Long COVID: Nicht mehr positiv, aber arbeitsunfähig

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Zehn Prozent aller COVID-19-Erkrankten haben mit schweren Spätfolgen zu kämpfen. Das sind allein in Österreich 60.000 Menschen. Betroffene beklagen zudem Ärger mit Behörden und Arbeitgebern.

„Ich hatte gerade angefangen mich umzuorientieren und eine Ausbildung zur Personalverrechnerin und Mediatorin begonnen, als Long COVID kam und ich beides stilllegen musste“, erzählt Yvonne Anreitter, als wäre es ein normales Alltagserlebnis. Zuerst dachte sie, sie könne die Ausbildung einfach verschieben, aber das stellte sich als Irrtum heraus: „Die Erkrankung war langwierig. Ich habe fünf Wochen gebraucht, bis ich wieder einsteigen konnte. Nach zwei Wochen zeigte sich, dass das einfach unmöglich ist und ich noch gar nicht arbeitsfähig bin, weil die Long-COVID-Symptome so stark geworden sind.“ Die Symptome, die sie beklagt: „Sehstörungen, Kopfschmerzen und Konzentrationsstörungen – und auch dass ich mir verdammt noch mal nichts merke“, so Anreitter.

Nicht bei allen Betroffenen durchkreuzt Long COVID auf diese Weise die Lebenspläne. Christina Längauer (Name von der Redaktion geändert) hatte vor sechs Monaten ebenfalls COVID-19, und auch sie kämpft noch immer mit Spätfolgen wie Organschäden an Lunge, Darm und Leber. „Mir fehlt mental und physisch die Lebensenergie, die ich vor der Erkrankung hatte“, erzählt Längauer. Die Lungenleistung reiche nicht für vormals normalen Sport, während sie schnell übermüdet, niedergeschlagen ist und längere Regeneration benötigt als zuvor.

Mir fehlt mental und physisch die Lebensenergie, die ich vor der Erkrankung hatte.

Christina Längauer, Long-COVID-Erkrankte

Auf ihre berufliche Situation habe sich das „glimpflich, aber doch“ ausgewirkt. Zunächst war der Krankenstand länger als geplant, es folgten ein abzuarbeitender Rückstau rund um Weihnachten und Neujahr sowie Probleme beim Reden in Meetings durch die starke Kurzatmigkeit zu Beginn. Zudem beklagt sie ebenfalls Konzentrationsprobleme, die mitunter den Alltag schwer machen: „Ich erlebe den üblichen Arbeitsalltag als viel belastender als davor, nach acht Stunden bin ich komplett erschöpft und verbringe die Abende liegend“, so Längauer.

Maarte Preller, Leiterin der Patient*inneninitiative Long COVID Austria, kennt viele solcher Geschichten. Sie kämpft mit ihrem Team um Anerkennung und Lösungen für Betroffene. Sie erkrankte letztes Jahr selbst und wurde nach sechs Monaten Krankenstand gekündigt. Nach zusätzlichen Kämpfen mit Behörden hat sie sich dazu entschlossen, sich mit anderen Betroffenen zusammenzutun und eine Patient*inneninitiative zu gründen.

Long COVID ist (meist) weiblich

Christina, Maarte, Yvonne. Long COVID ist meist weiblich. Woran das liegt, ist noch unklar. Long COVID ist eine Sammelbezeichnung für alle Spätfolgen nach einer Corona-Infektion.

„Long COVID ist schlecht definiert, letztendlich eigentlich nur nach der Dauer der Symptome. Alles, was nach vier bis zwölf Wochen noch da ist, ist Long COVID“, erklärt Michael Stingl, Neurologe in Wien. „Da fallen natürlich auch Menschen mit Organschäden, nach Intensivaufenthalt oder mit psychiatrischen Problemen hinein, die eine ganz andere Behandlung brauchen.“

Long COVID ist schlecht definiert, letztendlich eigentlich nur nach der Dauer der Symptome. Alles, was nach vier bis zwölf Wochen noch da ist, ist Long COVID.

