Energiekrise: Das System ist an seine Grenzen gestoßen

Wolfgang Urbantschitsch, Vorstand E-Control zur Energiekrise
Es wird vielleicht ein Jahr dauern, bis die Preissenkungen auf dem Strommarkt bei den Endkunden ankommen, so Wolfgang Urbantschitsch
Warum Energie-Gutscheine nur Symptome bekämpfen – und warum kein Weg an einer europäischen Lösung der Energiekrise vorbeiführt – damit die Lichter nicht ausgehen. Ein erhellendes Gespräch mit Wolfgang Urbantschitsch, Vorstand der E-Control.

Die Energiekrise beschäftigt und betrifft mittlerweile fast alle Menschen – spätestens dann, wenn die neue Gas- oder Stromrechnung ins Haus flattert. Wolfgang Urbantschitsch, Vorstand der E-Control und Energieexperte, erklärt im Interview mit der A&W warum die Gaspreise explodieren, wie es in punkto Versorgungssicherheit aussieht und welche Perspektiven es gibt.

Bundeskanzler Karl Nehammer bezeichnete die Entwicklung auf den Energiemärkten zuletzt als „Irrsinn“. Was ist die Ursache dieses Irrsinns?

Die Ursache ist der hohe Gaspreis.

Warum explodieren die Gaspreise?

Neben der Hauptursache, der künstlichen Verknappung des Gases durch den zentralen Exporteur Russland, führt der Krieg zu Verunsicherungen über Gaslieferungen, Gasspeicherstände und die Situation im kommenden Winter. Hinzu kommen von europäischer Seite Aussagen wie „Wir müssen gut durch den Winter kommen“ und „Wir müssen Gas kaufen“. Das alles hat dazu geführt, dass die Preise gestiegen sind. Das wirkt sich auch auf den Strompreis aus.

Nach dem Nuklearunfall in Fukushima hat eine Megawattstunde 20 Euro gekostet, vor zwei Jahren 50 bis 60 Euro und vorige Woche 985 Euro.

Der Strompreis richtet sich nach der Einheit, die gerade noch benötigt wird, um den gesamten Bedarf decken zu können, die berühmte Merit-Order-Regel. Um eine Megawattstunde Strom herstellen zu können, braucht man zwei bis zweieinhalb Megawattstunden Gas. Sie können hochrechnen, was es für den Strompreis bedeutet, wenn der Gaspreis anzieht. In der letzten Augustwoche ist noch etwas eingetreten: Der Gaspreis ist gestiegen, jedoch der Strompreis im Verhältnis dazu noch höher. Und es wird immer weniger Strom gehandelt. Das hat zu weiteren Turbulenzen geführt. Dazu sind die Trockenheit und niedrige Wasserführung der Flüsse gekommen.

Und mittelfristig, wie sieht es da aus?

Wir brauchen so viele Erzeugungskapazitäten, wie nur irgendwie möglich. Der Ausbau der Erneuerbaren ist wirklich die Lösung. Allerdings nicht für den kommenden Winter – denn so schnell geht es nicht.

Könnte der angesprochene Merit-Order-Algorithmus nicht so programmiert werden, dass er eben die Erneuerbaren voranstellt und sich nicht an Gaskraftwerken orientiert?

Dieser Algorithmus hat mit einer Besonderheit des Produkts Strom zu tun. Er bildet nicht nur den Handel mit dem Produkt Strom ab, sondern auch die Netze, die gebucht und verkauft werden müssen, um die eingekaufte Menge Strom zu den Verbraucher:innen zu bringen. Am Ende der Berechnung durch den Algorithmus kommt heraus, wie viele Geschäfte man abschließen kann, um möglichst alle mit Strom zu versorgen. Das ist der berühmte EUPHEMIA-Algorithmus. Mit einer Änderung
des Algorithmus allein ist es nicht getan. Es müssen auch die Kapazitätsberechnungen geändert werden. Das dauert seine Zeit. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass man in diesen Algorithmus eingreift, aber was kurzfristig machbar ist, sind andere Möglichkeiten, die jetzt skizziert werden.

