Völlig abstrus: Die neue ÖVP-Linie gegen Arbeitslose

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Illustration (C) Adobe Stock
Mitten in der Rekordarbeitslosigkeit und dem größten Beschäftigungsrückgang seit 70 Jahren erfinden zwei ÖVP-Nationalratsabgeordnete ein neues Feindbild: Langzeitarbeitslose. Eine Einordnung von Michael Mazohl.
Carmen Christina Jeitler-Cincelli und Tanja Graf sind empört. Sie sind so empört, sie schreiben sogar zwei Facebook-Postings, in denen sie sich gegenseitig befeuern. Es geht um Arbeitslose. Es geht allerdings nicht um den Rekordanstieg der Arbeitslosigkeit, sondern um die neue Einmalzahlung von 450 Euro, die Arbeitslose erhalten sollen.

„Völlig abstrus“, sagt Carmen Christina, „Wie kann sich Arbeit so noch lohnen?“, fragt Tanja Graf. Sie schreiben weiters von einer Hängematte, in der sich Langzeitarbeitslose ausruhen, oder von einer Wirtschaft, die händeringend Mitarbeiter*innen sucht.

Scrennshots

Carmen Christina Jeitler-Cincelli und Tanja Graf sind nicht zwei x-beliebige Wutbürgerinnen, sie sind beide ÖVP-Nationalratsabgeordnete – und nicht nur das: Die Unternehmens- und Kommunikationsberaterin Jeitler-Cincelli ist zudem geschäftsführende Gesellschafterin der Jeitler & Partner GmbH, Aufsichtsrätin der Badener Bäderbetriebsges.m.bH. und der Baden Event GmbH, Stadträtin in Baden bei Wien und stellvertretenden Generalsekretärin des Wirtschaftsbunds.

Unternehmerin Graf ist geschäftsführende Gesellschafterin der 25 PersonaldienstleistungsgesmbH, Aufsichtsrätin der Salzburg AG und bekleidet zudem mehrere Funktionen in der Wirtschaftskammer, der SVA und im Wirtschaftsbund. Das sollte eigentlich für geballte Wirtschaftskompetenz sprechen. Wie ist ihre Kritik an der Einmalzahlung also einzuordnen?

Was bisher geschah

Direkt aus einer Phase der Hochkonjunktur stürzte die österreichische Wirtschaft in die Corona-Pandemie – und damit auch ihr Arbeitsmarkt. Die Kurzarbeit hat die Folgen der unmittelbaren Rezession abgefangen. Trotzdem liegt die Arbeitslosigkeit noch immer auf einem hohen Niveau, und sie verfestigt sich. Dieser Prozess hat aber schon Jahrzehnte vor der Pandemie seinen Ausgang genommen.

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Seit der Aufgabe der Vollbeschäftigungspolitik Ende der 1970-Jahre steigt die Arbeitslosigkeit kontinuierlich. Auch in wirtschaftlich guten Zeiten ist es einfach nicht mehr gelungen, die Arbeitslosigkeit im gleichen Umfang zu verringern, wie sie in schlechteren Phasen zuvor gestiegen ist. Heuer findet die Arbeitslosigkeit ihren bisherigen Höhepunkt.

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Genauer betrachtet – im Vergleich der Veränderung der Arbeitslosigkeit zum jeweiligen Vorjahresmonat – zeigt sich: Seit 2015, in einer Phase der Hochkonjunktur, ging die Arbeitslosigkeit zurück. Durch den Lockdown ab Mitte März kam es zu einem bis dahin nie erreichten Rekordanstieg. Im April 2020 gab es 200.000 Arbeitslose mehr als im April 2019. Gleichzeitig waren 1,3 Millionen Beschäftigte zur Kurzarbeit angemeldet. In den vergangenen Monaten hat sich die Lage entspannt, die Zahl der „neuen“ Arbeitslosen halbiert, aber es wird Winter – und damit steigt die Saisonarbeitslosigkeit, speziell in der Baubranche. Soweit zur allgemeinen Lage.

