Alles wird von selber gut?

© Markus Zahradnik
Der Markt ist effizienter als der öffentliche Sektor? Der Markt reguliert sich selbst am besten? Dass der Markt auch bei der Bereitstellung und Garantie der Daseinsvorsorge alles regelt, ist keine Ansichtssache, sondern ein Mythos – ein gefährlicher noch dazu.
Ein alter chinesischer Fluch lautet: „Mögest du in interessanten Zeiten leben.“ Und wirklich, unsere Zeiten sind „interessant“ geworden. Die letzten beiden Jahre werden auch in Österreich vielen Menschen als Jahre der Veränderung in Erinnerung bleiben. Aufgrund jahrzehntelanger bewusster Einsparungen wurden mit der Covid-Krise das Gesundheitswesen und viele andere kritische Infrastrukturen im Bereich der Daseinsvorsorge an ihre Belastungsgrenze gebracht. Teilweise auch darüber hinaus. Die Auswirkungen der Pandemie sind auch weiterhin spürbar. Globale Lieferketten haben sich immer noch nicht davon erholt, die Belastungen für das Krankenhauspersonal dauern an.

Gleichzeitig begannen bereits in der Pandemie-Welle im Herbst 2021, die Öl- und Gaspreise zu steigen. Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine sollten sie endgültig eskalieren. Die Preissteigerungen machen sich in allen Bereichen des Alltagslebens bemerkbar, nicht zuletzt bei den Grundnahrungsmitteln. Zu all dem kommen auch die in Österreich spürbaren Auswirkungen der globalen Klimakrise: Flüsse und Seen trocknen aus. Wasserstraßen funktionieren nicht mehr. Wirtschafts- und Geisteswissenschaftler:innen fassen diese Phänomene inzwischen unter einem Sammelbegriff zusammen: dem der „multiplen“ oder „Mehrfachkrisen“.

Mehrfachkrisen stressen

Diese Mehrfachkrisen sind ein Stresstest für öffentliche Einrichtungen der Daseinsvorsorge und für kritische Infrastrukturen gleichermaßen. Der Begriff der Daseinsvorsorge umfasst öffentliche Dienstleistungen, die für das tägliche Leben besonders wichtig sind. Die Stadt Wien zählt beispielsweise Wasserversorgung, Abwasser- und Müllentsorgung, Gesundheits- und soziale Dienstleistungen sowie den öffentlichen Personen-Nahverkehr zu den Einrichtungen der Daseinsvorsorge. Auch der Bundesvorstand der „Daseinsgewerkschaft vida“ entwickelte bereits im Jahr 2011 eine Definition. Darin heißt es: „Zur Daseinsvorsorge zählen all jene Dienstleistungen, die den Grundbedürfnissen des Menschen im 21. Jahrhundert dienen. Für die Deckung der Grundbedürfnisse ist grundsätzlich der Staat verantwortlich.“ Als derartige Grundbedürfnisse zählt die Gewerkschaft unter anderem die Bereiche Bildung, Gesundheit, Pflege und Betreuung und leistbaren Wohnraum auf.

AK-Chefökonom Markus Marterbauer unterschreibt gerne diese Definition. Er meint: „Ich bin dafür, die Daseinsvorsorge sehr breit zu definieren. Und zwar von den Kindergärten bis hin zu den wirtschaftlichen Dienstleistern.“ Auch die Republik Österreich befasst sich mit der Daseinsvorsorge und deren Schutz.

Österreich verfügt über leistungsfähige Infrastrukturen und kann auf einen hohen Grad an Versorgungssicherheit bei Lebensmitteln (deren Preise aktuell aber ebenfalls durch die Decke gehen) und öffentlichen Dienstleistungen der Daseinsvorsorge wie auch auf eine gesicherte Versorgung mit Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen verweisen. Diese Infrastrukturen sind durch multiple Krisen zunehmend gefährdet. Immer wenn Gemeinden, Länder und der Bund aufgrund von wirtschaftlichen Krisen in Finanzierungsnöte geraten, wird der Ruf nach Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen und Unternehmen laut.

