„Lech Walesa“: So sagten die Nachrichtensprecher:innen in den 1980er Jahren. Nach der Wende und dem Zerfall des kommunistischen Systems, wurde sein Name auch hierorts anders ausgesprochen – nun war ein „n“ zu hören, wo im Deutschen keines zu lesen ist und immer öfter war auch die korrekte polnische Schreibweise zu lesen: Lech Wałęsa. Wałęsa war ein wiederkehrender TV-Gast in unserem Wohnzimmer. Der Mann mit dem charakteristischen Schnauzbart war einmal als Sprecher der Gewerkschaftsbewegung Solidarność zu sehen, dann berichteten die Medien wieder wurde über seine Verhaftung und über seinen Hausarrest.
Er verkörperte damals die Stimme der Arbeiter und Arbeiterinnen ebenso wie den Kontrapunkt zum Regime. Schule in den 1980er Jahren: Da war noch wenig Raum, Aktuelles in den Unterricht hineinzuholen. Das Internet war noch weit aus unser aller Alltagsleben entfernt und so fügten sich die Schnipsel aus den „Zeit im Bild“-Sendungen des ORF nie wirklich zu einem Ganzen zusammen.
Eintauchen in eine andere Zeit
Das sollte sich diesen Sommer ändern. Eine Reise durch mehrere polnische Städte führte mich auch nach Danzig – und da stand ich nun mit meiner Tochter, heute Oberstufenschülerin wie ich damals in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, vor dem Tor zur ehemaligen Lenin-Werft, und es fühlte sich eben nicht nur wie ein Ortswechsel an, wie ein klassisches Sight Seeing, sondern auch wie das Eintauchen in eine andere Zeit.
Im Europäischen Zentrum der Solidarität wird die Geschichte der Gewerkschaftsbewegung Solidarność, die 1980 aus einer Streikbewegung von Arbeiter:innen angesichts der Erhöhung der Fleischpreise entstand, eindrücklich und modern erzählt. In der Lenin-Werft entzündete sich der Zorn der Arbeiter:innen angesichts der Entlassung der Kranführerin Anna Walentynowicz, was im August 1980 zum Streik führte, in dem sich der gelernte Elektriker und Werft-Arbeiter Wałęsa begann, als Wortführer und Verhandler zu etablieren. Er leitete das betriebliche Streikkomitee.
Per Audio Guide wird der:die Besucher:in durch die Ausstellung geleitet, die auch jenen, die zuvor noch nie von Solidarność gehört haben, vermittelt, worin die Kraft dieser Bewegung lag: Sie streikte, sie verhandelte, sie kämpfte mit Worten. Ein wichtiges Dokument, dem in der Schau auch entsprechend Platz eingeräumt wird, sind die sogenannten „21 Forderungen“, die sowohl politische als auch soziale Anliegen formulieren. Sie mündeten schließlich 1980 in das von der Regierung unterschriebene „Danziger Abkommen“. Ohne Blutvergießen ging dieser Kampf und mehr Mitbestimmung die Jahre dennoch nicht ab – doch die Gewalt ging vom Regime aus. Ein Tiefpunkt war dabei die Ermordung des Priesters und Solidarność-Unterstützers Jerzy Aleksander Popiełuszko durch den polnischen Staatssicherheitsdienst.
Gelebte Solidarität
Besucher:innen können sich in einem Wohnzimmer, eingerichtet im Stil der damaligen Zeit, umsehen. Sie können aber auch in eine nachgebaute Arrestzelle hineinsehen und in einem Verhörzimmer Platz nehmen. Fotografien zeigen leere Geschäfte und Menschenschlangen vor Lebensmittelläden. Hier wird das diktatorische Antlitz des Regimes klar und deutlich vorgeführt. Hier wird aber auch gezeigt, welche Macht Menschen, die sich zusammentun, auf die Herrschenden ausüben können – und eben Solidarität leben. Unterstützt wurden die streikenden Arbeiter und Arbeiterinnen der Werft schon bald vor allem von Intellektuellen, von Schriftsteller:innen, Journalist:innen, Künstler:innen. Und es kam Unterstützung von der katholischen Kirche.
Die Besuche des aus Polen stammenden Papstes Johannes Paul II. trugen ebenso dazu bei, Druck auf das Regime auszuüben, wie Auszeichnungen für polnische Kulturschaffende. 1981 gewann der polnische Regisseur Andrzej Wajda in Cannes die Goldene Palme für seinen Film „Der Mann aus Eisen“. Er erzählt darin eine fiktive Geschichte, in der ein Radioredakteur Material gegen ein Solidarność-Mitglied sammeln soll. Bereits 1980 erhielt der polnische Schriftsteller Czesław Miłosz den Literaturnobelpreis, seine zuvor in Polen verbotenen Bücher durften ab da auch in seinem Heimatland erscheinen.
Der erste Dominostein
Es sind Zusammenhänge wie diese, die das Museum eindrucksvoll vorführt. In Polen ging der Druck gegen das Regime von der Arbeiter:innenbewegung aus, durch vielfältige Allianzen und Bündnisse in der Zivilgesellschaft konnte die Schlagzahl allerdings erfolgreich erhöht werden – bis das Regime gnadenlos Oppositionelle verhaften ließ. 1981 verkündete Ministerpräsident Wojciech Jaruzelski das Kriegsrecht. Die Museumsbesucher:innen sind in diesem Abschnitt der Ausstellung nicht nur mit der TV-Ansprache Jaruzelskis konfrontiert, sie können auch eines der Fahrzeuge der Sicherheitskräfte besteigen, die Solidarność-Funktionäre abholten. Erleben, Information und jede Menge Zeitdokumente wie Fotos und auch Videos gehen hier Hand in Hand.
Was vor allem Jugendlichen, für die das Gefühl „Ostblock“ versus „Westen“ etwas völlig Fremdes ist, hier klar wird: Der einengende Charakter des Regimes. Hier wird aber auch erlebbar gemacht, wie Solidarität funktioniert und wie stark Arbeitnehmer:innenrechte mit Demokratie verbunden und verwoben sind. Und genau für diese eindringliche Lektion lohnt sich die Reise nach Danzig, wo nicht nur mit dem Überfall der Nationalsozialisten auf Polen der Zweite Weltkrieg begann, sondern wo eben auch der wichtige erste Dominostein fiel, der schließlich zum Fall des gesamten Eisernen Vorhangs führte.
Politische Einvernahme
Wie kurz das Gedächtnis von Wähler:innen ist und wie stark Pendelbewegungen in der Politik sind, zeigt sich übrigens in den jüngsten Turbulenzen um das 2014 eröffnete und auch mit EU-Mitteln errichtete Museum und Bildungszentrum, in dem Wałęsa, von 1990 bis 1995 Präsident Polens, bis heute ein Büro hat. 2019 forderte der PiS-Minister Piotr Gliński inhaltliche Änderungen der Schau sowie die Besetzung des Postens des stellvertretenden Direktors durch das Ministerium für Kultur und Nationalerbe – andernfalls würde die jährliche Subvention von sieben auf vier Millionen Zlotys gekürzt (eine Million Zlotys entspricht rund 215.000 Euro). Das Management lehnte das jedoch ab und bringt die nun fehlenden drei Millionen Zlotys durch Spenden auf. Die Partei „Prawo i Sprawiedliwość“ (Recht und Gerechtigkeit, abgekürzt PiS) ist nationalistisch, rechtspopulistisch und klerikal-konservativ.