Michael Stingl, Neurologe

Schwere Verläufe führen mitunter zu Thrombosen und Vernarbungen in der Lunge, lange Bettlägerigkeit zu Muskelschwund. Eine schwache Sauerstoffversorgung bringt den Körper in Stress und hinterlässt Spuren, gerade im Gehirn. Dieses ist besonders empfindlich auf Sauerstoffmangel: Zuerst sterben Synapsen, dann Neuronen. Gut beobachtet hat man diesen Verlust im Hippocampus, einer der am besten untersuchten Hirnregionen. Wissenschafter*innen verbinden diese Region, die aussieht wie ein Seepferdchen, mit Ortskenntnis sowie der Überführung von Informationen vom Kurz- ins Langzeitgedächtnis.

Long COVID, eine postvirale Fatigue

Wenn Michael Stingl aber von Long COVID spricht, meint er etwas anderes: „Long COVID ist letztendlich nicht anders als viele andere Formen postviraler Fatigue, also Erschöpfungszuständen, die nach viralen Infekten auftreten können.“ Dabei gibt es große Ähnlichkeiten zum Chronischen Erschöpfungssyndrom, kurz ME/CFS (nach der englischen Bezeichnung Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome): „Sowohl bei Long COVID als auch bei ME/CFS findet sich eine deutliche körperliche Erschöpfbarkeit, die sogenannte Post-Exertional Malaise, also eine Verschlechterung des Zustandes nach Überanstrengung. Weiters sind nicht erholsamer Schlaf, kognitive Probleme, wie schlechte Konzentration, Benommenheit oder verstärkte Ermüdbarkeit, sowie Schmerzen, Probleme mit der Verdauung und insbesondere Kreislaufprobleme häufig“, zählt Stingl auf. Diese Kreislaufprobleme äußern sich oft in Form eines anderen Syndroms namens POTS (Postural Orthostatic Tachycardia Syndrome), das sogar die Notwendigkeit eines Rollstuhls bedeuten kann. Kurz gefasst, handelt es sich hierbei um eine Störung der Blutzirkulation, deren Fehlfunktion im autonomen Nervensystem verortet wird. Dieses ist der Teil vom Nervensystem, der nicht willentlich steuerbar ist und für lebensnotwendige Vorgänge wie Verdauung, Blutdruck und Schweißausschüttung zuständig ist.

Ähnlich benennt Bhupesh Prusty, Virologe an der Universität Würzburg, die Parallelen zwischen Long COVID und ME/CFS: „Es stellt sich daher die Frage, ob wir es bei Long COVID und ME/CFS überhaupt mit verschiedenen Dingen zu tun haben.“ Dafür spricht seiner Meinung nach auch, dass nur zehn Prozent aller an COVID-19 Erkrankten später Long COVID entwickeln und hier gerade asymptomatische und mild erkrankte Betroffene mit Spätfolgen zu kämpfen haben – nicht nur schwer erkrankte. „Wenn nur SARS-CoV-2 der Auslöser wäre, würden wir erwarten, dass alle Patient*innen Long COVID entwickeln, besonders jene, die schwer getroffen waren.“ Er vergleicht daher Proben von ME/CFS- und Long-COVID-Patient*innen, um zu sehen, ob hinter dem klinischen Bild ähnliche physiologische Prozesse liegen.

Schlafende Hunde soll man nicht wecken

Bhupesh Prusty beschäftigt sich normalerweise mit Herpesviren. Dabei konnten er und sein Team einen möglichen Mechanismus zur Entstehung von ME/CFS aufzeigen, der auch für Long COVID eine Rolle spielen könnte: So kann eine virale Infektion den „schlafenden“ latenten Humanen Herpesvirus 6 im Gehirn wecken, der wiederum eine Kette an Entzündungs- und Immunabwehrreaktionen anstößt und zur Erkrankung führt. „Dasselbe sehen wir bei anderen Viren wie dem Epstein-Barr- oder dem Varizella-Zoster-Virus, die latent im Körper vorkommen und bei Stress reaktiviert werden“, so Prusty. „Entscheidend ist nicht das Virus selbst, sondern die Prozesse, die es im Körper anstößt.“

Entscheidend ist nicht das Virus selbst, sondern die Prozesse, die es im Körper anstößt.