Maximal 55 Prozent

450 Euro sollen Arbeitslose nun also ein zweites Mal im Sinne eines erhöhten Arbeitslosengeldes bekommen. Jeitler-Cincelli und Tanja Graf dazu:

Carmen Christina Jeitler-Cincelli, ÖVP
„Völlig abstrus-in der jetzigen herausfordernden Zeit weitere 450 Euro ausschütten zu wollen – und zwar an ALLE Arbeitslosen…“

Tanja Graf, ÖVP
„Während also Mitarbeiter in Kurzarbeit um bis zu 20% weniger verdienen, sollen andere Zuschüsse erhalten!“

Das Arbeitslosengeld erfüllt im Grunde genommen zwei Funktionen: Zum einen sichert es die Einkommenssituation der Betroffenen ab, die maximal 55 Prozent ihren zuvor über einen Durchrechnungszeitraum bezogenes Einkommen als Arbeitslosengelds beziehen. Dabei handelt es sich um eine Versicherungsleistung – schließlich wird während der Erwerbstätigkeit in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt.

Zum anderen erfüllt die Arbeitslosenversicherung gesamtwirtschaftlich die Funktion eines sogenannten automatischen Stabilisators. Werden gleichzeitig viele Menschen arbeitslos, in einer Krise wie genau jetzt, stürzt die Konsumnachfrage nicht komplett ab. Und genau diese Konsumnachfrage ist es, die die den Wirtschaftsmotor am Laufen hält.

Markus Marterbauer, Chefökonom der Arbeiterkammer, fordert deshalb – genau wie die Gewerkschaften – vehement eine allgemeine Erhöhung des Arbeitslosengelds, etwa auf 70 Prozent. Denn das sei automatisch das „beste Konjunkturprogramm“. Gleichzeitig wird damit der Armutsgefährdung vorgebeugt – denn mit längerer Beschäftigungslosigkeit steigt das Armutsrisiko, und besonders davon betroffen sind Kinder.

Im internationalen Vergleich zeigt sich zudem: Das Arbeitslosengeld ist ist österreich vergleichsweise niedrig.

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Jobs, die es nicht mehr gibt

Auf der einen Seite steigt die Arbeitslosigkeit, auf der anderen Seite sinkt die Beschäftigung in Österreich – auf gut Deutsch: Es gibt einfach weniger Arbeitsplätze als vor der Krise. Das WIFO bezeichnet den Effekt als den größten Beschäftigungsrückgang in Österreich seit 70 Jahren. Im Zeitraum von April bis Juni dieses Jahres standen im Schnitt einer offenen Stelle mehr als sechs Arbeitslose gegenüber. Graf und Jeitler-Cincelli sind da allerdings anderer Meinung.

Tanja Graf, ÖVP
„Während der Westen Österreichs dringend Personal benötigt, gibt es im Osten viel zu wenige Jobs. Man stellt sich die Frage, ob es nicht besser sei, im Osten arbeitslos zu sein, als im Westen zu arbeiten!“

Carmen Christina Jeitler-Cincelli, ÖVP
„Die Wirtschaft sucht händeringend Mitarbeiter – und die werden mit solchem Bonusgeld animiert besser noch daheim zu bleiben.“

 Wie sieht es nun also in den Bundesländern aus? Ein Vergleich der vorgemerkt arbeitslosen Personen und der gemeldeten offenen Stellen in den Bundesländern zeigt: Schlecht und schelchter.

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Klar, die Arbeitslosigkeit in Wien ist gerade in absoluten Zahlen betrachtet höher. Aber welche Länder im Westen sind gemeint? Um Österreich kann es sich dabei jedenfalls nicht handeln, oder nicht um Österreich im Oktober 2020.

