Arbeit ist keine Ware

(C) ILO / Crozet M.
Vor 100 Jahren wurde die Internationale Arbeitsorganisation gegründet. Sie legt weltweit Mindeststandards für die Arbeitswelt fest und überwacht deren Einhaltung.
Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) mit ihren derzeit 187 Mitgliedstaaten hat sich wahrlich hohe Ziele gesteckt: Internationale Mindeststandards im Arbeits- und Sozialrecht sollen durch sozialen Dialog geschaffen werden, um menschenwürdige Arbeit und soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen und damit Frieden weltweit und dauerhaft zu sichern. Eine scheinbar unbewältigbare Aufgabe. Nichtsdestotrotz wurde die ILO vor 100 Jahren – aufgrund der leidvollen und verheerenden Erfahrungen des Ersten Weltkriegs – gegründet.

Der Kampf für menschenwürdige Arbeitsbedingungen weltweit hat nichts an Aktualität verloren, ganz im Gegenteil. ILO-Generaldirektor Guy Ryder formuliert es als Metapher von drei Schlüsseln – der eine symbolisiert die Regierungen, einer die ArbeitnehmerInnen und einer die Arbeitgeber –, die zusammenwirken müssen: „Wenn sich diese drei Schlüssel gemeinsam drehen, öffnen sich die Türen für soziale Gerechtigkeit.“

Die Notwendigkeit einer internationalen Arbeitsorganisation wurde in einer Phase des rasanten technologischen und sozialen Wandels Ende des 19. Jahrhunderts erkannt. 1897 fand auf Initiative der schweizerischen Gewerkschaften eine Konferenz zur Erarbeitung eines Schutzprogrammes für ArbeiterInnen statt. Aufgrund der zunehmenden Globalisierung wurden multilaterale Lösungen auf internationaler Ebene angestrebt. Gegründet wurde die ILO im Rahmen des Völkerbundes durch den Friedensvertrag von Versailles im Jahr 1919. Seit 1945 ist die ILO eine Sonderorganisation der UNO.

Ziel der ILO ist es, sozialpolitische Fragen nicht ausschließlich staatsintern zu regeln. Vielmehr sollen Arbeitsrechte durch internationale Mindeststandards geschützt werden.

Die ILO ist bis heute die einzige internationale Organisation, die dreigliedrige Verhandlungen im Sinne des sozialen Dialogs führt. Das bedeutet, Regierungen, Gewerkschaften und Verbände der Arbeitgeber verhandeln auf Augenhöhe. Das beinhaltet durchwegs konfliktreiche Auseinandersetzungen, aber nur so kann ein stabiler Interessenausgleich zwischen Arbeit und Kapital gewährleistet werden. Schlussendlich sollten so gewalttätige Konflikte und Kriege vermieden werden.

Die marxistische Erkenntnis, dass „Arbeit keine Ware ist“, wurde schon als Grundsatz im Friedensvertrag von Versailles im Artikel 427 festgeschrieben. Weitere unabdingbare Mindeststandards, die damals wie heute das Fundament für menschenwürdige Arbeit bilden, wurden hier festgeschrieben: „Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit“, „Verbot von Kinderarbeit“, „8 Stunden Tagesarbeitszeit“, „Recht auf Gewerkschaftsgründung“. Bei der ersten Internationalen Arbeitskonferenz (das ist das Parlament und somit wichtigste Organ der ILO) im Jahr 1919 wurde ein Teil der ILO-Grundsätze in Form von sechs Konventionen verabschiedet: Arbeitszeit, Arbeitslosigkeit, Karenz, Nachtarbeit für Frauen, Kinderarbeit.

1944 – Erklärung von Philadelphia

Österreich wurde 1919 mit der Gründung der Ersten Republik Mitglied, trat aber 1938 nach dem Anschluss an das nationalsozialistische Deutschland wieder aus.

Aufgrund des Zweiten Weltkriegs und dessen Auswirkungen wurden die Gründungsgrundsätze der ILO mit der Erklärung von Philadelphia von 1944 nochmals verstärkt: „Armut gefährdet den Wohlstand aller“ und muss daher weltweit und durch demokratische Mitbestimmung gemeinsam bekämpft werden. Der Grundsatz „Arbeit ist keine Ware“ wurde nochmals festgeschrieben. Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Kollektivverhandlungen, Armutsbekämpfung und der Dialog zwischen Regierungen und Sozialpartnern wurden in den Mittelpunkt gerückt.

Bis heute ist die ILO die einzige internationale Organisation, die Mindeststandards für die Arbeitswelt festlegt und im Rahmen ihrer völkerrechtlichen Möglichkeiten auch überwacht.