„Der ÖGB war gegenüber Deregulierung und Liberalisierung von Infrastrukturen der Daseinsvorsorge stets sehr kritisch eingestellt”, so ÖGB-Chefökonomin Helene Schuberth.

 

Marktkonform demokratisch?

Der ehemaligen deutschen Bundeskanzlerin wird die Formulierung einer „marktkonformen Demokratie“ zugeschrieben, einer Demokratie also, die sich den Regeln des Marktes unterwirft. Diese Frage stößt direkt ins Herz derzeitiger Debatten rund um den staatlichen Umgang mit Krisen – der Finanzkrise 2008/2009, der Covid-Krise und nun der Energiepreiskrise. Im Zentrum steht je nach Blickwinkel die grundsätzliche Frage, wie stark der Staat in Krisensituationen und bei Marktversagen in die Marktwirtschaft eingreifen soll oder darf.

Während der tiefgreifenden Krisen der letzten 20 Jahre stimmten Politik und Unternehmen stark regulierenden Eingriffen in den Markt zu. So wurde etwa der Finanzsektor nach der Finanzkrise 2008/2009, ausgelöst durch eine weitgehende Liberalisierung der Finanzmärkte und Spekulationsblasen und einer tiefgehenden Wirtschaftskrise, re-reguliert, wenn auch unzureichend. In der Covid-Pandemie federten die Regierungen weltweit mit Hilfspaketen nicht nur die Auswirkungen auf die Haushalte ab, sondern sicherten mit Milliardenhilfen etwa in Österreich die Existenzfähigkeit der Unternehmen. Gleichzeitig zeigte sich, dass die Auswirkungen von Krisen abhängig vom Liberalisierungsgrad der jeweiligen Märkte sind.

Liberalisierung von Infrastrukturen der Daseinsvorsorge kritisch

So ist die auf öffentliche Daseinsvorsorge spezialisierte Sozialwissenschaftlerin Emma Dowling der Auffassung, dass sich gerade in Ländern, in denen hauptsächlich auf die Kräfte des „freien Marktes“ gesetzt wird, die Corona-Krise besonders stark im Gesundheits- und Pflegesektor ausgewirkt habe. Gerade in auf Privatisierung ausgerichteten Pflegeheimen Großbritanniens habe sich das Virus besonders stark ausbreiten können.

„Trittbrettfahrer unter den großen Unternehmen profitieren von der jetzigen Situation“, weiß Markus Marterbauer, AK-Chefökonom.

 

Dem pflichtet ÖGB-Chefökonomin Helene Schuberth bei. „Der ÖGB war gegenüber Deregulierung und Liberalisierung von Infrastrukturen der Daseinsvorsorge stets sehr kritisch eingestellt“, sagt sie. Allerdings habe es innerhalb der EU seit den 1990er-Jahren eine regelrechte „Liberalisierungseuphorie“ gegeben. Begründet worden sei sie mit dem Argument erhöhter Effizienz und geringerer Preise für die Konsument:innen. Aber: „Die Ergebnisse der Marktöffnung waren keineswegs positiv.“ Das habe man in der Finanzkrise, der Pandemie und jetzt in der „kriegsbedingten Energiekrise“ gesehen. Als Beispiel führt Schuberth den Energiesektor an: „Studien zeigen, dass die Liberalisierung EU-weit zu steigenden Preisen und zur Energiearmut führten. Profitieren konnten letztlich große Konzerne.“

Auch hier mag Großbritannien als abschreckendes Beispiel gelten. Am 26. August verkündete die britische Energieregulierungsbehörde OFGEM, den Deckel für die maximale Höhe der Strom- und Gaskosten noch einmal drastisch anheben zu wollen. Die Energieversorger in Großbritannien sind allesamt privatisiert. Deren Kund:innen drohen nun 80-prozentige Erhöhungen ihrer Rechnungen. Dass die Energiepreise stundenweise in astronomische Höhen steigen, verdeutliche doch, so Schuberth, die dringende Notwendigkeit, radikale Eingriffe in die nicht funktionierenden Märkte vorzunehmen und Preise sowohl auf der Großhandelsebene (z. B. Deckelung des Gaspreises für die Stromproduktion) als auch für Haushaltskund:innen zu regulieren.

