Lange hat sich die EU nicht mit dem Thema beschäftigt. Die rechtliche Vorgabe war, dass Wohnungsmärkte in die Kompetenz der einzelnen Mitgliedstaaten fallen. Mittlerweile ist das Problem aber zu groß geworden, um es noch ignorieren zu können. Die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, sprach die Krise im September in ihrer Rede zur Lage der Union an. Ende Oktober diskutierten die Staats- und Regierungschef:innen das Thema zum ersten Mal bei einer EU-Ratssitzung. Es scheint sich etwas zu bewegen.
Wohnen als „Menschenrecht“
Für Haris Doukas, Bürgermeister von Athen, ist das ein gutes Zeichen. Er selbst schlägt sich mit dem Wohnproblem schon lange herum. Das Bild, das er von der Situation in seiner Stadt zeichnet, ist ernüchternd: In den vergangenen sechs Jahren stiegen die Mietpreise um bis zu 50 Prozent auf durchschnittlich zehn bis zwölf Euro pro Quadratmeter. Griech:innen geben im Schnitt etwa 35,5 Prozent ihres Haushaltseinkommens für Wohnungskosten aus – der höchste Anteil in der EU.
In vielen europäischen Städten wächst der Druck auf Mieter:innen. In Rom legten die Mietpreise allein im Vorjahr teils um 10 bis 15 Prozent zu. In der kroatischen Hauptstadt Zagreb schossen die Mieten in den vergangenen zehn Jahren um 67 Prozent in die Höhe. Die Krise betrifft aber nicht nur große Metropolen: Marta Farres, die Bürgermeisterin der 222.000 Einwohner:innen zählenden spanischen Stadt Sabadell, merke, dass immer mehr Menschen aus dem 150 Kilometer entfernten Barcelona in ihren Ort kommen, um dort günstiger zu leben. Das führt auch dort zu Wohnungsknappheit, erklärt sie in einer Pressekonferenz.
Die Krise verschärft sich schneller,
als wir handeln können.
Es braucht direkte Mittel für die Städte,
um den Druck zu verringern.
Haris Doukas, Bürgermeister von Athen
Die verschiedenen Probleme, mit denen europäische Städte konfrontiert sind, wurden beim Ausschuss der Regionen in Brüssel diskutiert. Am Rande der Konferenz begrüßt Bürgermeister Doukas im Interview mit Arbeit&Wirtschaft die Bemühungen der EU-Kommission. Gleichzeitig fürchte er, dass sie zu spät kommen. „Die Krise verschärft sich schneller, als wir handeln können. Es braucht direkte Mittel für die Städte, um den Druck zu verringern“, sagt Doukas. Populistische Politiker:innen hätten hier außerdem „einen großen Spielraum“, weil hohe Wohnungskosten und ökonomische Unsicherheiten den Eindruck eines Kontrollverlusts bei der Bevölkerung erzeugen würden. Für Populist:innen sei es leicht, an diese Emotionen anzuknüpfen und schnelle Lösungen zu versprechen.
Gleichgewicht für die Bürger:innen
In Athen hat der Bürgermeister mit seiner sozialdemokratischen Partei PASOK schon erste Maßnahmen eingeführt. Das Zuhause der Akropolis zieht jedes Jahr zehn Millionen Tourist:innen an – weit mehr als die griechischen Inseln. Um die Bewohner:innen zu entlasten, hat die Stadt 17 Wohngegenden identifiziert, in denen der Tourismus der Hauptgrund für fehlenden Wohnraum ist. In diesen hat die Stadt Kurzzeitvermietungen über Onlineplattformen wie Airbnb gestoppt.
Als Professor für Energiepolitik hatte Doukas kaum politische Erfahrung, als er Anfang 2024 ins Athener Rathaus einzog. Die Wohnungskrise stand aber von Anfang an ganz oben auf seiner Agenda. „Wir brauchen ein Gleichgewicht. Und dort, wo es keines gibt, müssen wir eingreifen“, so Doukas. Ihm gehe es darum, den Charakter der Stadt zu bewahren und sie gleichzeitig lebenswerter für die Bürger:innen zu machen.
Vergangenes Jahr vernetzte sich Doukas auch gleich mit 14 progressiven Bürgermeister:innen aus europäischen Großstädten wie z.B. Amsterdam, Lissabon oder auch Leipzig, um den European Housing Action Plan (EHAP) auszuarbeiten und für Lösungen auf EU-Ebene einzutreten. Die Kernaussage: „Wohnen muss ein Menschenrecht sein und darf nicht zur Ware werden. Städte brauchen direkte Finanzmittel von der EU und klare gesetzliche Rahmenbedingungen für leistbaren, nachhaltigen und sicheren Wohnraum für alle“, fasst es Doukas zusammen.