Das heißt konkret?

Man muss jetzt schauen – was natürlich bitter ist –, dass die fossilen Energieträger, wie etwa Kraftwerke, die Strom etwa aus Gas erzeugen, günstiger werden. Denn dadurch geht der Gesamtpreis hinunter. So wie die Spanier und Portugiesen es gemacht haben. Nur braucht es Begleitmaßnahmen, damit der günstigere Strom nicht in Nachbarregionen verkauft wird und nicht mehr Gas verbraucht wird. Andere Möglichkeiten, die diskutiert werden, laufen darauf hinaus, dass man im Prinzip die Gaskraftwerke nicht in der Preisbestimmung berücksichtigt. Eine dritte Möglichkeit kann darin bestehen, dass man die Nachfrage reduziert: Wenn ich weniger Strom benötige, brauche ich weniger Kraftwerke und komme mit dem Angebot jener Kraftwerke aus, die etwas günstiger sind.

Das Strommarktdesign ist nun in die Brüche gegangen. Müsste jetzt nicht das System grundsätzlich verändert werden?

Bisher hat es gut funktioniert. Wir sehen aber, dass das System offensichtlich in Zeiten der massiven Marktverwerfungen durch Marktmanipulationen an seine Grenzen
stößt. Jetzt muss man kurzfristig einschreiten und auf europäischer Ebene das Strommarktdesign so anpassen, dass man erst einmal gut durch die Krise kommt. Darüber
hinaus muss man überlegen, wo nachjustiert werden kann. Grundsätzlich bleiben die Ziele gleich: Versorgungssicherheit zu vernünftigen Preisen und das Ganze nachhaltig. Diese Krisensituation ist zugleich ein Booster dafür, dass wir die Erneuerbaren ausbauen. In dem Augenblick, wo wir mehr Erneuerbare haben, gehen die Preise automatisch hinunter.

Wird es darum beim EU-Energieministerrat am 9. September gehen …

Richtig. Die tschechische Ratspräsidentschaft und auch die Europäische Kommission haben das angekündigt.

Hätte man nicht schon früher auf eine europäische Lösung drängen sollen?

Das ist eine berechtigte Frage, weil diese Lösungen immer auch teils unabsehbare Nachteile haben. Letztlich kann man es nur europäisch lösen.

Wie kann die Republik Österreich eingreifen, um den Endkund:innen und Privatunternehmen günstigen Strom zur Verfügung zu stellen?

Was die Bundesregierung und Landesregierungen machen können, ist, die Menschen
direkt zu unterstützen.

Mit Gutscheinen?

Unter anderem. Das ist allerdings reine Symptombekämpfung. Grundsätzlich hat jedoch die Verbundenheit mit den anderen Märkten ja in den vergangenen Jahren sehr
gut funktioniert. Die Liberalisierung der Energiemärkte in der EU brachte günstige Preise für Konsument:innen und auch für die Wirtschaft und stärkte die Versorgungssicherheit.

Der Strompreis geht durch die Decke und mit ihm die Gewinnmargen. Viele Produzent:innen machen sensationelle Übergewinne.

Es steht vollkommen außer Zweifel, dass das, was manche Unternehmen aufgrund ihrer günstigen Produktionsstruktur erwirtschaften, tatsächlich völlig jenseitig von
den Kosten ist: Der Verkaufspreis für Strom liegt zuweilen um 600 oder 800 Euro pro MWh, die Erzeugungskosten sind ein Bruchteil davon. Und deswegen kann ich verstehen, dass die Politik überlegt, hier mit einer Steuer einzugreifen.

Wie müsste das kontrolliert werden, und wer ist zuständig?

Die Frage nach der Übergewinnsteuer ist eine politische. Jedenfalls haben diese hohen Preise ein Ausmaß angenommen, wo man schon sagen kann, mit diesen hohen
Preisen als Kalkulationsgrundlage hat keiner gerechnet, der jemals in ein Kraftwerk investiert hat.

