IT-Fachkräfte: Wo sind sie geblieben?

Illustration (C) Miriam Mone
Im österreichischen IT-Sektor fehlen 24.000 Fachkräfte. Gleichzeitig bildet die Branche kaum aus. Das führt zunehmend zu Problemen. Gewerkschaften bringen nun als Lösungsvorschlag einen Ausbildungsfonds ins Spiel. Ist das ein möglicher Gamechanger? Von Christian Bunke.
Waren Sie heute schon beim Bankomaten Geld abheben? Vielleicht haben Sie letzten Abend noch eben online eine wichtige Überweisung getätigt? Oder – ein zugegeben für viele etwas abwegiger Gedanke – haben Sie schon einmal überlegt, welche Software eigentlich hinter dem digitalen internationalen Bankenverkehr steckt? Welche Programme ordentlich laufen müssen, damit Ihre Überweisungen auch klappen und nicht im Nirwana verschwinden?

Flaschenhals

Julian Sommer-Schmelzenbarth macht sich solche Gedanken. Er ist Betriebsrat in einem IT-Unternehmen mit rund 900 Beschäftigten. Für die Gewerkschaft GPA wird er als Jugendvertreter bei den kommenden Kollektivvertragsverhandlungen mit am Tisch sitzen. Und er hat eine drastische Prognose: „Man rennt wissentlich in ein Desaster. Es gibt einen zunehmenden Flaschenhals.“ Dieser „Flaschenhals“ besteht nach Sommer-Schmelzenbarths Ansicht in einem ungenügenden Wissenstransfer zwischen den Generationen: „Viele Anwendungen wurden mit Programmiersprachen aus den 1980er-Jahren programmiert. Die Leute, die das entwickelt haben, sind inzwischen in Pension. Aber ihr Wissen wurde nicht weitergegeben.“ Das betrifft zum Beispiel genau den bereits erwähnten internationalen Bankenverkehr. Viele heute noch genutzte Anwendungen wurden mit der Programmiersprache PLI geschrieben. Eine Sprache, die heute immer weniger Programmierer:innen beherrschen. „Aber wenn PLI einmal abgedreht wird, dann steht der internationale Bankenverkehr still“, resümiert Sommer-Schmelzenbarth.

An dieser kleinen Anekdote lässt sich die strategische Bedeutung des IT-Sektors für die globale Wirtschaft, aber auch die potenzielle Macht der dort angestellten Beschäftigten ablesen. Hier zeigen sich aber auch die strukturellen Probleme dieser Branche, die in den letzten 20 Jahren massiv gewachsen ist und in der technologische Sprünge immer schneller vonstattengehen. „Ja, die Entwicklung wird schneller, ich würde sagen, sie geht rasant voran“, bestätigt auch Sommer-Schmelzenbarth. „Wir sehen eine Entwicklung von Programmiersprachen hin zu Low-Code-Sprachen. Das sind quasi Baukastensysteme, die von den Anwender:innen bedarfsgerecht zusammengesetzt werden können. Gleichzeitig sehen wir eine Ausdifferenzierung. Linux wird immer nerdiger, während Microsoft auf möglichst einfach zu bedienende Betriebssysteme setzt.“

Ausbildung von gestern

Genau diese Schnelllebigkeit und Ausdifferenzierung bringt aber ganz eigene Wachstumsschwierigkeiten mit sich. So kommen die Berufsschulen kaum noch hinterher. Sommer-Schmelzenbarth gibt ein Beispiel: „Bei der Lehrabschlussprüfung wird die Aufgabe gestellt, einen E-Mail-Server aufzusetzen. Dafür wird Software aus dem Jahr 2010 verwendet, die längst nicht mehr aktuell ist.“ Während also einerseits alte Programmiersprachen in Vergessenheit geraten, die immer noch gebraucht werden, lernen andererseits Berufsschüler:innen teilweise mit veralteter, nicht mehr aktueller Software.

Betriebsrat
Julian Sommer-Schmelzenbarth: „Die IT hatte lange den Ruf eines Altmännerklubs.“ Heute leidet die Branche an Nachwuchsmangel. (C) Christopher Glanzl

Generell hat die österreichische IT-Branche eine sehr geringe Ausbildungsquote. Während derzeit um die 24.000 Fachkräfte fehlen, befinden sich nur rund 800 Lehrlinge in Ausbildung. Das ist laut aktuellen Berechnungen des Österreichischen Instituts für Berufsbildungsforschung eine Lehrlingsquote von zwischen 1,1 und 1,2 Prozent im WKO-Spartenvergleich. Und das in einer Branche mit österreichweit 83.000 Mitarbeiter:innen.

Andere Sparten mit einer hohen Präsenz kleiner und mittelständischer Unternehmen (KMUs) wie zum Beispiel das Gewerbe oder das Handwerk haben hingegen eine deutlich höhere Lehrlingsquote von sechs bis sieben Prozent. Das ist wichtig. Zwar gibt es in Österreich eine wachsende Zahl großer bis sehr großer IT-Firmen. Die überwältigende Zahl aller IT-ler:innen arbeitet aber in kleinen Betrieben mit fünf bis 15 Mitarbeiter:innen. Gerade die Start-up-Branche boomt in Österreich. Warum bildet sie nicht aus?

