Generalstreik in Indien: Revolution mit Verzögerung

Generalstreik in Indien? Was es damit auf sich hat.
Foto (C) Dibyangshu SARKAR / AFP
Generalstreik! Eine Viertelmilliarde Menschen sollen in Indien auf der Straße sein. Der rechten Regierung droht der Umsturz. Doch kaum ein europäisches Land berichtet darüber. Das wäre ein Skandal. Wenn es denn wahr wäre. Ein Blick auf den „Bharat Bandh“ – den Generalstreik in Indien.
In Indien gibt es einen großen Streik. Landwirt*innen protestieren gegen eine Landwirtschaftsreform. Darüber wurde in europäischen Ländern wenig berichtet. Kein Wunder. Indien ist weit weg, die Agrarpolitik seit bald zwei Jahrzehnten Dauerthema und die aktuellen Landwirtschaftsreform kompliziert. Doch Ende November 2020 poppen vereinzelt Meldungen auf: Zwischen 200 und 250 Millionen Menschen sollen in Indien auf der Straße sein. Ein Generalstreik.

Zahlen und Informationen, die ungeprüft übernommen wurden. Ein wichtiger und elementarer Protest wurde so in deutschsprachigen Medien zum „größten Streik der Menschheitsgeschichte“ hochgejazzt. Den gab es in Indien tatsächlich. Aber bereits im Januar 2020. Erst mit dem Streik, der am Dienstag, 8. Dezember 2020, stattfand, wurde der bereits im November vermeldete Generalstreik wahr. Kurzum: Es ist kompliziert.

Aber von vorne. In Indien leben rund 1,4 Milliarden Menschen. Es ist damit hinter China das Land mit den meisten Einwohnern. Die größte Minderheit im Land sind Muslime. Sie machen 15 Prozent der Bevölkerung aus – das sind 210 Millionen Personen. „Um die Dimension zu verstehen, muss man sich klar machen, dass es in Indien mehr praktizierende Christen gibt als in England“, erklärt uns Indien-Experte und -Korrespondent Michael Braun Alexander im Gespräch. „Indien ist eine sehr heterogene Gesellschaft.“

Als Bargeld über Nacht abgeschafft wurde

Ist sich diese Gesellschaft bei einem Thema zumindest weitestgehend einig, kommt es zu gewaltigen Protesten. Beispielsweise im Jahr 2016. Damals hat Premier Narendra Modi von der indischen Volkspartei (BJP) große Teile des Bargelds abgeschafft. „Modi tritt am Vorabend des Verbots im Fernsehen auf und sagt, dass um Mitternacht sämtliche 500- und 1000-Rupien-Scheine wertlos werden“, beschreibt Braun Alexander die Situation und verdeutlicht: „Das ist so, als würde man in Europa innerhalb von vier Stunden alle Geldscheine unter 100 Euro für illegal erklären.“

Proteste in Indien
Foto (C) AFP PHOTO / Dibyangshu SARKAR

„Das ist so, als würde man in Europa innerhalb von vier Stunden alle Geldscheine unter 100 Euro für illegal erklären“: Bei Protesten im November 2016 in Kalkota wird eine Puppe von Premierminister Narendra Modi verbrannt – gespickt mit Geldscheinen. 

Die Folgen waren schwerwiegend, wie Braun Alexander berichtet: „Das war eine Katastrophe. Die Regierung hat die Wirtschaft für sechs Wochen lahmgelegt. Wir haben wieder mit Tauschhandel angefangen. Es stellten sich 1,5 Milliarden Menschen in Indien und den Anrainerstaaten die Frage: Wie bezahle ich jetzt meine Linsen? Es hat nicht jeder eine Bankkarte. Nur eine Minderheit der indischen Bevölkerung hatte damals ein funktionierendes Bankkonto – und ein Bruchteil hatte eine Kreditkarte. So drei, vier Prozent.“

Ein weiterer riesiger Streik folgte im Dezember 2019. Damals hatte die indische Regierung ein neues Einbürgerungsgesetz verabschiedet, das es Geflüchteten erleichtern sollte, die Staatsbürgerschaft zu bekommen. Es sei denn, sie seien Muslime. Damals hagelte es Kritik. Sogar die Vereinten Nationen schalteten sich ein und verurteilten das Gesetz.

