arztes Victor Adler zur Gründung der „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei“ 1889 und der Reichskommission der Freien Gewerkschaften 1893 führte.

Wien – London

Einer der „radikalen Sozialist:innen“, die in den 1880er-Jahren auf der Anklagebank saßen, war Josef Scheu. Der Orchestermusiker und Komponist gründete Österreichs erste Musikergewerkschaft, in Erinnerung geblieben ist er, weil er die Melodie zur „Hymne der österreichischen Sozialdemokratie“, dem „Lied der Arbeit“, schuf. Seine beiden Brüder Andreas und Heinrich gerieten dagegen nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend in Vergessenheit, obwohl gerade sie entscheidend zur Entwicklung der Arbeiter:innenbewegung im Habsburgerstaat beigetragen hatten. Andreas, gelernter Vergolder und Verfasser vieler Gedichte und Liedtexte der Arbeitervereine, sorgte durch seine Agitationsreisen für die Verbreitung des von Marx formulierten Programms der „Internationalen Arbeiterassoziation“ (IAA), sein Versuch einer Parteigründung auf Basis des IAA-Programms scheiterte allerdings. Mitte der 1870er-Jahre emigrierte er als politisch Verfolgter nach Großbritannien, wo er zu einem Mitbegründer der Labour Party wurde.

Bruder Heinrich war Xylograf und hatte in ganz Europa als Illustrator einen ausgezeichneten Ruf. 1870, während Andreas und die anderen führenden Mitglieder des „Gumpendorfer Arbeiterbildungsvereins“ ihre Strafe als „Hochverräter“ absaßen, sprang er als Organisator ein, verhinderte so das Zerfallen der Bewegung und ermöglichte die Neugründung aufgelöster Gewerkschaften und Bildungsvereine. Später arbeitete er auch in London, wo er mit Karl Marx in Kontakt kam. Marx nannte ihn „Freund“, ein seltenes Privileg, das nur wenigen Mitstreitern zuteilwurde.

Auch nach 1883 rissen die Kontakte zwischen Wien und London nicht ab. So schrieb etwa die jüngste Marx-Tochter Eleanor, an die das Kondolenztelegramm gerichtet gewesen war, für die „Arbeiterinnen-Zeitung“, und die Freundschaft zwischen Victor Adler und dem engsten Marx-Vertrauten Friedrich Engels trug ebenfalls in Partei und Gewerkschaft zum prägenden Marx-Einfluss über Jahrzehnte bei. Grundsatztreue ohne Denkverbot sei die Leitlinie, so Adler. Marx habe „[d]ie Lehre, die Theorie … stets freigegeben der freiesten Kritik. Denn Kritik ist ja ihr eigenstes Leben.“

Über den/die Autor:in

Brigitte Pellar

Brigitte Pellar ist Historikerin mit dem Schwerpunkt Geschichte der ArbeitnehmerInnen-Interessenvertretungen und war bis 2007 Leiterin des Instituts für Gewerkschafts- und AK-Geschichte in der AK Wien.

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