Was kann denn die E-Control konkret für Konsument:innen machen, um die Auswirkungen der Teuerung abzufedern?

Wir regulieren die Strom- und die Gasnetze. Das heißt, unsere Aufgabe besteht darin, bei den Netzbetreibern die Kosten zu prüfen und das Regulierungsmodell vorzugeben, um für Investitionen und einen effizienten Netzbetrieb zu sorgen. Im Bereich der Marktaufsicht geht es um faire Wettbewerbsbedingungen. Und wir betreiben auch eine Beratungsstelle für alle Energiefragen. Es ist wichtig, dass sich jeder mit dem Thema beschäftigt und die notwendigen Informationen erhält, um Energie effizient einzusetzen.

Wir haben über den hohen Gas- und Strompreis gesprochen. Gleichzeitig sehen wir hohe Kohlepreise, Holz- und Pelletspreise.

Die Energieträger stehen in einem Verhältnis zueinander. Wenn jetzt die Preise für Gas und Strom steigen, dann versuchen auch Pellets-Produzenten und andere, höhere Preise unterzubringen. Oder Betreiber:innen von Photovoltaikanlagen: Die haben irgendwann 10.000 Euro für die PV-Anlage bezahlt. Sie speisen die Überschüsse ins öffentliche Netz. Vor einem Jahr habe sie vier Cent pro kWh bekommen, heute sind es ungefähr 30. Natürlich nehmen sie das Geld.

Es wird viel über staatliche Kreditrahmen von Energieunternehmen diskutiert. In Deutschland wurde so etwa der Energieanbieter Uniper vom Staat gerettet. Warum gibt es das in Österreich noch nicht?

Weil die österreichischen Unternehmen anders aufgestellt sind und bis vor Kurzem keinen Bedarf angemeldet haben. Die Unternehmen haben kürzlich nochmals bestätigt, dass sie keine Liquiditätsprobleme haben. Sollten jedoch Informationen darüber vorliegen, dass dem nicht so ist, macht es Sinn, einen solchen staatlichen Rahmen nochmals näher zu prüfen. Die OMV verfügt über einen langfristigen russischen Gasbezugsvertrag, aber gleichzeitig auch über Anteile an Gasfeldern in Norwegen und anderen Quellen. Die OMV sagt, sie kann die russischen Mengen bei einem Ausfall kompensieren und nach Österreich bringen.

Wie können diese Energiemengen auch physikalisch nach Österreich gebracht werden?

Für die Mengen, die die OMV hat, ist es möglich. Das ist ein ganz wesentlicher Baustein für den kommenden Winter plus die strategische Reserve. Der Staat hat ja vier
Milliarden Euro in die Hand genommen, um 20 Prozent des Gasbedarfs zu kaufen. Das wird gerade eingespeichert.

Heißt das, wir brauchen die Notfallpläne nicht?

Im besten Fall brauchen wir sie nicht. Wir stehen heute viel besser da als noch vor einigen Wochen. Die Gasspeicher sind zu mehr als zwei Dritteln voll. Und auch größere Industrieunternehmen speichern selbst Gas ein, auf das sie zugreifen können.

Die Haushalte sind also versorgt?

Die Haushalte sind versorgt.

Aber das ist nicht gesichert. Könnte die OMV das Gas verkaufen, wenn der Preis passt?

Würde die OMV die Gasmengen, die in Österreich gelagert sind, um einen höheren Preis ins Ausland verkaufen, würde sie ihren vertraglichen Verpflichtungen gegenüber ihren Kund:innen nicht nachkommen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das passiert. Ein Händler aber, der Gas in österreichischen Speichern lagert, könnte sich das überlegen.

Wie hoch ist der Anteil dieser Händler in Österreich?