Lehrlinge gesucht – oder doch nicht?

B. ist ein relativ junger Programmierer. Aktuell arbeitet er in einem kleinen, spezialisierten IT-Unternehmen. Wie sein vorheriger Arbeitgeber auch wurde es von drei Leuten gegründet, inzwischen arbeiten 15 Menschen dort. Auch er bestätigt: „Die Unternehmen haben definitiv einen Fachkräftemangel. Und es stimmt, dass oft Leute wechseln und dadurch Wissen in den Betrieben verloren geht. Aber bei uns geht eigentlich kaum einer weg. Das Betriebsklima ist gut, mit dem Homeoffice passt alles, und es gibt ein Gehaltsschema, was nicht sehr üblich ist.“ Ausgebildet wird aber nicht: „Niemand will für die Ausbildung zahlen. Gleichzeitig wird einfach jede:r genommen, die oder der sich bewirbt. Einfach, damit die Leute nicht woanders hingehen.“

Autodidaktik werde in der Branche großgeschrieben, meint B.: „Selbstschulung ist in der Branche sehr weit verbreitet. Es gibt zwar Ausbildungskurse, aber die liefern oft nicht das, was man braucht. Deshalb ist Weiterbildung auch bei uns im Betrieb eher Selbststudium. Den Besuch von Kongressen kriegt man allerdings bezahlt.“

Tatsächlich ist ein gutes Betriebsklima vorteilhaft, wenn es darum geht Fachkräfte zu halten, die gerade überall Mangelware sind und deshalb ohne Weiteres den Job wechseln können. Sommer-Schmelzenbarth meint in diesem Zusammenhang: „In Wien ist die Situation völlig überhitzt. Die Leute gehen bei einer Tür raus und bei der anderen hinein. Unternehmen werben sich gegenseitig Fachkräfte ab, versuchen teilweise sogar, weggegangene Mitarbeiter:innen durch verbesserte Angebote von ihrem neuen Arbeitsplatz wieder wegzulocken.“

Sturschädel und Nerds

Für T., einen IT-Chef im Kulturbereich, entsteht daraus durchaus Kopfschmerzpotenzial: „Die Mitarbeiter:innenführung ist in der IT schwieriger als in anderen Bereichen“, meint er. „In der Branche sitzen ziemliche Sturschädel, ziemliche Nerds. Denen kann man nicht einfach etwas anschaffen. Man muss sie überzeugen, überzeugen und noch mal überzeugen. Ich werde entweder ein Betriebsklima haben, wo ich die Person halte, oder die Person wird schnell woanders sein.“

T. hat damit durchaus eigene Erfahrungen gesammelt: „Ich habe früher bei einem Provider gearbeitet. Da war ein Kommen und Gehen. Ich kann wirklich nicht bestätigen, dass die Leute in der IT-Branche Probleme haben, Jobs zu finden.“ Der Fachkräftemangel mache die Rekrutierung neuer Mitarbeiter:innen zu einer Herausforderung, so T.: „Viele Unternehmen stellen sehr hohe Anforderungsprofile auf. Dann stellen sie aber fest, dass die Leute, die diesem Profil entsprechen, sehr hohe Gehaltsvorstellungen haben, eben weil es so wenige von ihnen gibt. Das können sich manche nicht leisten, also schrauben sie die Anforderungsprofile runter. Dann müssen sie die neuen Leute aber erst recht wieder anlernen.“

T. findet, dass die Ausbildung von Lehrlingen ein Weg sein könnte, aus der Misere herauszukommen. Darum will er mit gutem Beispiel vorangehen und sucht für sein Team gerade einen Lehrling: „Es wird viel zu wenig Lehre in den Unternehmen angeboten. Wenn ich nicht genügend ausbilde, kriege ich keinen Nachwuchs. Mein alter Arbeitgeber, ein relativ großes Unternehmen, hatte gerade einmal einen einzigen Lehrling!“

Altmännerklub im Imagewandel

Bis zu einem gewissen Grad knabbert die Branche hier auch am eigenen Image. So erzählt Julian Sommer-Schmelzenbarth zwar, dass in seinem Unternehmen ein Frauenanteil von 40 Prozent herrsche. Aber: „Die IT hatte doch lange den Ruf eines Altmännerklubs irgendwo im Keller. Bei einem früheren Arbeitsplatz sind noch ganz klischeehaft die Kalender mit den nackten Frauen an der Wand gehangen. Es wird aber besser. Die Welt wird weiblicher. Auch die sexistische Kultur in der IT ändert sich und wird sich weiter zum Besseren ändern.“

