Lehrlinge: Stimmungskiller Pandemie

Die Pandemie geht an den Lehrlingen nicht spurlos vorüber. „Ich kenne viele, die im Lauf der Zeit die Motivation verloren und aufgegeben haben“, sagt Valentina Burisic.
(C) Markus Zahradnik
Die Pandemie stellt Lehrlinge und Ausbilder:innen vor Herausforderungen. Zum schwierigen Lernalltag gesellen sich Zukunftsängste. Und es wird noch deutlicher, wo es bereits vor Pandemiebeginn schon Probleme gab. Wir haben uns bei Betroffenen umgehört.
Zu Beginn ein Experiment: Nehmen Sie einen Suppenteller. Füllen Sie ihn mit Wasser. Legen Sie den Teller auf Ihren Unterarm und gehen Sie nun mit dem Teller in ihrer Wohnung spazieren. Wie viel Wasser schwappt über? Wenn Sie möchten, können Sie auch versuchen, zwei Teller auf einem Arm zu balancieren oder zwei Teller auf einem Arm und einen Teller auf dem anderen. Aber passen Sie auf, dass Ihnen nichts herunterfällt.

Obige Übung muss beherrschen, wer als Restaurantfachkraft arbeiten möchte. Es handelt sich um eine Serviertechnik, die als Unter- und Obergriff bezeichnet wird. Das Servieren von Speisen und Getränken gehört zum Berufsbild, das Eindecken der Tische, aber auch das Ausstellen von Rechnungen, die Abrechnung der Tagesumsätze und die Kontrolle der Lagerbestände. Es handelt sich hier um einen fordernden Beruf mit einer Lehrzeit von drei Jahren.

Valentina Burisic ist im dritten Lehrjahr. Im Februar will die junge Frau ihren Abschluss machen. Der Weg dorthin war kein Automatismus. Das AMS schlug ihr zunächst eine Karriere im Verkauf vor. „Doch das wollte ich nicht, wegen meiner Rückenprobleme“, so Burisic. Und so landete sie schließlich im Lehrbetrieb ZOBA des Vereins „Jugend am Werk“ in der Rasumofskygasse in Wien. „Jugend am Werk“ bietet überbetriebliche Lehrausbildungsprogramme für Menschen, die eine Zuweisung vom AMS erhalten haben. Hier gibt es die Möglichkeit, einen Beruf zu erlernen, auch wenn man keine Lehrstelle bei einem Unternehmen gefunden hat. „In meiner Familie gilt der Beruf der Restaurantfachkraft nicht als richtiger Beruf, vor allem nicht für eine Frau. Hier habe ich gelernt, wie viel da eigentlich dazugehört. Es ist eben nicht damit vergleichbar, daheim den Esstisch abzuräumen“, sagt Burisic.

Am Anfang, so viel sei gesagt, tat sie sich mit Ober- und Unterarmgriff schwer. Viel Wasser schwappte über, und „es machte mir anfangs nicht so viel Spaß“. Doch das änderte sich schnell: „Vor allem das Kommunizieren mit den Gästen hat mir dann immer mehr Spaß gemacht. Es ist schön, den Menschen ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern.“

Home-Schooling kann eine echte Ausbildungsküche nur schwer ersetzen. „Wir haben teilweise zu Hause gekocht, und das dann mit dem Handy aufgenommen“, erzählt Ina Kohl.

Deutliche Grenzen

Die vergangenen zwei Jahre waren für Valentina Burisic ein Ausnahmezustand, ebenso wie für Ina Kohl, die im ZOBA gerade das zweite Lehrjahr als Köchin absolviert. „Eigentlich wollte ich Konditorin lernen, es gab aber keine freien Lehrplätze. Deshalb mache ich jetzt diesen Lehrabschluss und hänge die Konditor:innenausbildung hinten dran.“ Während Burisic immerhin ein Lehrjahr im Normalzustand erlebt hat, gehört Kohl zu einer Generation, die ihre gesamte Lehre bislang unter COVID-19-Bedingungen absolvieren musste: „Wir hatten teilweise Distance-Learning. Da haben wir zu Hause Gerichte gekocht und dann ein Foto davon gepostet.“

