Lehre in Österreich: Rückblick, Augenblick, Ausblick

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In Österreich gibt es immer weniger Lehrlinge. Die Zahl der Ausbildungsbetriebe nimmt ab. Für Politik und Wirtschaft ist die Jugend schuld.

Die Lehrlinge von heute sind die Fachkräfte von morgen. Es werden nur immer weniger ausgebildet. Die Zahl der Lehrlinge geht zurück, genau wie die Zahl der Ausbildungsplätze – und die Mittel für überbetriebliche Ausbildung werden reduziert. Ein Blick auf die wichtigsten Zahlen, Daten und Fakten zur Lehrausbildung.

Auf und ab der Jugendarbeitslosigkeit

Die Jugendarbeitslosigkeit lag 2016 in Österreich laut Eurostat bei 11,2 Prozent. 46.701 Menschen zwischen 15 und 24 Jahren waren ohne Job. Das schlägt sogar die Werte der Finanzkrise: Damals lag die Quote bei 8,5 Prozent, 34.069 junge Leute hatten keine Arbeit. 2009, ein Jahr später, sprang sie auf 10,7 Prozent und 42.908 Jugendliche. Zwischen 2015 und 2017 entspannte sich die Situation deutlich, das AMS verzeichnete nur noch 37.756 Arbeitslose unter 25. Das sind gut 9.000 Personen weniger. Der Trend zeigt aber seit 2002 nach oben, gerade seit dem Crash. Es soll also nicht überraschen, wenn die Zahlen wieder ansteigen.

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Immer wieder Krise

Da Statistiken Jugendarbeitslosigkeit meist ab dem 15. Geburtstag messen, lohnt auch ein Blick auf alle 15-Jährigen. Laut AMS stieg zwischen 2002 und 2007 ihre Zahl von 93.927 auf 100.396, um bis 2017 auf 85.824 abzufallen. Die Anzahl der Lehrlinge schwankte noch dramatischer: 2008 wurde noch ein Hoch von 131.880 verzeichnet. Das war der zweitbeste Wert seit 1990. Bis 2017 stürzte die Zahl auf 106.613 Auszubildende ab.

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Etwa zur gleichen Zeit gingen die Lehrbetriebe deutlich zurück. 2006 gab es laut Lehrlingsstatistik der Wirtschaftskammer (WKO) noch 37.783 ausbildende Unternehmen in Österreich. 2016 waren es nur mehr 28.204. Das sind 9.579 Firmen bzw. ein Viertel weniger. Daher zeigen alle Trends hier nach unten.

Aus Sicht von WKO und Industriellenvereinigung (IV) liegt der Rückgang am Arbeitskräfteangebot: Der drohende und künftige Fachkräftemangel könne mit den vorhandenen Jugendlichen einfach nicht gedeckt werden. Für die Arbeitgeber sind sie zu wenige, unqualifiziert, undiszipliniert oder einfach nicht an einer Lehre interessiert.

Steigendes Interesse

Dabei scheint rein rechnerisch das Gegenteil der Fall zu sein: Immer mehr Menschen suchen eine Lehrstelle. Insgesamt zeigt der Trend bereits seit 2002 nach oben: Damals gab es bundesweit 4.713 BewerberInnen auf 2.749 offene Lehrstellen. 2017 kamen 6.154 sofort verfügbare AnwärterInnen auf 4.650 Plätze.

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Das Interesse zeigt sich noch deutlicher bei der Überbetrieblichen Ausbildung (ÜBA). Wer keine Lehrstelle findet, kann eine ÜBA machen. In ihren Anfangstagen 2002 waren 1.186 Leute in Lehrgängen dieser Art gemeldet. Mit der Krise verdoppelte sich die Zahl fast: Drängten 2008 noch 3.647 Jugendliche in die ÜBA, zählte man 2009 bereits 7.420. 2012 gab es ein Hoch von 9.521, 2017 9.101. Auch hier weist der Trend nach oben.

ÜBA: Brücke zur Berufsausbildung

Die ÜBA ist derzeit in zwei Modelle geteilt. Beide werden von überbetrieblichen Ausbildungsstätten – wie dem BFI – angeboten. Sie verfolgen das Ziel, Jugendliche möglichst rasch an reguläre Betriebe zu vermitteln. Das Berufsförderungsinstitut (BFI) stellt nach eigenen Angaben österreichweit über 50 Prozent aller ÜBA-Plätze – und das seit Jahren.

Die ÜBA 1 bezeichnet Coachings für die Dauer von höchstens zwei Monaten. Sie sollen Jugendlichen einen realistischen Berufswunsch nahebringen. Auf dem Plan stehen etwa Bewerbungstrainings und mädchenspezifische Inhalte.

Die ÜBA 2 läuft bis zu einem Jahr. Die abgeleistete Zeit wird auf die Lehrzeit angerechnet. Bestandteile sind ein Praktikum, die Berufsschulvorbereitung und Betreuung durch den Bildungsträger. Die Träger sehen die ÜBA als Brücke zur Berufsausbildung.

Trotz des Andrangs ergab eine Umfrage für die Kampagne „zukunft.lehre.österreich“ (zlö), dass die Berufsausbildung im Vergleich zur Matura oder Uni einen schlechten Ruf hat.  zlö will das Image der Lehre aufpolieren. Dahinter stehen WKO und IV. Die Initiative schweigt sich darüber aus, woher der schlechte Ruf kommt. Das vermittelt den Eindruck, die Teens und Twens seien an ihrer Lage selbst schuld.

Schlechte Bedingungen

Dagegen sprechen nicht nur die gut 15.000 Jugendlichen, die jedes Jahr übers AMS eine Lehre suchen oder in der ÜBA landen. Vielmehr ist die Situation in vielen Lehrberufen alles andere als angenehm. Der Lehrlingsmonitor 2017/18 von AK und Gewerkschaftsjugend (ÖGJ) liefert dazu harte Fakten.