Bhupesh Prusty, Virologe Universität Würzburg

Welche genauen Prozesse das sind, wird derzeit noch mit Blutproben betroffener Patient*innen untersucht. Besonderes Augenmerk haben aber jedenfalls die Mitochondrien, die „Kraftwerke“ der Zelle. Sie sind auch in der antiviralen Abwehr beteiligt. Werden diese von Viren geschädigt, erhält die Zelle nicht mehr genug Energie, Synapsen und Neuronen sterben ab.

Francisco Westermeier, ein Biochemiker an der FH Joanneum, der sich auf die Endothelfunktion spezialisiert hat, unterstützt die These, dass Pathogene wie reaktivierte Viren am Ursprung von ME/CFS stehen, ebenfalls. „Wir müssen im Gedächtnis behalten, dass der Großteil der ME/CFS-Patient*innen zuvor eine virale Infektion hatte“, so Westermeier. Die Tatsache, dass Betroffene von Long COVID und ME/CFS nach sechs Monaten immer noch mit extremer Fatigue und POTS zu kämpfen haben, lege ebenfalls nahe, dass das Herz-Kreislauf-System stark beteiligt ist. „Wir sind auf der Suche nach mehr Puzzleteilen, um die Krankheit besser zu verstehen und Patient*innen besser zu diagnostizieren“, so Westermeier. Letzte Woche sei hierzu auch eine Studie mit möglichen Biomarkern publiziert worden, die an der Endothelfunktion beteiligt sind.

Wir sind auf der Suche nach mehr Puzzleteilen, um die Krankheit besser zu verstehen und Patient*innen besser zu diagnostizieren.

Francisco Westermeier, Biochemiker FH Joanneum

Zu allem Übel noch Ärger mit Behörden

Long COVID kann jeden treffen. „Wir finden derzeit auch immer mehr Leute, die symptomlos waren und nun an Long COVID erkranken – was natürlich schlimm ist, wenn man gar nicht mal wusste, dass man COVID hatte“, erklärt Anreitter. Als wäre Long COVID nicht schon genug, berichten Betroffene aber auch von Stress mit Arbeitgebern und Behörden. Yvonne Anreitter erzählt davon, wie plötzlich beim Arzt ihre e-card nicht mehr funktionierte. Es stellte sich heraus: Sie wurde von der ÖGK abgeschrieben. Sie war nicht länger krankgemeldet und verlor ihren Versicherungsschutz. Glücklicherweise konnte das Problem schnell geklärt werden. „Stress ist aber das Letzte, das Long-COVID-Betroffene brauchen, zumal nicht alle das Glück haben, dass die ÖGK ums Eck ist“, so Anreitter, „es mangelt außerdem an adäquaten Wartemöglichkeiten, schließlich ist längeres Warten im Stehen mit POTS unmöglich.“

Stress ist das Letzte, das Long-COVID- Betroffene brauchen.

Yvonne Anreitter

Maarte Preller kann von ähnlichen Geschichten erzählen. Ihr seien in ihrem Verein allein 15 Fälle bekannt. „Von November bis Mitte Februar hat die ÖGK mich jede dritte Woche versucht gesund zu schreiben, aber jedes Mal mit neuen Anforderungen: Ich brauche eine Diagnose, eine Behandlung, meine Behandlung sei nicht effektiv, ich brauche eine abschätzbare Krankheitsdauer und so weiter“, so Preller. Letztendlich wurde ihr gesagt, sie sei „chronisch krank wie eine Diabetikerin“, weshalb sie nicht in den Krankenstand gehöre. So wurde sie gegen Protest gesundgeschrieben und ist seit Anfang März beim AMS als arbeitssuchend gemeldet.

Bei einer Auskunft bei den neun Patient*innenanwaltschaften berichtete nur die Patient*innenanwaltschaft Wien von einem Fall, „von einer Häufung sei daher nicht zu sprechen“. Wobei sich viele Patient*innenanwaltschaften für Angelegenheiten mit der ÖGK nicht zuständig fühlen. Die Volksanwaltschaft erhielt ebenfalls eine Handvoll Fälle und versucht hier beim Kontakt mit Behörden zu vermitteln.