Die 50+ Chancenlosigkeit

Wer es auf dem Arbeitsmarkt schon vor der Wirtschaftskrise schwer hatte, hat es – logischerweise – in einer Krise nochmal schwerer: Das betrifft unter anderem Langzeitarbeitslose. Jeitler-Cincelli hat dafür wenig Verständnis:

Carmen Christina Jeitler-Cincelli, ÖVP
„Unterstützung ja. – aber für die, die es echt brauchen, zb Alleinerziehende, die ihren Job verlieren – aber nicht um strukturierte Langzeitarbeitslose in der Hängematte auch noch etwas zusätzlich zu verwöhnen.“

Was sagen die Zahlen? Die Langzeitarbeitslosigkeit war in Österreich schon vor der Pandemie auf einem hohen Niveau – und sie wird nun steigen. Denn Personen, die in der Corona-Pandemie arbeitslos wurden, sind in der Statistik derzeit noch gar nicht erfasst – sie sind noch nicht länger als ein Jahr arbeitslos.

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Das ist auch in einem Anstieg der Vormerkdauer zu beobachten. Die Anzahl der Tage, bis Arbeitslose wieder eine Beschäftigung finden, steigt seit Mitte März an – eine Entspannung ist nur bei den Jüngeren zu beobachten. Gerade Personen im Alter 50+ drohen, in die Langzeitarbeitslosigkeit abzugleiten.

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Untersuchungen, beispielsweise von der Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt (FORBA,) belegen: Langzeitarbeitslose werden deutlich seltener überhaupt zu Vorstellungsgesprächen eingeladen als gleich gut qualifizierte Bewerber*innen, die erst kürzer arbeitslos sind. Umso länger die Arbeitslosigkeit dauert, umso mehr Qualifikationen gehen zudem verloren, oder sie veralten. „Gerade weil es so schwierig ist, Langzeitarbeitslosigkeit zu bekämpfen, muss alles getan werden, um die Entstehung von Langzeitarbeitslosigkeit überhaupt zu verhindern“, meint Ökonom Sven Hergovic, Landesgeschäftsführer des AMS Niederösterreich.

Langzeitarbeitslosigkeit ist übrigens immer verbunden mit Armutsgefährdung. Und Armutsgefährdung trifft immer die ganze Familie, und bedeutet damit Kinderarmut. Tatsächlich hat sich die Armuts- und Ausgrenzungsgefährung in Österreich seit 2008 – teils gegen den Durchschnitt der EU – reduziert. Nicht berücksichtigt bisher sind dabei die Effekte der Corona-Krise.

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Arbeitsmarktpolitik statt Polemik

Es gibt sie also gar nicht, die „Hängematte“, in der sich Langzeitarbeitslose nach den Worten von Jeitler-Cincelli „verwöhnen“ lassen. Die Langzeitarbeitslosigkeit bei Menschen 50+ ist ein Bereich, in der der Arbeitsmarkt, der Markt strukturell versagt.

Um auf die Eingangsfrage zurückzukommen: Wie ist die Kritik von Jeitler-Cincelli und Graf an der Einmalzahlung also einzuordnen? Als der Versuch, eine Neiddebatte zu starten. Neid von denen, die hart arbeiten, oft wenig verdienen, vielleicht vor dem Sommer ohne nennenswerte monetäre Gegenleistung beklatscht wurden, auf jene, die keine Arbeit mehr haben, und in der aktuellen Situation kaum eine finden können. Es geht um nichts weiter als ein Treten von oben nach unten, und dann nach noch weiter unten.

Statt zu treten, sollte es darum gehen, zu arbeiten, und eine Arbeitsmarktpolitik zu gestalten, die der Krise Herrin wird. Mit der Corona-Arbeitsstiftung wurde ein Instrument geschaffen, dass auf Qualifizierung setzt. 700 Millionen Euro sind dafür vorgesehen, Beschäftigte zu qualifizieren – für einen Aufschwung nach der Krise. Das ist gut und wichtig. Was darin allerdings kaum enthalten ist: Aktive Beschäftigungspolitik, in der der Staat in die Rolle der Arbeitgeberin springt, und Jobangebote schafft, etwa in Gemeinden und Kommunen.