Liberalisierung abgewickelt?

Schon längst ist innerhalb Europas die Liberalisierung der Daseinsvorsorge in die Kritik geraten. Und eine wachsende Zahl von Gemeinden und Städten hat begonnen, gegenzusteuern. Zu diesem Schluss gelangt eine im Februar 2019 von der „Österreichischen Gesellschaft für Politikberatung und Politikentwicklung“ herausgegebene Studie mit dem Titel „Rekommunalisierung in Europa“. In der Studie wird festgehalten, dass „kaum ein Bereich der Daseinsvorsorge“ von der maßgeblich durch die Europäische Kommission beförderten Privatisierungswelle der vergangenen Jahrzehnte verschont worden sei: „Oftmals übernahmen private Eigentümer bislang öffentliche Versorgungsmonopole, neue zusätzliche Anbieter am Markt gab es nur in wenigen Fällen.“ Die Kommunen hatten durchaus eigene Motivationen, an diesem Spiel mitzuwirken. Diesen „schien es ein gutes Geschäft zu sein, Budgetlöcher durch den Verkauf von Dienstleistungsunternehmen oder die Übertragung des Betriebes zu stopfen“.

Statistik. Grafik: 20 Prozent der britischen Wasserversorgung versickern durch nicht reparierte Lecks im Boden. Symbolbild für die Daseinsvorsorge.

Allerdings machte sich schnell Ernüchterung breit. „Zu oft wurden Versprechen von besserer Leistung zu günstigeren Preisen nicht gehalten“, so die Studie. „Viele Kommunen hatten daher den Wunsch, die privatisierten Leistungen wieder in die öffentliche Verantwortung zu bringen.“ Die Liberalisierungswelle, analysiert die Studie, wurde durch eine Rekommunalisierungswelle ersetzt, die sogar Metropolen wie London, Paris, Berlin oder Madrid erfasst hat: „Seit der Jahrtausendwende sind europaweit 700 Fälle von Rekommunalisierungen auf nationaler und regionaler Ebene in 20 europäischen Ländern bekannt. Im Energiesektor ist der Rekommunalisierungstrend mit 298 Fällen in 8 verschiedenen Ländern bisher am stärksten.“ In Österreich zählt die Studie übrigens nur 17 Rekommunalisierungen. Dies liege am hohen öffentlichen Engagement in der Daseinsvorsorge.

Maßnahmen gegen die Preissteigerungen

Das bedeutet allerdings nicht, dass Österreich eine Insel der Seligen ist. Trotz eines vergleichsweise starken öffentlichen Sektors kommt es auch hierzulande zu drastischen Preissteigerungen bei Öl, Gas und Strom. Im September 2022 war die Inflation in Österreich erstmals seit dem Jahr 1952 zweistellig. Vor allem weil sich auch öffentliche Anbieter den Regeln des liberalisierten Marktes unterwerfen müssen. Auch in Österreich sind Krankenhäuser aufgrund von Einsparungen überlastet. Außerdem fehlt dem österreichischen Sozialstaat die „Armutsfestigkeit“, wie Markus Marterbauer konstatiert.

Zwar würden die von der Bundesregierung in ihren jüngsten Entlastungspaketen beschlossenen Einmalzahlungen durchaus helfen: „Aber sie helfen nicht dauerhaft. Nehmen wir das Arbeitslosengeld. Das beträgt 1.000 Euro im Durchschnitt. Aber die Armutsgrenze liegt bei rund 1.300 Euro. Die Sozialleistungen gehören dringend erhöht.“ Auch gebe es Trittbrettfahrer unter den großen Unternehmen, die von der jetzigen Situation profitieren würden. „Hier braucht es eine Übergewinnsteuer“, ist Marterbauer überzeugt. „Es gibt inzwischen großen politischen Druck in diese Richtung. Deshalb bin ich optimistisch, dass sie eingeführt wird.“

Spielfiguren werden umgeworfen. Symbolbild für die Daseinsvorsorge.