Das ist schwer zu sagen. Gesichert kann man es erst zu Winterbeginn sagen. Das ist leider die Frage, die man nie abschließend beantworten kann: Wem gehört das Gas, oder für wen ist es bestimmt? Fix ist aber, dass die staatliche Reserve von 20 TWh ausschließlich für Österreich bestimmt ist.

Anfang August haben Sie gesagt, dass Konsument:innen im Schnitt 300 Euro jährlich für Strom mehr bezahlen werden. Hat sich an der Zahl etwas geändert?

Ich hoffe, dass möglichst wenige Nachzahlungen kommen. Und ich hoffe, dass die Vorauszahlungen und Abschlagszahlungen angepasst werden. Ich höre, das machen
nicht alle Unternehmen. Um hohe Nachzahlungen zu vermeiden, sollten alle, die Preiserhöhungen erwarten und den wirtschaftlichen Spielraum haben, monatlich etwas mehr zahlen, damit sie sich die große Nachzahlung ersparen.

Angesichts der schon steigenden Belastungen werden Sie 2023 Anpassungen bei den Netztarifen aussetzen?

Nein, wir müssen die Anpassungen vornehmen, wie üblich mit 1. Jänner.

In welcher Größenordnung bewegen Sie sich da?

Es wird eine Steigerung geben, wir sind noch am Prüfen.

Wenn Sie eine Prognose machen: Wo stehen die Energiepreise in Österreich Ende des Jahres?

Ich denke, dass das, was jetzt zum Beispiel in Wien oder Niederösterreich bezahlt wird, ungefähr der Preis sein wird, der sich in den nächsten Monaten in Österreich auf dem Strommarkt einpendeln wird. Beim Großhandelsmarkt ist jetzt die Unsicherheit auf dem Gasmarkt eingepreist. Wenn diese Unsicherheit entfällt, weil genug Gas da ist, könnten die Preise sogar etwas sinken. Aber das ist jetzt der Blick in eine Glaskugel.

Wie lang kann es dann dauern, bis Preissenkungen auf dem Strommarkt bei denEndkund:innen ankommen?

Vielleicht ein Jahr. Es sind immer Mischpreise, und man kann daher nicht sagen, ob der Großhandelspreis von heute der Endkund:innenpreis von morgen ist. Das hängt
von sehr vielen Einflussgrößen ab, etwa wie das Erzeugungsportfolio eines Energieunternehmens ist, wie lange das Unternehmen im Voraus beschafft oder wie groß die Vorräte sind.

Es gibt für private Haushalte das Vehikel der Grundversorgung. Das ist das unterste Energie-Sicherheitsnetz. Macht es für Konsument:innen Sinn, sich darauf zu berufen?

Ja, es ist nur im Augenblick ein Instrument, das noch immer sehr wenig genutzt wird. Grundsätzlich bedeutet die Grundversorgung, dass Kund:innen immer einen Vertrag bekommen. Sie haben das Recht, sich an jeden Lieferanten zu wenden, etwa in Fällen von schlechter Bonität. Es ist ein unbedingtes Recht. Der Lieferant kann eine Anzahlung oder Sicherheitsleistung für einen Monat verlangen.

Und Abschaltungen?

Es gab während der Pandemie einen freiwilligen Abschaltverzicht der Branche, der immer wieder verlängert wurde. Die E-Control macht ein laufendes Monitoring, und es zeigt sich, dass die Abschaltungen weit unter dem Dreijahresmittel vor der Pandemie sind. Die Unternehmen halten sich bei Abschaltungen sehr zurück.

Danke für das Gespräch!

Zur Person
Wolfgang Urbantschitsch, geb. 1969 in Graz. Der studierte Jurist begann seine Karriere an der Universität Graz und als Mitarbeiter am Verfassungsgerichtshof. 1999 bis 2001 Rechtabteilung der Telekom-Control GmbH, ab 2001 Leiter der Rechtsabteilung bei der E-Control und seit 2016 deren Vorstand.

Interview: Eva Winterer, Alexander Foggensteinger

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