6.024 Lehrlinge zeichnen in der Online-Studie ein ernüchterndes Bild von der Ausbildung in Österreich. Zu den am schlechtesten bewerteten Berufen zählen unter anderem der Einzelhandel, FriseurIn, Restaurantfachmann/frau und TischlerIn.

Eine Auswahl der Ergebnisse: Obwohl 70 Prozent aller Lehrlinge Freude an der Arbeit haben, hat schon ein Fünftel einmal ernsthaft über den Lehrabbruch nachgedacht. Jede bzw. jeder vierte Befragte will nach dem Abschluss nicht im Betrieb bleiben, 31 Prozent wollen einen anderen Beruf ergreifen. 29 Prozent aller Befragten gaben an, häufig ausbildungsferne Tätigkeiten bei der Arbeit auszuführen. Magere 17 Prozent der Lehrbetriebe kooperieren mit der Berufsschule. Nur 58 Prozent der Lehrlinge fühlen sich mit Blick auf die Abschlussprüfung ausreichend von der Firma unterstützt.

In allen Branchen hat sich seit dem ersten Monitor von 2014/15 die Lage leicht verbessert. Allerdings leisten auch 36 Prozent aller befragten Minderjährigen Überstunden, mehr als ein Drittel von ihnen unfreiwillig. Das ist arbeitsrechtlich nicht erlaubt. Verschärfend kommt hinzu, dass es in 20 Prozent aller Ausbildungsbetriebe keine Zeitaufzeichnung gibt. Überstunden werden vor allem im Handel (21 Prozent der Handelslehrlinge), im Handwerk (26 Prozent) und im Tourismus (60 Prozent) geleistet.

Lehre: Chronik der vergangenen 20 Jahre
1998 BAG: Überbetriebliche Ausbildung (ÜBA)
2003 Integrative Berufsausbildung
2008 Berufsmatura | Finanzkrise
2009 Ausbildungsgarantie
2011 Arbeitsmarktöffnung
2012 Mangelberufe für AsylwerberInnen geöffnet
2014 Start Watchlist Praktikum (GPA-Jugend)
2015 1. Lehrlingsmonitor von AK und ÖGB | verschiedene Initiativen (Gewerkschaft, Kirchen, Wirtschaft, NGOs) zur Ausweitung der Lehre für Geflüchtete
2016 Rekordarbeitslosigkeit: 46.701 Jugendliche (11,2 %) ohne Job | Ausbildungspflicht bis 18
2018 ab 18: Kürzung der ÜBA-Entgelte um 50 %

Schlechte Stimmung

Dass der Handel laut Lehrlingsstatistik der WKO dennoch eine der Top-Ten-Ausbildungen seit 2002 bietet, überrascht nicht weiter. Bevor sie ganz ohne Job dastehen, werden viele Jugendliche den Handel zumindest ausprobieren, um sich abzusichern. Und Supermärkte wie Boutiquen scheinen ständig zu suchen. Wer hat schon Zeit, sich genau über die 190 Ausbildungsmöglichkeiten abseits der Top Ten zu informieren? Im ersten Augenblick wirkt Bekanntes besser als Arbeitslosigkeit.

2015 führte die Uni Linz eine Studie zur psychischen Gesundheit in Österreich durch. Das Hauptaugenmerk lag auf dem Zusammenhang von Jugendarbeitslosigkeit und Seelenleben. Bei Jungen aus ärmeren Haushalten stellten die ForscherInnen eine deutlich schlechtere Verfassung fest als bei Jungen aus höheren sozialen Schichten.

Während nur 2,7 Prozent der arbeitenden wie lernenden Jugend psychisch krank sind, kommen Nicht-arbeitende auf 20,5 Prozent. Bei manchen werden Vorerkrankungen durch Arbeitslosigkeit verstärkt. Ein Teufelskreis setzt ein.

Investitionen nötig

Die Studie forderte mehr psychosoziale Jugendbetreuung. Schwarz-Blau in Oberösterreich kürzt aber auch hier. Im Bund beschloss die große Koalition 2016 die Ausbildungspflicht bis 18. Jugendliche, die sie nicht erfüllen, müssen mit Bußen bis 1.000 Euro rechnen. Analog dazu erfand das Kabinett Kurz Geldstrafen für SchulschwänzerInnen. Im Mai blies die Regierung zum Angriff auf die ÜBA: Wer in der überbetrieblichen Lehre über 18 ist, verliert künftig die Hälfte der Beihilfe. Das heißt 325,80 statt 753 Euro.

Auch der neoliberale Thinktank Agenda Austria hat die Misere erkannt. Und empfiehlt, siehe da, höhere Lehrlingsentschädigungen und KV-Löhne in gewissen Branchen. Im Ringen um Fachkräfte muss die österreichische Gesellschaft also in Lehrlinge investieren. Denn die Jugend von heute stellt die Fachkräfte von morgen. Ein erster Erfolg konnte von den Gewerkschaften bei jüngsten Kollektivvertragsverhandlungen errungen werden: Im Handel steigen die Lehrlingsentschädigungen um durchschnittlich acht Prozent, in der Metallindustrie um zehn Prozent, im Metallgewerbe, der IT und bei der Bahn zwischen 6,5 und 7,1 Prozent.

Über den/die Autor:in

Zoran Sergievski

Zoran Sergievski, geboren 1988 in Hessen, freier Journalist und Lektor. Studierte Publizistik in Wien. Schreibt seit 2007 für diverse Websites, Zeitschriften und fürs Radio, am liebsten über Medien, Rechtsextreme und Soziales. Lebt mit Kleinfamilie in Wien.

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