Auch Richard Tiefenbacher, Vorsitzender der Österreichischen Gewerkschaftsjugend (ÖGJ), kann ein Lied von COVID-19 singen, einer Krise, die viele bestehende Probleme im österreichischen Ausbildungswesen verschärft hat. Im Hinblick auf die Erfahrungen von Ina Kohl und ihren Kolleg:innen sagt er: „Distance-Learning ist natürlich eine gute Geschichte, solange es kein Handwerksberuf ist. Daheim in der Wohnung kann ich aber keine Mauer hochziehen oder einen Tisch aufbauen. Dann ist Mama böse, und ich muss mir eine neue Wohnung suchen.“

Allgemein ist Tiefenbachers Fazit nach zwei Jahren Pandemie: „Lehrlinge werden im Vergleich zu Schüler:innen an den Gymnasien wie Menschen zweiter Klasse behandelt. Für die Berufsschulen gilt das auch.“ Die Organisation der Lehre in einem dualen System mit beruflichen und schulischen Ausbildungsaspekten gibt es in dieser Form außer in Deutschland fast nur in Österreich. Ihre Wurzeln liegen im handwerklichen Zunftsystem des Mittelalters. Heute soll die Lehre dabei helfen, Qualitätsstandards zu sichern und neue Generationen von Fachkräften auszubilden. „Doch die meisten Berufsschulen sind noch in den achtziger Jahren stecken geblieben“, so Tiefenbacher. „Das modernste Equipment besteht vielerorts aus Over-head-Projektoren. Von den Decken bröckelt der Verputz ab. Man kann froh sein, keine Wunden am Kopf davonzutragen.“ Weil Berufsschulen im Gegensatz zu anderen Schulen kaum mit Laptops ausgestattet wurden, demonstrierte die Österreichische Gewerkschaftsjugend schließlich gemeinsam mit anderen Organisationen vor dem Bundeskanzleramt. „Die Lehrer:innen dort wurden völlig allein gelassen.“ Es gibt auch kein österreichisches Hygienekonzept.

Missstände

Corona hat viele Baustellen verschärft, die schon lange vorhanden sind. Der aktuelle, im Oktober 2021 vom Österreichischen Institut für Berufsbildungsforschung gemeinsam mit ÖGB und AK herausgegebene Lehrlingsmonitor listet weitere auf. Dabei handelt es sich um eine zweimal jährlich durchgeführte Umfrage unter rund 6.000 Lehrlingen, 2.000 davon aus dem ersten Lehrjahr. Der Monitor erfasst allerdings nur den betrieblichen Teil der Lehre, überbetriebliche Ausbildungsformen wie etwa „Jugend am Werk“ werden nicht erfasst. Somit gibt der Lehrlingsmonitor vor allem einen Überblick darüber, wie Betriebe an die Lehrausbildung herangehen und wie zufrieden die Lehrlinge mit ihrer Ausbildung dort sind.

Die Ausbilder Franz Haider und Gilbert Kure geben ihr Bestes, ihre Lehrlinge durch die Pandemie zu bringen. Sie sagen: „Es war nicht immer leicht.“

Und so zeigt sich: „Immerhin 79 Prozent sind zufrieden mit ihrer Ausbildung“, sagt Tiefenbacher. „Das ist cool, ist aber kein Spitzenwert.“ So werden 18 Prozent der Lehrlinge häufig zu ausbildungsfremden Tätigkeiten herangezogen. Nur 51 Prozent machen ausschließlich ausbildungsbezogene Tätigkeiten. 29 Prozent leisten regelmäßig Überstunden, und das nicht immer freiwillig. 19 Prozent haben zum Zeitpunkt der Befragung COVID-bedingte Kurzarbeit erlebt. Von diesen gaben immerhin 45 Prozent an, dennoch vollständig ausgebildet worden zu sein. Aber bei 19 Prozent sieht die Sache anders aus, sie wurden nicht fertig ausgebildet. Daraus ergibt sich, dass es eine Schicht von Lehrlingen im zweistelligen Prozentbereich gibt, die während der Pandemie schlechter ausgebildet wurde, als es vor der Pandemie der Fall gewesen wäre.