Proteste im Jänner 2020 gegen neue, diskriminierende Einbürgerungsgesetze der Regierung Modi. 
Foto (C) Sukhomoy Sen / Zuma / picturedesk.com

Proteste im Jänner 2020 gegen neue, diskriminierende Einbürgerungsgesetze der Regierung Modi. 

Bereits im Januar 2020 folgt die nächste Arbeitsniederlegung. Die Bevölkerung stellte sich gegen die Pläne der Regierung, staatliche Unternehmen wie Air India oder Bharat Petroleum zu verkaufen. Zeitgleich gab es eine politische Debatte über einen „Labour Code“. Rechte der Arbeitnehmer*Innen hätten darin vereinheitlicht werden sollen. Für viele hätte das zum Verlust hart erkämpfter Zugeständnisse geführt.

100 bis 200 Millionen bei Protesten

Bei diesen Protesten handelte es sich tatsächlich um die größten Streiks der Menschheitsgeschichte. Zwar zweifeln Expert*innen wie Braun Alexander die offiziellen Teilnehmer*innenzahlen der Gewerkschaften stark an, halten aber 150 bis 200 Millionen Teilnehmer*innen für durchaus realistisch. Die Proteste waren selbst für indische Verhältnisse gewaltig.

Lust auf ein kurzes Quiz über Streiks in Österreich?

Quiz: Streiks in Österreich

Teste Sie Ihr Wissen über Streiks, die es bisher in Österreich gegeben hat. 

Bei der Modi-Regierung handle es sich um eine „sehr umfangreiche Koalition“, wie Braun Alexander angibt. „Die BJP ist rechts anzusiedeln, aber nicht querbeet extremistisch. Allerdings kooperiert sie ganz nach Opportunität mit Parteien und Gruppen, die noch weiter rechts positioniert sind.“ Einer der Schwerpunkte der Regierung sei es, sich wieder auf die Ursprünge Indiens zu besinnen. Das Konzept, das einige Politiker vorwärtstreiben, nennt sich „Hindutva“. „Hindus first, könnte man vereinfacht sagen“, erklärt Braun Alexander.

Sagt ein Politiker, das Land solle sich wieder dem Hinduismus zuwenden, ist das für Minderheiten natürlich bedrohlich oder wird so wahrgenommen.

Michael Braun Alexander, Indien-Experte und -Korrespondent

„Sagt ein Politiker, das Land solle sich wieder dem Hinduismus zuwenden, ist das für Minderheiten natürlich bedrohlich oder wird so wahrgenommen. Es gibt auch viele Angehörige anderer Religionen – Jains, Parsen, Sikhs, auch Muslime –, die die BJP wählen“, gibt Braun Alexander Einblicke in das indische Stimmungsbild.

Die Hälfte der Bevölkerung Indiens – damit etwa 700 Millionen Menschen – arbeitet in der Landwirtschaft. 
Foto (C) Dibyangshu SARKAR / AFP

Die Hälfte der Bevölkerung Indiens – damit etwa 700 Millionen Menschen – arbeitet in der Landwirtschaft. 