Ein sehr schwerwiegender Faktor sei aber auch, dass bei der Ausbildung ein sehr großes Ungleichgewicht herrsche: „Es gibt 51.000 Studierende in den technischen Fächern an der TU oder den Fachhochschulen. Und nur knapp 800 Lehrlinge.“ Vor diesem Problem steht auch T. bei seiner Lehrlingssuche: „Die Fachhochschulen sind sehr mathematisch ausgelegt. Das brauche ich für meinen Betrieb aber nicht so stark. Für die Unternehmens-IT brauche ich Leute, die die Basics beherrschen. Das könnte eine Lehre bewerkstelligen.“

Boomer in Pension

Sehr aufmerksam beobachtet man all dies bei der Gewerkschaft GPA. Der demografische Wandel stelle die Branche vor zunehmende Probleme, findet Bernhard Hirnschrodt aus dem für die IT-Branche zuständigen Interessenbereich. „Es gibt eine wachsende Kluft zwischen jenen, die in Pension gehen, und jenen, die in den Arbeitsmarkt eintreten. Die Boomer-Generation geht in Pension. Das waren sehr geburtenstarke Jahrgänge. Jetzt kommen sehr geburtenschwache Jahrgänge nach.“ Das habe direkte Auswirkungen auf die Beschäftigten: „Eine 35-Stunden-Woche ist in der Branche zum Beispiel aufgrund mangelnder Humanressourcen oft nicht möglich. Darüber kann man erst reden, wenn der Arbeitskräftemangel beseitigt ist. Wenn ich aber etwas gegen die geringe Frauenquote machen möchte, brauche ich bessere Arbeitsregelungen.“ Nicht nur die IT sei betroffen: „Auch die Industrie hat große Schwierigkeiten. Mechatroniker:innen oder Schlosser:innen sind fast nicht zu bekommen. Nachbesetzungen sind eine riesige Herausforderung“, so Hirnschrodt.

Was tun? – „Es braucht eine bessere Ausbildungsinfrastruktur“, findet Hirnschrodt. „Um die niedrige Ausbildungsquote zu steigern, brauchen die Betriebe Unterstützung, vor allem die kleineren. Dort gibt es einen Mangel an Lehrlingsbeauftragten. Außerdem braucht es neue Lehrberufe. Die derzeit existierenden sind oft nicht adäquat.“ Das könne man aber nicht nur der Wirtschaft überlassen. „Wir haben deshalb eigene Vorschläge ausgearbeitet und wollen mit diesen auf die Wirtschaftskammer zugehen. So fordern wir zum Beispiel einen Ausbildungsfonds, der bei der Finanzierung helfen soll.“ Das Feedback aus dem Unternehmer:innenlager sei durchaus positiv: „Nun wollen wir die für die Umsetzung nötige Überzeugungsarbeit leisten.“

Drei Fragen zum Thema

an Julian Sommer-Schmelzenbarth, GPA-Jugendvertreter und Betriebsrat

Die IT-Branche steht vor Kollektivvertragsverhandlungen. Welche Rolle spielt der von Ihnen ins Spiel gebrachte „Ausbildungsfonds“?

Wir wollen mit dem Ausbildungsfonds auf die Wirtschaftskammer und die Unternehmen zugehen, ihnen ein Angebot machen. Die Idee ist, dass alle Unternehmen der österreichischen IT-Wirtschaft in diesen sozialpartnerschaftlich verwalteten Fonds, entsprechend ihrer Größe und ihrer Beschäftigtenzahl beziehungsweise ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, einzahlen. Vor allem kleine und mittelständische Betriebe könnten so Unterstützung bei der Ausbildung erhalten. Das würde helfen, die Lehrlingsquote in der IT-Branche zu erhöhen. Viele, die in der IT arbeiten wollen, wollen eine Lehre machen. Also sollten wir das ermöglichen.

Braucht es sonst noch Ausbildungsreformen?

Die vorhandenen Lehrberufe decken die Bedürfnisse der Branche nicht ausreichend ab. Wir schlagen als Gewerkschaft deshalb die Etablierung neuer Lehrberufe vor. Die könnten zum Beispiel in den strategisch bedeutsamen Bereichen Cybersecurity oder Green IT geschaffen werden. 60 Prozent von 500 befragten Unternehmen einer KPMG-Studie haben angegeben, in den letzten zwölf Monaten Opfer eines Cyberangriffs geworden zu sein. Hier liegt enormes Potenzial. Und für die Bekämpfung des Klimawandels wird die Entwicklung „grüner IT“ eine wesentliche Rolle spielen.

Wenn es einen so großen Personalmangel gibt, warum holt man die Fachkräfte nicht einfach aus dem Ausland?

So einfach ist das nicht. Die Globalisierung hat auch Grenzen. Das Aussehen von Benutzeroberflächen ist zum Beispiel stark kulturell bedingt. Eine Fachkraft aus dem asiatischen Raum wird sich schwer damit tun, eine Oberfläche für das Onlinebanking einer deutschen Großbank zu gestalten. Deshalb muss man schauen, dass man die Fachkräfte hier bekommt.

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