Digital Natives on the Road

Menschen organisieren sich inzwischen in vielen vielerlei sozialen Bewegungen. Sie sind nicht nur Fransen der Demokratie, sondern wichtiger Teil des großen Ganzen.
Sind neue soziale Bewegungen wie „Fridays for Future“ bloß Modeerscheinungen oder Signale dafür, dass auch die Demokratie modernisiert werden muss?
Fast 1,8 Millionen Menschen sollen im März 2019 beim ersten weltweit organisierten Klimastreik an den Demonstrationen von „Fridays for Future“ teilgenommen haben – keine Kleinigkeit, selbst in Zeiten von Facebook, Twitter & Co. Was 2018 mit der besorgt und gleichzeitig trotzig blickenden Greta Thunberg vor dem schwedischen Reichstag mit dem Schild „Schulstreiks fürs Klima“ begonnen hat, ist heute eine riesige globale Bewegung, die auch in kleinen Städten und Gemeinden aktiv ist. Rasch haben sich Erwachsene angeschlossen und spezielle Allianzen gebildet wie Parents, Teachers, Farmers oder „Workers for Future“. Die Stellungnahme der „Scientists for Future“ haben allein im deutschsprachigen Raum rund 27.000 WissenschafterInnen unterschrieben.

Nun sind Demonstrationen an sich ja nichts Neues, aber manche Ausprägungen sind doch bemerkenswert. Während bei den „Fridays for Future“ vor allem die unglaubliche Popularität Greta Thunbergs und das weltweit rasche Anwachsen ungewöhnlich erscheinen, so überraschen bei anderen Bewegungen die Kontinuität und das Durchhaltevermögen, etwa bei den wöchentlichen „Donnerstagsdemos“ gegen Schwarz-Blau von 2000 bis 2002 und zuletzt gegen Türkis-Blau.

28 Prozent NichtwählerInnen

Weltweit brachte die Digitalisierung zahlreiche Vorteile für jede Art von Protestaktionen und sozialen Bewegungen. Das kann aber keineswegs die einzige Erklärung dafür sein, dass auf der ganzen Welt Unzufriedene aller Altersgruppen und sozialen Schichten auf die Straße gehen. Hier drängt sich der Zusammenhang mit dem globalen Phänomen der sinkenden Wahlbeteiligung auf. Bei der Nationalratswahl 2019 gingen beispielsweise in Wien 28 Prozent der Wahlberechtigten gar nicht zur Urne. Naturgemäß ist der Anteil der unzufriedenen NichtwählerInnen unter den sozial schlechter Gestellten höher, das bedeutet, dass der Anteil Gutsituierter unter den WählerInnen steigt. Diese votieren für jene KandidatInnen, die auch ihre Interessen vertreten. Dadurch rücken die Interessen der sozial schlechter gestellten und nicht finanzkräftigen Menschen noch mehr in den Hintergrund – ein Teufelskreis.

Weltweit brachte die Digitalisierung zahlreiche Vorteile für jede Art von Protestaktionen und sozialen Bewegungen.

Für den kanadischen Politikwissenschafter und Philosophen Charles Taylor ist die Demokratie in der Krise. Immer mehr Menschen haben das Gefühl, dass ihre Anliegen ohnehin nicht gehört werden. Viele, die den Gang zur Wahlurne nicht von vornherein verweigern, werden dann zu ProtestwählerInnen, die extrem rechte Politiker oder Spaßparteien wählen, einfach weil sie, wenn sie schon nichts ändern können, damit den Verantwortlichen wenigstens eins auswischen wollen. Beim Thema Klimawandel bieten „Fridays for Future“ immerhin den Menschen die Möglichkeit, ihren Ängsten ein Gemeinschaftsgefühl entgegenzusetzen.

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Greta als Identifikationsfigur

Seit dem Frühjahr 2019 beschäftigt sich die Forschungswerkstatt Protest – ein Kollektiv von Lehrenden und Studierenden am Institut für Internationale Entwicklung der Uni Wien – mit den „Fridays for Future“. „Die ersten Ergebnisse“, so berichtet die Protest- und Bewegungsforscherin Antje Daniel, „bestätigen nur zum Teil das von den Medien vermittelte Bild der Bewegung.“ Offensichtlich handelt es sich bei „Fridays for Future“ um eine sehr junge Bewegung, anfangs waren viele TeilnehmerInnen zum ersten Mal auf einer Demo. Mittlerweile haben sich immer mehr Erwachsene angeschlossen, etwa junge Familien, die Angst um die Zukunft ihrer Kinder haben. Mit über 56 Prozent war der Anteil weiblicher Demonstrationsteilnehmerinnen vor allem anfangs ungewöhnlich hoch, erzählt Antje Daniel. „Als Greta Thunberg Ende Mai auf der Klimademo Wien war, lag der Frauenanteil sogar bei über 60 Prozent.“ Die ungeheure Popularität der 16-jährigen Galionsfigur entspreche allerdings nicht ganz der Realität innerhalb der Bewegung. Unter den AktivistInnen stehe Greta wesentlich weniger im Rampenlicht, als der Medien-Hype vermuten ließe, so die Forscherin.