Hintergrund seien einige Erfolge der BJP. So zum Beispiel eine Basisversicherung für die Ärmsten des Landes. In Indien arbeitet über die Hälfte der Bevölkerung in der Landwirtschaft. Es ist ein Land mit 600.000 Dörfern. „Menschen, die medizinisch absolut unterversorgt sind“, weiß Braun Alexander. Doch dank Modi gäbe es „zum ersten Mal auch für schlecht situierte Menschen, oder für jene, die der falschen Kaste angehören, eine medizinische Basisversorgung.“

Solche Maßnahmen sind für das Land wichtig, weil sie das Leben der Ärmsten zum Besseren wenden. Das wirkt sich auch auf die Beliebtheit aus. Die BJP sei umstritten, so Braun Alexander: „Das ist keine Frage. Es gibt hunderte Millionen Inder*innen, die sind gar nicht begeistert von Modi und der BJP.“ Doch das ist in einer heterogenen Gesellschaft mit 1,4 Milliarden Menschen keine Besonderheit. „Die Zustimmungswerte für die Modi-Regierung sind hoch. Zwei Drittel glauben, dass er gute Arbeit macht.“

Liberalisierung und Entbürokratisierung, kaum Effekte

Die Modi-Regierung habe sich beim Amtsantritt ein umfangreiches wirtschaftliches Liberalisierungsprogramm auf die Fahnen geschrieben. Daraus hervor ging beispielsweise eine Vereinfachung des Umsatzsteuersystems. Indien hat 29 Bundesstaaten. Jeder einzelne hatte eine andere Umsatzsteuer-Regelung. Geschäfte über die Grenzen hinweg zu machen war ein bürokratischer Albtraum. Modi zerschlug diesen gordischen Knoten.

Es herrscht in Indien eine große wirtschaftliche Krise und es gibt Bereiche, die sich noch gar nicht erholt haben. Es gibt eine große Not.

Michael Braun Alexander, Indien-Experte und -Korrespondent

Doch brummt die Wirtschaft auch in Indien nicht. Covid-19 hat alles lahmgelegt. „Es herrscht in Indien eine große wirtschaftliche Krise und es gibt Bereiche, die sich noch gar nicht erholt haben. Es gibt eine große Not. Und die sozialen Absicherungssysteme wurden zwar ausgeweitet, sind aber noch lange nicht auf dem Stand wie sie in Deutschland, Österreich und der Schweiz sind.“ Hier schließt sich der Kreis zu den aktuellen Protesten. „Dass es massive Existenzängste gibt, auch bei 250 Millionen Menschen oder mehr, das ist überhaupt keine Frage. Wird der Unmut kundgetan? Ja, definitiv“, erklärt Braun Alexander.

In den deutschsprachigen Medien finden diese Unmutsbekundungen kaum statt. Und wenn doch, dann nur in Superlativen. Am 1. Dezember 2020 vermeldete die Zeitung „Junge Welt“, dass in Indien ein Generalstreik mit 250 Millionen Teilnehmer tobe. Zu diesem Zeitpunkt ist die Meldung schlicht falsch. Doch andere Medien – darunter auch große Namen wie die „Bild“ – übernahmen die Zahlen. Eine Viertelmilliarde Menschen sei gegen die Politik der Modi-Regierung auf der Straße. Eine Information, die ursprünglich von den indischen Gewerkschaften kam.

Das sei schlichtweg Wunschdenken. So schreibt Aurel Eschmann von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Delhi am Freitag, 5. Dezember 2020, in der Zeitung „Neues Deutschland“: „Es hat ein Massenstreik stattgefunden, doch sind jene 250 Millionen Beteiligten eine haltlose Übertreibung. Diese Zahl hatten die Dachgewerkschaften schon lange vor dem Streik in Umlauf gebracht.“

Dauerproteste der Landwirtschaft

Aktuell gibt es in Indien einen Protest der Bäuer*innen, der seit Wochen abertausende Menschen zu einem Dauerprotest auf die Straße treibt. Für dieses Land ist das ernst. Denn mehr als die Hälfte der Bevölkerung arbeitet im Agrarsektor. Kleinstbäuer*innen und Selbstversorger*innen machen einen Großteil der Landbevölkerung aus. Sie demonstrieren gegen eine umfangreiche Reform des Landwirtschaftssektors. Etwa 300.000 Menschen haben sich zusammengeschlossen. Sie haben Autobahnen und Zugangswege nach Delhi blockiert. „Das ist groß. Aber das Land brennt nicht“, setzt Braun Alexander die Proteste ins Verhältnis.