Psychische Belastungen sind in Österreich
immer noch ein großes Tabuthema.

Richard Tiefenbacher, Vorsitzender der ÖGJ

Auch an den Ausbilder:innen ist die Pandemie nicht spurlos vorbeigegangen. „Wir mussten viel improvisieren“, erzählt Franz Haider, Ausbilder für Köche bei „Jugend am Werk“. „Viele Praktikumsplätze sind aufgrund der Lockdowns plötzlich zurückgezogen worden. Es gibt viele Betriebe, die um ihr Überleben kämpfen.“ Und sein Kollege Gilbert Kure, der Restaurantfachkräfte ausbildet, pflichtet bei: „Vor Corona war alles befreiter und lebendiger. Mit Corona kamen Angst und Unsicherheit. Man konnte viel weniger machen, zum Beispiel gab es kaum noch Exkursionen. Ich gehe mit den Lehrlingen zum Beispiel gerne ins Kaffeemuseum, um ihnen ein Gefühl für die Rohstoffe zu geben, mit denen sie arbeiten. Das war die letzten Jahre so nicht mehr möglich.“

Pandemie als Depressionstreiber

Auch für Valentina Burisic hat COVID-19 Belastungen gebracht. „Wie sollst du zu Hause lernen, wenn du aus einer großen Familie in einer Drei-Zimmer-Wohnung kommst und vielleicht nebenbei auf deine Geschwister aufpassen musst?“, fragt sie. Und das von ihr so geschätzte kommunikative Element sei fast vollständig verloren gegangen. „Ich weiß ja noch, wie es vorher war. Wir haben im ZOBA Events organisiert, Cocktails gemixt und diese anschließend serviert. Jetzt sind wir nur noch in unserer kleinen Gruppe. Das ist nicht dasselbe. Es ist viel isolierter. Das hat viele von uns echt belastet, und manche haben ihre Lehre deswegen aufgegeben.“ Auch Ungerechtigkeiten habe es gegeben: „Weil wir in der überbetrieblichen Lehre sind, haben wir keinen Corona-Bonus bekommen. Dabei haben wir doch auch die ganze Zeit gearbeitet. Das finde ich unfair.“

Den Lehrlingen sei es in der COVID-Krise „echt schlecht gegangen“, bestätigt auch Richard Tiefenbacher. Er stützt sich dabei auf die Ergebnisse einer im Auftrag der Gewerkschaftsjugend gemeinsam von der MedUni Wien und der Donau-Universität Krems durchgeführten Umfrage unter 1.442 Lehrlingen, wonach die Hälfte der Befragten an Depressionen und Essstörungen leidet. In konkreten Zahlen ausgedrückt, berichten 48,3 Prozent der Befragten von Depressionen, 35,4 Prozent haben Angstzustände erlebt, 50,6 Prozent leiden unter Essstörungen und 27 Prozent unter Schlafstörungen. „Psychische Belastungen sind in Österreich immer noch ein großes Tabuthema“, so Tiefenbacher. „Oft haben Ausbilder:innen dafür auch kein Gespür und sagen dann so Sachen wie: Werd du erst einmal so alt wie ich, dann weißt du, was eine Belastung ist.“

Gerade im Hinblick auf die Auswirkungen der Pandemie brauche es in der Lehre neben materiellen Verbesserungen wie einer Aufstockung des Lehrlingsgehalts auch einen Aufbau psychosozialer Unterstützung durch ausgebildete Fachkräfte an den Hochschulen. Damit die Corona-Jugend nicht mit ihren Sorgen im Regen stehen bleibt.

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