Impulsgeberin

Von Beginn an war die ILO wichtige Impulsgeberin, um gesellschaftlichen Wandel gerecht zu gestalten. Schon die erste ILO-Konvention aus dem Jahr 1919 hat einen 8-Stunden-Arbeitstag in gewerblichen Betrieben vorgesehen. Ein wichtiger Impuls kam beim Thema „Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit“: Bei der 34. Internationalen Arbeitskonferenz im Jahr 1951 wurde das Übereinkommen über die Gleichheit des Entgelts männlicher und weiblicher Arbeitskräfte für gleiche oder gleichwertige Arbeit beschlossen und 1954 von Österreich ratifiziert.

Der ÖGB hatte bereits 1948 gleichen Lohn bei gleicher Arbeit für Frauen gefordert, lange erfolglos. Im Jahr 1977 wurde Österreich von der ILO wegen Lohndiskriminierungen gerügt, woraufhin 1979 endlich das erste Gleichbehandlungsgesetz in Österreich in Kraft trat. Trotzdem haben wir im Jahr 2019 noch immer einen Gender Pay Gap von 19,9 Prozent. Auch wenn man alle erklärbaren Faktoren wegrechnet, bleibt immer noch ein unerklärlicher Rest von 13,5 Prozent, der auf Diskriminierung hindeutet. In der Praxis fehlt somit noch einiges zur Beendigung von Einkommensnachteilen von Frauen im 21. Jahrhundert.

Im Jahr 1998 wurde die Erklärung über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit verabschiedet. Damit wurden die Übereinkommen zu Vereinigungsfreiheit, Diskriminierungsverbot und Beseitigung der Kinder- und Zwangsarbeit als Grundprinzipien der ILO aufgewertet. Zentral ist, dass diese so genannten Kernarbeitsnormen als universelle Menschenrechte in der Arbeitswelt anerkannt sind und somit unabhängig von einer allfälligen Ratifikation durch die Mitgliedstaaten Geltung haben.

Gewaltfreie Arbeitswelt

Die ILO bearbeitet wichtige aktuelle Probleme in der Arbeitswelt. Ein besonders erschreckendes Phänomen ist Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt. Auf der 108. Arbeitskonferenz im Jahr 2019 wurden die ersten internationalen Normen verabschiedet. Gewalt und Belästigung stellt eine schwerwiegende Verletzung der Menschenrechte dar und ist mit menschenwürdiger Arbeit unvereinbar. Sie betrifft alle Berufe und Wirtschaftszweige weltweit. Und sie wirkt sich nicht nur auf ArbeitnehmerInnen aus, sondern auch auf ihre Familien, ihr Arbeitsumfeld, die Wirtschaft und die Gesellschaft insgesamt. Die ILO hat zu ihrem 100-jährigen Bestehen ein Recht auf eine Arbeitswelt ohne Gewalt und Belästigung anerkannt. Jetzt liegt es an den Regierungen, dieses so wichtige Übereinkommen zu ratifizieren und gemeinsam mit den Sozialpartnern umzusetzen.

Die ILO als ExpertInnenorganisation

Die ILO betreibt auch Forschung zu den brennenden Fragen der Arbeitswelt und stellt so eine wichtige Basis zur Gestaltung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen zur Verfügung. Beispielsweise hat die ILO in einem Bericht aus dem Jahr 2018 Erfahrungen zur Privatisierung von Pensionssystemen eingehend analysiert. Die Bilanz fällt vernichtend aus. Die Pensionshöhen verfielen teilweise dramatisch, die Ungleichheit sowie Altersarmut stiegen dramatisch an. Außerdem führte die Privatisierung zu einer Erhöhung der Kosten. Der einzige Profiteur war der Finanzsektor. Die erfreuliche Nachricht: 60 Prozent der Länder haben wieder eine Umkehrung ihres Privatisierungsirrwegs eingeleitet. Dennoch werben viele konservative und liberale PolitikerInnen weiterhin für diese Form der Absicherung im Alter.

Herausforderungen der Zukunft

Einkommensungleichheit, Armut, Prekarisierung, Digitalisierung sind die aktuellen Herausforderungen in der Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts. Der soziale Dialog ist wesentliche Basis für das erfolgreiche Meistern dieser Aufgaben. Die österreichische Sozialpartnerschaft ist internationales Vorzeigemodell für sozialen Dialog – wenn sie auch tatsächlich gelebt wird. Und dafür ist es wesentlich, dass alle gehört werden und mitbestimmen können. So auch die ArbeitnehmerInnen. Nur so kann das Miteinander auf Augenhöhe, ein fairer, ausgewogener Ausgleich der Interessen erreicht werden. Nur so können Schieflagen und Ungerechtigkeiten vermieden und somit der soziale Frieden auf Dauer gesichert werden.

Mehr
www.ilo.org
ILO-Bericht zu Privatisierungen der Pensionen
tinyurl.com/yyk5dzwx

Von
Ruth Ettl und Sabine Stelczenmayr
Abteilung Sozialpsychologie der AK Wien und Internationales Referat des ÖGB

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 6/19.

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