Generalstreik? Proteste gegen Reformen in der Landwirtschaft am 8. Dezember 2020
Foto (C) Narinder NANU / AFP

Proteste gegen Reformen in der Landwirtschaft am 8. Dezember 2020. 

Das Reformpaket soll die Art ändern, wie Bäuer*innen ihre Ware verkaufen können. Bisher gehen sie oder ihre Zwischenhändler*innen auf den Markt und verkaufen dort Obst und Gemüse an Interessent*innen. Darunter sind auch Großhändler*innen und Supermarktketten. Zukünftig sollen die Landwirt*innen ihre Produkte direkt an diese Betriebe verkaufen. Ohne Zwischenhändler. Ohne Markt. Klingt für alle bis auf die Zwischenhändler*innen lukrativ. Doch es gibt einen Haken. Auf dem Markt garantiert die indische Regierung einen Mindestpreis. Der würde so gekippt werden.

Modernisierung oder Preisverfall

Regierung und Ökonom*innen erhoffen sich so Investitionen und letztendlich eine Modernisierung der stark subventionierten indischen Landwirtschaft. Die Bäuer*innen befürchten einen Preisverfall. Das alles sind wichtige Bedenken, die ernst genommen werden müssen.

Wenn nämlich in Indien wirklich 250 Millionen Menschen streikten, ohne dass man lokal oder international einen sichtbaren Effekt verzeichnen würde, bestärkt dies am Ende Einstellungen, die den Blick nach Indien oder sogar Proteste im Allgemeinen für irrelevant halten.

Aurel Eschmann, Rosa-Luxemburg-Stiftung

Sie sind aber kein Grund zum hemmungslosen Übertreiben. Aurel Eschmann von der Rosa-Luxemburg-Stiftung führt aus, dass dieses Vorgehen dem Interesse der Protestierenden sogar schaden würde. So schreibt er weiter: „Wenn nämlich in Indien wirklich 250 Millionen Menschen streikten, ohne dass man lokal oder international einen sichtbaren Effekt verzeichnen würde, bestärkt dies am Ende Einstellungen, die den Blick nach Indien oder sogar Proteste im Allgemeinen für irrelevant halten.“

Doch die Zeit holte auch Eschmann ein. Denn dem Streik der Bäuer*innen haben sich – nachdem er an Schwung zu verlieren drohte – Parteien und Gewerkschaften angeschlossen. Am Dienstag, 8. Dezember 2020, ist genau das passiert, was bereits Ende November vermeldet wurde. Der Generalstreik, oder „Bharat Bandh“, wie er in Indien heißt, fand von 11 Uhr bis 15 Uhr statt. Wie viele Menschen beteiligt und auf der Straße waren, ist noch unklar.

Über den/die Autor:in

Christian Domke Seidel

Christian Domke Seidel hat als Tageszeitungsjournalist in Bayern und Hessen begonnen, besuchte dann die bayerische Presseakademie und wurde Redakteur. In dieser Position arbeitete er in Österreich lange Zeit für die Autorevue, bevor er als freier Journalist und Chef vom Dienst für eine ganze Reihe von Publikationen in Österreich und Deutschland tätig wurde.

Sie brauchen einen Perspektivenwechsel?

Dann melden Sie sich hier an und erhalten einmal wöchentlich aktuelle Beiträge zu Politik und Wirtschaft aus Sicht der Arbeitnehmer:innen.

Mit dem Absenden dieses Formulars stimme ich der Verarbeitung meiner eingegebenen personenbezogenen Daten gemäß den Datenschutzbestimmungen zu.