Grippe, Krisen, Kurzarbeit

Illustration Kurzarbeit Grippe
Die Pandemie platzte vor 100 Jahren nicht nur in eine Gesundheits- und Hungerkrise, sondern auch in eine Wirtschaftskrise. Die Gewerkschaften verhandelten schon damals Kurzarbeit als wichtigen Beitrag zur Sicherung der Arbeitsplätze und der Existenzgrundlage.
In den Städten und Industriegebieten waren die Menschen, außer sie gehörten zu den Reichen und Kriegsgewinnlern, nicht nur von Krankheit bedroht und hungerten, sie froren auch. Weil die Kohletransporte aus dem Bergbauzentren der Monarchie in Nordböhmen ausblieben und die eigenen Kohlevorkommen nicht ausreichten, gab es kein Heizmaterial, die Dampfloks konnten nicht fahren und Rohstoffe transportieren. Die Wirtschaft kam fast völlig zum Stillstand. Von den sieben Hochöfen der Alpine Montangesellschaft in der Steiermark rauchte nur mehr einer, was eine Krise der gesamten Eisen- und Maschinenindustrie nach sich zog.

  • Kohle als Arzthonorar. In den kalten Nachkriegswintern belastete die „Kohlennot“ die Bevölkerung besonders stark.
    (Bildnachweis: Katalog zur Ausstellung „Mit uns zieht die neue Zeit. Arbeiterkultur in Österreich 1918 – 1934“, Wien 1981, S. 27)

Angesichts der Krise konnte eine große Zahl an Frontheimkehrern nicht an ihre Vorkriegsarbeitsplätze zurück und die notwendige Umstellung von Kriegs- auf Friedenswirtschaft kostete vielen (nicht allen) in der Kriegsindustrie beschäftigten Frauen den Job. Auf der anderen Seite verursachte die große Zahl an Gefallenen und Invaliden und der erst nach und nach heimkehrenden Kriegsgefangenen einen erheblichen Fachkräftemangel. Ziel des Gründungsparlaments der Republik war es, hier einen Ausgleich zu schaffen, – in der Hoffnung, dass die Grenzen bald wieder geöffnet würden und die Wirtschaft stabilisiert werden könne. Sie rief dazu auf, die Arbeit in Angriff zu nehmen und Solidarität zu üben.

Bildnachweis: Die Muskete, Humoristische Wochenschrift, 7. November 1918, S. 1 – ANNO/Österreichische Nationalbibliothek

Aus dem Aufruf der provisorischen Nationalversammlung vom 12. November 1918:

„Jetzt, da die Freiheit gesichert ist, ist es erste Pflicht, die staatsbürgerliche Ordnung und das wirtschaftliche Leben wiederherzustellen. … Die Vorsorge für das tägliche Brot, die Zufuhr von Kohle, die Bereitstellung der notdürftigsten Bekleidung, die Wiederaufnahme des Ackerbaues, die Aufnahme der Friedensarbeit in den Fabriken und Werkstätten ist unmöglich, wenn nicht sofort alle Bürger bereitwilligst und geordnet zur Tagesarbeit zurückkehren. … Wer über Vorräte verfügt, öffne sie den Bedürftigen! Der Erzeuger von Lebensmitteln führe sie denen zu, die hungern! Wer überschüssige Gewandung besitzt, helfe die frierenden Kinder bekleiden! … Jeder denke vor allem an die nächsten Wochen und Monate. Für später ist gesorgt: In wenigen Monaten wird der Weltverkehr wieder frei sein.“

Die Gründung der Republik mitten in der Krise gab Hoffnung. Erstmals wurden ArbeitnehmerInnen und damit die Mehrheit der Bevölkerung durch das Gesetz als gleichberechtigte StaatsbürgerInnen anerkannt und die Gewerkschaften voll in das Krisenmanagement einbezogen. Der zentrale Krisenstab, die „Paritätische Industriekommission“ bestand je zur Hälfte aus Gewerkschaftern und Vertretern der Unternehmerorganisationen, dazu kamen ExpertInnen aus den Staatsämtern (den Ministerien). Sie war damit Vorläuferin des sozialpartnerschaftlichen Problemlösungsmechanismus in der Zweiten Republik, – der Begriff „Sozialpartnerschaft“ war damals allerdings noch unbekannt. Die drei Gewerkschafter waren zuerst Ferdinand Hanusch, dann Franz Domes, Anton Hueber und Julius Grünwald.