Daseinsvorsorge: Eilige Reformen nötig

Aber wie sollen beispielsweise Energiemärkte re-reguliert werden? Ist das überhaupt möglich? Helene Schuberth sieht hier einige Parallelen zur Zeit unmittelbar nach Ausbruch der Finanzkrise, als die Finanzindustrie zunächst erfolgreich gegen eine Regulierung des Finanzsektors lobbyiert hat. Das sei heute ähnlich: Vertreter:innen des Energiesektors beraten die Regierungen und verhindern letztlich notwendige Reformen. Es gehe dabei nicht nur um die Eigentumsfrage, sondern auch um die Marktordnung und das Regelwerk, in deren Rahmen die Energieunternehmen operieren. Energie ist ein Bereich der Daseinsvorsorge. Und die öffentliche Hand sollte hier alle Durchgriffsrechte haben, um diese sicherzustellen.“

Somit ist die Daseinsvorsorge auch eine demokratische Frage. Marterbauer meint, es sei nötig, neue Mitgestaltungsmöglichkeiten für die Öffentlichkeit zu schaffen. „Wie kann ich mitbestimmen, welche Daseinsvorsorge ich brauche?“, fragt er. „Damit muss man experimentieren. Hier müsste man auch Erfahrungen aus dem Klimarat genau evaluieren. Hier gibt es ebenfalls eine Rolle für die Gewerkschaftsbewegung. Es reicht nicht, alle fünf Jahre einen Betriebsrat zu wählen.“

Billigsdorfer, nein danke

Bei einem ist sich Helene Schuberth sicher: „Insbesondere in Krisen hat sich der Sozialstaat bewährt und gezeigt, dass er das Vermögen der Vielen ist. Ohne sozialstaatliche Leistungen würden die privaten Kosten für Bildung, Gesundheit und Altersvorsorge erheblich ansteigen.“ Alle in Österreich lebenden Menschen würden im Laufe ihres Lebens von Leistungen des Sozialstaats profitieren, so Schuberth. „Das gilt insbesondere in Lebenslagen, in denen wir besonders verwundbar sind: als Kinder, während der Schwangerschaft, im Krankheitsfall oder im Alter.“ Der Sozialstaat mache Österreich zu einem „sehr attraktiven Wirtschaftsstandort“.

Das bedeute aber auch, „dass der Schlüssel zur Zukunft für den österreichischen Standort nicht in geringeren Lohnnebenkosten und Steuersenkungen für Unternehmen liegen kann. Österreich wird seinen Wohlstand im globalen Wettbewerb nicht als Billigland sichern können.“ Stattdessen brauche es öffentliche Investitionen in die Zukunft, um mit einem Ausbau des Sozialstaats „den Wohlstand der breiten Bevölkerung zu sichern“, so Schuberth abschließend.

Hier schließt sich auf gewisse Weise ein Kreis. Wenn die Privatwirtschaft einen guten Standort haben möchte, so die Argumentation von AK und ÖGB, dann muss sie in der Krise auch einen Beitrag für das Allgemeinwohl leisten. Ein solcher Beitrag könnte ein Energiepreisdeckel für Haushalte sein. Mit dem sollte der Grundbedarf für Strom, Gas und strombasierte Heizungssysteme auf jeweils 600 Euro und 784 Euro begrenzt werden. Der ÖGB hat dazu ein Modell vorgelegt. Finanziert werden soll der Energiepreisdeckel für Haushalte durch die Abschöpfung der Übergewinne der Energieunternehmen.

Auch dazu haben ÖGB und AK ein konkretes Modell vorgelegt. Es geht dabei um jene Energieunternehmen, deren Gestehungskosten einen Bruchteil der den Kund:innen verrechneten Preise ausmachen. Diese machen gigantische Gewinne, während viele nicht mehr wissen, wie sie ihre Energierechnungen zahlen sollen. Diese Maßnahmen seien sofort umzusetzen, so Schuberth. Darüber hinaus braucht es aber systemische Lösungen, weitreichende Interventionen in den Energiemarkt – letztlich einen Rückbau der Energiemarktliberalisierung.

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