Wie weit werden PolitikerInnen und andere EntscheidungsträgerInnen durch Protestbewegungen beeinflusst? Die „Fridays for Future“ jedenfalls vertreten die Meinung, dass die Politik die Pflicht hat, Rechenschaft abzulegen.
Wie weit werden PolitikerInnen und andere EntscheidungsträgerInnen durch Protestbewegungen beeinflusst? Die „Fridays for Future“ jedenfalls vertreten die Meinung, dass die Politik die Pflicht hat, Rechenschaft abzulegen. Vor der Nationalratswahl präsentierten die KandidatInnen der Parteien im TV ihre Klimakonzepte. Gemeinsam mit den WissenschafterInnen von „Scientists for Future“ wurde diskutiert, wie das Ziel von 1,5 Grad Erwärmung eingehalten werden kann. Auch dass in den vergangenen Monaten immer mehr Gemeinden oder auch ganze Bundesländer wie etwa Vorarlberg den Klimanotstand ausgerufen haben, dürfte zum großen Teil den „Fridays for Future“ zu verdanken sein. Wobei die Bewegung immer wieder sehr genau darauf achtet, sich parteipolitisch nicht zu positionieren und sich von keiner Partei vereinnahmen zu lassen.

Emotionen als Politikfaktor

Das Klima ist ein sehr umfassendes Thema und betrifft alle Menschen. Auch das sei, meint Lukas Franta, Stadtforscher am Raumplanungsinstitut der TU Wien, eine Erklärung für die rasche Verbreitung der Bewegung: „Als junge, globale Bewegung ist sie aber auch ein deutliches Zeichen dafür, dass die Jugend nicht so desinteressiert ist, wie vielfach behauptet, und Politisierung unabhängig von Parteien möglich ist.“

Vor allem nach ihrem „How dare you?“-Ausspruch vor dem UN-Klimagipfel sorgte Greta Thunberg wieder für Kontroversen. Dabei, so Franta, sei Emotionalisierung auch abseits solcher Bewegungen derzeit zentraler Bestandteil in der Politik. Von einer echten Krise der liberalen Demokratie möchte der Wissenschafter, der sich auch mit den „Donnerstagsdemos“ befasst hat, zwar nicht sprechen, aber die Ansprüche an die Demokratie hätten sich verändert. „Es müssen neue Wege gefunden werden, um Grassroots-Themen miteinzubeziehen. Protest sollte als legitime Form der Beteiligung gesehen werden.“

Viele moderne Protestbewegungen, ob global oder regional, wollen vor allem eines: ihre Ideen durchsetzen.

Viele moderne Protestbewegungen, ob global oder regional, wollen vor allem eines: ihre Ideen durchsetzen. Sie wollen nicht die Gesellschaft verändern, Kritik am Kapitalismus oder der Wachstumsgesellschaft an sich wird nur selten laut. Andere wiederum haben sehr wohl den Anspruch, neue Formen der BürgerInnenbeteiligung zu etablieren. Dazu zählt etwa „Extinction Rebellion“ (Rebellion gegen das Aussterben). Die 2018 gegründete globale Umweltschutzbewegung hat schon durch radikaleres Vorgehen, wie beispielsweise das Färben des Zürcher Flusses Limmat in Giftgrün, oder durch Straßenblockaden Aufsehen erregt. Mit gewaltfreien Aktionen zivilen Ungehorsams will Extinction Rebellion (XR) die sofortige Änderung der Klimapolitik erreichen und fordert dafür auch die Etablierung neuer partizipatorischer Demokratieelemente wie etwa Bürgerversammlungen.

Veränderungsbedarf

Manche BürgerInnenbewegungen haben tatsächlich den politischen Alltag verändert. So ist etwa 2014 in Spanien aus der Bewegung 15-M die linkspopulistische Partei Podemos (Wir können) entstanden. Bratislavas neuer Bürgermeister, der Architekt Matúš Vallo, war vor seiner Wahl Aktivist und setzt auch jetzt noch auf verstärkte BürgerInnenbeteiligung.

Manche BürgerInnenbewegungen haben tatsächlich den politischen Alltag verändert.

In vielen Städten, von Irland über Italien bis nach Spanien, haben sich in den vergangenen Jahren BürgerInnenbewegungen bzw. -plattformen gebildet, aus denen wiederum neue Formen der Beteiligung hervorgegangen sind. So verfügt beispielsweise in Madrid die BürgerInnenversammlung Observatorio de la Ciudad aktuell über ein Budget von 100 Millionen Euro.

Aber nicht nur in Europa gibt es diese Bestrebungen, 2015 wurde der junge Pedro Kumamoto als erstes Mitglied ins mexikanische Parlament gewählt, das keine Anbindung an eine Partei hatte. Er war Teil der Gruppe „Wikipolitica“, die aus der mexikanischen Version von „Occupy Wall Street“ entstanden war. Mittlerweile hat Kumamoto, der für mehr Unabhängige in der Politik kämpfte, eine Partei gegründet.

Von
Astrid Fadler
Freie Journalistin

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 10/19.

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