Historie: Ein Anspruch, nicht mehr zu bestreiten

Foto (C) Österreichische Post
Sonderbriefmarke zu „75 Jahre AK“. Diese Sonderbriefmarke stammt aus dem Jahr 1995. Damals wurde die Existenz der AK erstmals nach 1945 infrage gestellt, doch das Ergebnis einer Mitgliederbefragung zeigte eindeutig: Die ArbeitnehmerInnen waren nicht bereit, sich ihre gesetzliche Interessenvertretung nehmen zu lassen.
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Die Erläuterungen zum ersten AK-Gesetz von 1920 erklärten die Bedeutung der Arbeiterkammern für den demokratischen Aufbruch.
Das Arbeiterkammergesetz (AKG) vom Februar 1920 war – neben dem Betriebsrätegesetz und dem Kollektivvertragsgesetz – ein Teil des revolutionären „Arbeitsrechtspakets“ der Gründungsjahre der österreichischen Republik. Die Errichtung von Arbeiterkammern war während der vorherigen Jahrzehnte immer wieder zur Diskussion gestanden, zuletzt noch während des Ersten Weltkriegs. Jedoch hatten die meisten dieser Vorschläge einen großen Schönheitsfehler: Die gesetzliche Interessenvertretung der ArbeitnehmerInnen sollte der Vertretung der UnternehmerInnen nicht gleichwertig und/oder nicht wirklich unabhängig sein. Die Erläuterungen zur Regierungsvorlage des AKG 1920 verwiesen darauf: Noch während der Kriegszeit konnte, unter dem Einflusse der Pläne der deutschen Reichsregierung, auch in Österreich ernstlich die Frage erörtert werden, ob es nicht zweckmäßig wäre, in sogenannten Arbeiterkammern einen aus Unternehmern und Arbeitern gleichmäßig zusammengesetzten Vertretungskörper zu schaffen.

Dem Demokratieverständnis der Republik entsprachen solche „ständischen“ Konzepte nicht mehr, wie den Erläuterungen weiter zu entnehmen ist: Inzwischen hat die Auffassung über das Mitbestimmungsrecht der Arbeiterschaft im Wirtschaftsleben eine so tiefgehende Änderung erfahren, dass der Vorschlag … wohl endgültig der Vergangenheit angehört und dass … auch der Anspruch der Arbeiter auf geeignete, durch Gesetz organisierte Körperschaften … nicht mehr bestritten werden kann.

Die Konsequenz aus dieser Erkenntnis war die Errichtung von Arbeiterkammern als Teil des Gleichberechtigungsprogramms für alle BürgerInnen, auch für jene mit weniger (Finanz-)Macht und Einfluss. Sie wurden als Voraussetzung für ein sozialpartnerschaftliches Politikmodell betrachtet, das in weiterer Folge auch die Landwirtschaft einbeziehen sollte:

Es handelt sich darum, für die … Arbeiter und Angestellten Kammern zu schaffen, die den entsprechenden Kammern der gewerblichen Unternehmer nicht nur völlig gleichwertig, sondern auch in ihrem Wirkungskreise und in ihrer Organisation derart ähnlich gestaltet sind, dass ein Zusammenwirken der beiderseitigen Körperschaften bei Lösung wichtiger Aufgaben der wirtschaftlichen Verwaltung ohne Schwierigkeiten möglich ist. Werden späterhin … auch für die Unternehmer und Arbeiter der Landwirtschaft entsprechende Einrichtungen geschaffen, so sind alle Voraussetzungen gewonnen, um neben den auf breiter demokratischer Grundlage beruhenden gesetzgebenden Körpern der erwerbstätigen Bevölkerung eine besondere … Teilnahme an der wirtschaftlichen Verwaltung zu sichern. Unter diesen Umständen ist die Errichtung von Arbeiterkammern nicht ausschließlich unter dem Gesichtspunkte ihres nächstliegenden Zweckes, sondern ebenso sehr im Hinblicke auf die Eingliederung der neuen Organisation in den beabsichtigten Neubau der wirtschaftlichen Verwaltung zu würdigen.

Das AK-Gesetz erhielt die Zustimmung aller Parteien, aber das sozialpartnerschaftliche Politikmodell blieb auf dem Papier. Ab Herbst 1920 bestimmten zunehmend jene Macht­eliten die Politik, die so etwas wie eine ­„autoritäre Demokratie“ anstrebten und damit die Demokratie auf sozialstaatlicher Grundlage infrage stellten.

Von
Brigitte Pellar
Freie JournalistInnen

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 7/18.

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Über den/die Autor:in

Brigitte Pellar

Brigitte Pellar ist Historikerin mit dem Schwerpunkt Geschichte der ArbeitnehmerInnen-Interessenvertretungen und war bis 2007 Leiterin des Instituts für Gewerkschafts- und AK-Geschichte in der AK Wien.

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