Monika Weißensteiner, Sozialversicherungsexpertin bei der AK Wien, kennt solche Fälle auch von anderen Krankheiten. Sie rät Betroffenen, sich noch einmal schriftlich – am besten mit medizinischem Nachweis – mit der ÖGK in Verbindung zu setzen. „Sollte das erfolglos sein, kann man immer noch einen schriftlichen Bescheid von der ÖGK verlangen und als Betroffene*r dagegen Klage einreichen, sollte die Abschreibung nicht nach interner Prüfung in der ÖGK fallen“, so Weißensteiner.

Arbeitnehmer*innen dürfen im Krankenstand nicht benachteiligt werden

„Prinzipiell handelt es sich bei Long COVID um einen normalen Krankenstand. „Arbeitsrechtlich bedeutet das, dass Sie unverzüglich dem Arbeitgeber die Arbeitsverhinderung mitteilen müssen und sich vom Arzt krankschreiben lassen müssen, da dieser eine Krankenstandsbestätigung verlangen darf“, erläutert Martina Chlestil, Arbeitsrechtsexpertin der Arbeiterkammer. „Während des Krankenstands muss von Arbeitgeberseite das Entgelt in voller Höhe weiterbezahlt werden, später zur Hälfte.“ Die andere Hälfte wird als Kassenleistung von der ÖGK gezahlt, was jedoch beantragt werden muss.

Während des Krankenstands muss von Arbeitgeberseite das Entgelt in voller Höhe weiterbezahlt werden, später zur Hälfte.

Martina Chlestil, AK Wien

Solange Arbeitnehmer*innen krankgeschrieben sind, können und dürfen Arbeitgeber laut Chlestil nicht verlangen, dass Urlaub oder Überstunden genommen werden. Hier müssen also Betroffene aufpassen, wenn die Krankschreibung ausläuft.

„Wichtig sei auch, dass Arbeitnehmer*innen im Krankenstand nicht benachteiligt werden. Wenn eine Krankheit länger als sechs Monate andauert, könne man von einer Behinderung im Sinne des Behindertengleichstellungsgesetzes sprechen, aufgrund dessen man nicht diskriminiert werden darf.“ Für einen möglichen Wiedereinstieg in die Arbeit rät Chlestil, um Wiedereingliederungsteilzeit anzusuchen. „Leider haben Arbeitnehmer*innen hier einseitig keinen Anspruch, das muss mit dem Arbeitgeber vereinbart werden“, so Chlestil.

ÖGK-Obmann Huss verspricht Besserung für Betroffene

Long COVID ist natürlich auch bei der ÖGK vermehrt ein Thema. Der Verwaltungsrat hat hierzu kürzlich ein neues Maßnahmenpaket beschlossen. „Wir wollen lokale Anlaufstellen schaffen, um über die Krankheit und Behandlungsmöglichkeiten zu informieren“, erklärt ÖGK-Obmann und Gewerkschafter Andreas Huss, „damit wollen wir die Lücke zwischen Hausarzt und Spezialisten füllen.“

Außerdem sollen Reha-Möglichkeiten ausgebaut werden, die zudem über sanfte Regenerationszentren zur medizinisch und psychologisch begleiteten Erholung ergänzt werden sollen. „Das Ziel ist natürlich, dass Patient*innen richtig behandelt werden“, so Huss. Das könne beispielsweise über – idealerweise multidisziplinär aufgestellte – Ambulanzen gehen. In Diskussion steht außerdem, das Krankengeld zu verlängern, dafür bräuchte es aber noch weitere Daten, und auch die Wirtschaftsseite muss überzeugt werden. Eines ist klar: Die ÖGK-Stellen müssen sensibilisiert werden, damit Betroffene weniger gestresst werden. Für Huss spielt dabei auch die Wiedereingliederungszeit eine wichtige Rolle, die er forcieren möchte –  solange Arbeitnehmer*innen einverstanden sind.

Über den/die Autor:in

Felix Schmidtner

Felix Schmidtner ist freier Journalist und hat bisher für das bioskop, dem Magazin der Austrian Biologist Association, progress (Zeitschrift der ÖH Bundesvertretung) und Unique (Zeitschrift der ÖH Uni Wien, heute: Zeitgenossin) geschrieben. Wenn er keine Texte schreibt, beschäftigt er sich mit den molekularen Grundlagen psychischer Erkrankungen im Masterstudium der Molekularen Biologie.

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