100+ Tage Arbeitsminister Martin Kocher: Der Praktikant

Arbeitsminister Martin Kocher
Arbeitsminister Martin Kocher. | © Michael Mazohl
Foto (C) Michael Mazohl
Etwas mehr als 100 Tage ist Martin Kocher jetzt österreichischer Arbeitsminister. Er ist es, buchstäblich, vorsichtig angegangen. Das wird nicht reichen.
Etwas mehr als hundert Tage ist es her, dass Martin Kocher das Amt des Arbeitsministers von Christine Aschbacher übernommen hat. Spitze Zungen mögen sagen, auch seine akademischen Texte seien für laienhaften Leser*innen wohl nicht verständlich, aber die Gründe liegen in diesem Fall nicht an schlechten Übersetzungsprogrammen, sondern in seiner Rolle als ökonomische Fachperson.

Heute genau 108 Tage also – in denen der Arbeitsminister weder besonders gut noch besonders schlecht aufgefallen ist.

Das Arbeitslosengeld, im europäischen Vergleich ziemlich niedrig, ist immer noch nicht erhöht. Die befristete Erhöhung der Notstandshilfe, die der Arbeitsminister auslaufen lassen wollte, wurde nach einem heftigen, lauten Aufschrei dann doch verlängert.

Der türkise Machtklüngel brauchte nach Christine Aschbachers peinlichen Abgang ein Aushängeschild, für das man sich nicht genieren muss – und das ist eben Kocher.

Hört man sich im Kreise von Sozialpartnern und auch beim grünen Regierungspartner um, dann erhält man ein ziemlich einhelliges Bild: Mit Kocher könne man schon reden, er hat Sachverstand, ist ein geistreicher Diskussionspartner, aber letztendlich werden die Entscheidungen nicht von ihm getroffen. Die vorsichtig formulierte These: Der türkise Machtklüngel brauchte nach Christine Aschbachers peinlichen Abgang ein Aushängeschild, für das man sich nicht genieren muss – und das ist eben Kocher. Hundert Tage, die noch immer eher wie ein Praktikum wirken.

Keine Hausmacht und kanzlerhörig

Ob er sein Gewicht nicht unterschätze, durchaus prononcierter auftreten könnte? – Ja, das halten viele für möglich. Gewiss hat Kocher keine Regierungserfahrung und auch keine Hausmacht und kann daher leicht dem Schluss erliegen, dass es keine gute Idee wäre, sich mit dem Kanzler anzulegen. Aber als Fachmann mit Ansehen und Sachverstand könnte er vielleicht sogar mehr Druck machen als er glaubt. Hörte man ihn in manchem Interview, in dem ihm nicht einmal mehr vorsichtige Kritik an hartherzigen Abschiebungen und der türkisen Flüchtlingspolitik einfallen wollte, dann kann man ihn auch als ein wenig feige bezeichnen. Denn: Der Kanzler kann ihn ja nicht gleich – metaphorisch gesprochen – um einen Kopf kürzer machen, wenn er sich eine eigene Meinung erlaubt. Im Gegenteil: Mit etwas mehr Kampfgeist könnte Kocher seine Statur durchaus stärken. Aber dann müsste er auch mal klare Kante zeigen und nicht immer auf den höchsten türkisen Funktionär im Raum schielen.

Küchenkabinett mit Zaungast

Mag es den Türkisen primär um die Macht und ihre Posten gehen, so sind sie doch von harten, ideologischen Glaubensweisheiten geprägt, und das trifft insbesondere das Politikfeld des Arbeitsministers. Im simplen neoliberalen Weltbild von Kurz und Co. ist Arbeitsmarktpolitik vor allem großzügige Wirtschaftsförderung für die Unternehmen, während man mit Unterstützung für Arbeitnehmer*innen und Erwerbsarbeitslose vorsichtig sein müsse. Gebe man letzteren falsche Anreize, werden sie faul. Ein höheres Arbeitslosengeld, ein sicheres soziales Netz – das trage nur dazu bei, dass sich Menschen nicht anstrengen würden, einen Job zu finden. So simpel wird das letztlich gedacht im Küchenkabinett des Kanzlers – und in dem ist der Arbeitsminister allenfalls Zaungast.

Im simplen neoliberalen Weltbild von Kurz und Co. ist Arbeitsmarktpolitik vor allem großzügige Wirtschaftsförderung für die Unternehmen, während man mit Unterstützung für Arbeitnehmer*innen und Erwerbsarbeitslose vorsichtig sein müsse. Gebe man letzteren falsche Anreize, werden sie faul.