Die Aktion 20.000 war eines der ersten Projekte, das von der türkis-blauen Bundesregierung gestoppt wurde. Es schaffte genau das: Beschäftigung für Langzeitarbeitslose, und damit wieder Einkommen aus eigener Kraft und Würde für die Menschen. Das Institut für Höhere Studien hat das Programm mittlerweile als äußerst erfolgreich evaluiert. Warum ist es nicht möglich, österreichweit ein vergleichbares Programm jetzt zu starten – etwa nur, weil das Vorbild auf eine SPÖ-Initiative zurückgeht?

Im kleinen Rahmen wird seit Mitte Oktober sogar vergleichbares Projekt umgesetzt. Das AMS Niederösterreich startete die „weltweit erste universelle Arbeitsplatzgarantie für Langzeitarbeitslose“. Langzeitarbeitslosen wird in der Gemeinde Gramatneusiedl sowie in Marienthal für die nächsten drei Jahre ein Arbeitsplatz mit Unterstützung durch Trainings und Workshops angeboten. Die Fortschritte werden durch FORBA laufend wissenschaftlich evaluiert.

Was es braucht

Seit Beginn der Pandemie gibt es in Österreich etwa 30.000 Langzeitarbeitslose mehr. Berechnungen der Arbeiterkammer haben ergeben, dass es etwa 200 Millionen Euro zusätzlich bräuchte, um den Betroffenen eine Jobgarantie zu bieten. Die Menschen hätten damit ein eigenes kollektivvertragliches Einkommen, das sie sowieso sofort wieder in den Wirtschaftskreislauf pumpem, und ihre Würde.

Aber beides zusammen geht derzeit einfach nicht, meint AMS-Vorstand Herbert Buchinger. Eine Qualifizierungsoffensive und ein Beschäftigungsprogramm gleichzeitig sind für das AMS weder finanzierbar noch administrierbar. Das kritisiert auch Markus Marterbauer: „Die Mittel des AMS sind für diese Krise vollkommen unzureichend.“

Statt Polemik gegen Arbeitslose braucht es also, zusammengefasst: Ein AMS, das ausreichend finanziert ist, eine Qualifizierungsoffensive für den Aufschwung und Beschäftigungsprogramme, gerade für Langzeitlose. Derzeit ist gerade einmal einer dieser drei Punkte erfüllt. Damit gibt es eigentlich sehr viel zu tun für eine Regierungspartei, die sich in einer Umfrage-Hängematte verwöhnen lässt. Pressekonferenzen und Facebookpostings machen schließlich noch keine Arbeitsmarktpolitik.

Im Videointerview: Markus Marterbauer zu Budgetrede und zur Arbeitsmarktpolitik

Weiterlesen auf dem A&W-Blog

Offensive Arbeitsmarkt: Was nun getan werden muss

Wie man Langzeitarbeitslosigkeit verhindert

Armutspolitik: bestehende Armut bekämpfen, neue Armut verhindern!

Über den/die Autor:in

Michael Mazohl

Michael Mazohl studierte Digitale Kunst an der Universität für angewandte Kunst Wien. Im ÖGB-Verlag entwickelte er Kampagnen für die Arbeiterkammer, den ÖGB, die Gewerkschaften und andere Institutionen. Zudem arbeitete er als Journalist und Pressefotograf. Drei Jahre zeichnete er als Chefredakteur für das Magazin „Arbeit&Wirtschaft“ verantwortlich und führte das Medium in seine digitale Zukunft. Gemeinsam mit der Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl erscheint ihr Buch „Klassenkampf von oben“ im November 2022 im ÖGB-Verlag.

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