Bildnachweis: ÖGB-Bildarchiv

Die Reichskommission der Freien Gewerkschaften vor dem Ersten Weltkrieg. An der Längsseite des Tisches von links nach rechts: 1. links sitzend: Anton Hueber, (General)Sekretär der Kommission; 2. von links sitzend: Julius Grünwald, Vorsitzender der Organisation der BuchbinderInnen und Präsidiumsmitglied der Kommission; 3. von links sitzend: Ferdinand Hanusch, Zentralsekretär der Union der Textilarbeiter, während des Ersten Weltkriegs Vorsitzender der Kommission, ab Ende Oktober 1918 Staatssekretär für Soziales; 3. von rechts stehend: Franz Domes, ab 1918 Vorsitzender der MetallarbeiterInnen und der Kommission, ab 1921 Arbeiterkammer-Präsident in Wien.

Erste Aufgabe der Industriekommission war es, die Arbeitsmarktprobleme in den Griff zu bekommen und trotz Betriebsstillegungen und galoppierender Inflation Existenzsicherung für möglichst viele Menschen zu erreichen. Die erste staatliche Arbeitslosenunterstützung wurde hier vorverhandelt, noch keine Versicherung mit Rechtsanspruch, aber ein erstes Auffangnetz in der Krise. Die „sozialpartnerschaftlich“ besetzten „Industriellen Bezirkskommissionen“ wurden mit ihren „Arbeitslosenämtern“ zu Anlaufstellen für Arbeitslose. Dort, wo Betriebe wegen Energiemangels Kurzarbeit einführten, erhielten die ArbeiterInnen weiter den vollen Lohn, finanziert aus Steuermitteln, aber auch aus einem Beitrag der Unternehmen. Im März 1919 verpflichtete eine Verordnung Betriebe mit mehr als 15 Beschäftigten, ihren Beschäftigtenstand durch das Einstellen von Arbeitslosen um mindestens 20 Prozent zu erhöhen und diese Beschäftigtenzahl dann auch zu halten. Die Reduktion bedurfte der Zustimmung der jeweiligen „Industriellen Bezirkskommission“.

  • Arbeitslose warten vor einer Volksküche auf die Ausspeisung. Erschreckend viele Menschen konnten such nach Kriegsende keine warme Mahlzeit leisten.(Bildnachweis: Österreichische Nationalbibliothek/Bildarchiv)

Das Motto ‚Kurzarbeit statt Zusperren‘ erwies sich als so erfolgreich, dass die Regelung auch noch in der ersten Phase der ‚Inflationskonjunktur“ beibehalten wurde.

Das Motto „Kurzarbeit statt Zusperren“ erwies sich als so erfolgreich, dass die Regelung auch noch in der ersten Phase der „Inflationskonjunktur“ beibehalten wurde. Die provisorische Arbeitslosenunterstützung aus Steuermitteln blieb ebenfalls viel länger als geplant in Kraft, weil die zähen Verhandlungen im Parlament und zwischen den Arbeitsmarktparteien erst im März 1920 zu einem positiven Ergebnis kamen (Link zu Blog). Die Pflicht zur Einstellung von Arbeitslosen hatte, wenn auch entschärft die längste Geltungsdauer, sie blieb bis 1928 in Kraft.

Ein Beitrag von

Brigitte Pellar
Historikerin

Über den/die Autor:in

Brigitte Pellar

Brigitte Pellar ist Historikerin mit dem Schwerpunkt Geschichte der ArbeitnehmerInnen-Interessenvertretungen und war bis 2007 Leiterin des Instituts für Gewerkschafts- und AK-Geschichte in der AK Wien.

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