Wien als Vorbild
Wien ist hier in vielen Fällen wegen seines sozialen Wohnbaus ein klares Vorbild. Das weiß auch Michaela Kauer, Leiterin des Wien-Hauses in Brüssel, einer Art Verbindungsbüro der Stadt Wien zu den verschiedenen EU-Institutionen. Sie wertet die politischen Signale aus der Kommission positiv, möchte die Erwartungen aber noch niedrig halten. „Das Thema ist nicht vom Himmel gefallen. Seit Jahren bemühen sich Städte und andere Akteur:innen, eine bessere Koordinierung zum Thema Wohnen zustande zu bringen“, sagt Kauer im Interview. Dafür brauche es etwa vereinfachte Baugenehmigungsverfahren oder effizientere Förderprogramme.
Das Thema ist nicht vom Himmel gefallen.
Seit Jahren bemühen sich Städte und andere Akteur:innen,
eine bessere Koordinierung zum Thema Wohnen zustande zu bringen.
Michaela Kauer, Leiterin des Wien-Hauses in Brüssel
Die Wohnungskrise in Europa sei aber „so breit und tief wie noch nie“, sagt Kauer. In Europa leben etwa 70 Prozent der Menschen im Eigenheim, 30 Prozent zur Miete. In den Städten ist der Mietanteil zwar höher, trotzdem besteht auch hier Ungleichheit beim Wohnungszugang.
Das österreichische System des gemeinnützigen Wohnungsbaus gilt seit Jahren als Best-Practice-Modell. Zwei Drittel der Einwohner:innen von Wien leben in kommunalen, genossenschaftlichen und öffentlich geförderten Wohnungen und viele EU-Länder wie Spanien, Griechenland oder Italien wollen in dieser Sache nachziehen. Gleichzeitig tun sich aber auch in Wien Probleme auf: Die Mietpreise in Altbauwohnungen stiegen in den vergangenen zehn Jahren um etwa 45 Prozent, von 8,40 Euro pro Quadratemeter im Jahr 2014 auf 12,20 Euro im Jahr 2024. Hohe Baukosten führen dazu, dass nicht genug leistbare Wohneinheiten fertiggestellt werden.
Keine Einheitslösung
Für die 27 verschiedenen Mitgliedstaaten kann es jedenfalls keine Einheitslösung geben. Spanien etwa hat einen hohen Anteil an Wohnungseigentum, in den Niederlanden kaufen sich die wenigsten eine Wohnung. Dafür braucht es verschiedene Ansätze, die laut Expert:innen zum Großteil auch schon existieren.
Lange wurde Irland als „Celtic Tiger“ bezeichnet: wirtschaftlich erfolgreich, niedrig besteuert und voller Jobs.
Doch hinter diesem Wachstum verbirgt sich eine andere Realität. 👇
— Arbeit&Wirtschaft Magazin (@aundwmagazin.bsky.social) 12. Oktober 2025 um 09:00
Im Oktober hat die EU-Kommission einen Berichtsentwurf zur Bewältigung der Wohnungskrise vorgelegt. Darin will sie den Wohnungsmarkt vor allem für junge Menschen, systemrelevante Berufsgruppen, Alleinerziehende, kinderreiche Familien und Menschen ohne festen Wohnsitz öffnen. Steuerentlastungen, günstige Kredite und Garantien für Erstkäufer:innen sind im Gespräch. Der Teufel steckt jedoch im Detail: Laut dem Brüsselbüro der Österreichischen Bundesarbeitskammer setzt der Entwurf stark auf die Perspektive von Bauwirtschaft, Financiers und Vermieter:innen. Fragen nach einem Recht auf Wohnen, nach leistbarem Wohnraum für die Allgemeinheit und nach einer Stadtentwicklung, die alle Bevölkerungsgruppen berücksichtigt, tauchen nur am Rande auf. Wie Spekulation und Leerstand verhindert werden können, bleibt ebenfalls offen.
„Es geht um die Zukunft Europas“, sagte von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Union. In den nächsten Wochen legt das EU-Parlament eine Änderungen an dem Berichtsentwurf vor, im Februar 2026 wird dann abgestimmt. Wie es dann mit dem europäischen Wohnbau weitergeht, wird sich zeigen.