500.000 Menschen will die Regierung wieder in Arbeit bringen, wurde zuletzt großspurig verkündet. Aber das ist natürlich wieder eine dieser Schlagzeilen- und Schmähtandlergeschichten, die schon zur Gewohnheit geworden sind. 486.000 Menschen waren zuletzt in Kurzarbeit, und wenn ein Großteil dieser Beschäftigten wieder in den Normalbetrieb zurück gekehrt sein wird, ist dieses „Ziel“ schon fast erreicht. Nur: Diese Leute haben ja einen Job. Diese Jobs zu erhalten war ja der Sinn der Kurzarbeit.

Immerhin soll ein Programm aufgelegt werden, das insbesondere Langzeitarbeitslose wieder eine Chance geben soll – also jenen knapp 180.000 Menschen, die länger als ein Jahr erwerbsarbeitslos sind. Neben Arbeitsstiftungen und anderen Maßnahmen soll vor allem ein Hebel wirken: Unternehmen, die Langzeitarbeitslose einstellen, sollen einen Teil des Lohnes von der öffentlichen Hand bekommen. Das ist zweifellos auch ein wirksames Instrument. Aber weit von einer Konzeption wie der Aktion 20.000 entfernt, die öffentlich geförderte Jobs im gemeinwirtschaftlichen Bereich schuf, bei Vereinen oder in Gemeinden, und die als Sprungbrett gerade jenen half, die am „normalen“ Arbeitsmarkt kaum mehr eine Chance bekamen. Auch hier sieht man das „Ideologische“ an der Konzeption: Nur Jobs in der Privatwirtschaft sind „gut“, Jobs im öffentlichen Sektor „schlecht“.

Kocher selbst ist ein Pragmatiker mit leichter neoliberaler Schlagseite, aber die soll man in dieser Zeit auch nicht übertreiben. Denn die gesamte akademische Ökonomie ist in den vergangenen zehn Jahren leise nach „links“ gerückt, jedenfalls verglichen mit den Jahren davor, in denen die doktrinäre neoliberale Phantasieökonomie regierte, nach der alles, was Unternehmen entfessle, gut , jede staatliche Intervention ins Wirtschaftsgeschehen dagegen von übel sei.

Kocher ist Verhaltensökonom, und entgegen landläufiger Meinung erforscht die Verhaltensökonomie eben nicht primär, wie Menschen – reduziert zur Karikatur des „Homo Oeconomicus“ – auf materielle Anreize zwecks Nutzenmaximierung reagieren.

Kocher ist Verhaltensökonom, und entgegen landläufiger Meinung erforscht die Verhaltensökonomie eben nicht primär, wie Menschen – reduziert zur Karikatur des „Homo Oeconomicus“ – auf materielle Anreize zwecks Nutzenmaximierung reagieren. Die Verhaltensökonomie hat ja auch herausgefunden, dass der Herdentrieb auf Märkten (Keynes berühmte „Animal Spirits“) negative Auswirkungen haben kann und dass Menschen sich oft unegoistisch verhalten, sofern sie das Gefühl haben, dass es gerecht zugeht – aber solidarisches Verhalten sofort einstellen, wenn sie glauben, dass sie die Dummen seien, während sich alle anderen Vorteile auf Kosten anderer verschaffen. Kurzum: Die Verhaltensökonomie erforscht die vielen kleinen Irrationalitäten mit ihren großen Auswirkungen und die emotionalen Impulse, die unseren (Lebens-)Entscheidungen voraus gehen.

Zu wenig, zu spät

Gemessen an den Aufgaben der Stunde besteht aber zu großem Optimismus wenig Anlass: In der Post-Covid-Ära sind massive Konjunkturprogramme nötig, aber auch der Aufbau und eine Stabilisierung der Gesellschaft von unten her. Rund 1,5 Millionen Menschen haben massiv verloren – Arbeitslose, Beschäftigte in Kurzarbeit, kleine Unternehmen, EPUs, Künstler*innen etc. Die Ohne kraftvolle Maßnahmen wird die Erwebsarbeitslosigkeit hoch bleiben und die Konsumnachfrage sich nur langsam erholen. Beschränkt von türkisen Ideologiephrasen, ohne großen Mut und in der Schwächeposition des Fachministers ohne Hausmacht ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass alles, was Arbeitsminister Martin Kocher auf den Weg bringt, zu wenig ist, zu spät kommt nicht jene Wirkung haben wird, die jetzt notwendig wäre.

Diese triste These ist jedenfalls auch nach hundert Tagen nicht zerstreut.

Über den/die Autor:in

Robert Misik

Robert Misik ist Journalist, Ausstellungsmacher und Buchautor. Jüngste Buchveröffentlichung: "Die falschen Freunde der einfachen Leute" (Suhrkamp-Verlag, 2020). Er kuratierte die Ausstellung "Arbeit ist unsichtbar" am Museum Arbeitswelt in Steyr. Für seine publizistische Tätigkeit ist er mit dem Staatspreis für Kulturpublizistik ausgezeichnet, 2019 erhielt er den Preis für Wirtschaftspublizistik der John Maynard Keynes Gesellschaft.

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