Justiz, Verfassung und Lehren des Lockdown – Richter Oliver Scheiber im Interview

Richter Oliver Scheiber im Interview über ein spannendes Jahr für die österreichische Justiz
Fotos (C) Markus Zahradnik
Für die Justiz war 2020 spannend: Ein Jahr großer Wirtschaftsprozesse, einer angekündigten Strafvollzugsreform oder wichtiger Verfassungsgerichtshofurteile zu Corona-Maßnahmen. Und dann feierte die Verfassung auch noch ihren 100. Geburtstag. Wir haben mit dem Wiener Strafrichter und Buchautor Oliver Scheiber das Jahr Revue passieren lassen und ihn gefragt, was das alles eigentlich für unseren Alltag bedeutet und wie man die Verfassung mit Leben füllt.
Im U4 geig‘n die Goldfisch‘ – und drüber gehen sie ins Netz. Gut, das ist natürlich etwas übertrieben, die meisten Fische schwimmen wieder in Freiheit und haben nichts mit der Justiz zu tun. Die Rede ist von einem der legendärsten Clubs der Hauptstadt sowie dem Meidlinger Bezirksgericht. Beide befinden sich im selben Gebäude, hier, mitten im 12. Wiener Gemeindebezirk. Was Falco im Keller war, ist Oliver Scheiber in den Amtssälen im fünften Stock: Der 52-Jährige ist Gerichtsvorsteher, Autor und Kolumnist. Und bekannt für seine kritischen Analysen.

Wir treffen ihn zum Gespräch in seinem Büro, auch wegen des riesigen Fensters mit Blick Richtung Innenstadt ein heller, gemütlicher Raum. Überhaupt hat Oliver Scheiber sein Gericht zu einem offenen und freundlichen Ort gemacht. Denn wenn nicht gerade eine globale Pandemie das gewohnte Leben lahmlegt, organisiert er hier Lesungen und sogar Kunstausstellungen – auch eine Falco-Huldigung war natürlich schon dabei.

Anja Melzer: Sie erinnern immer wieder, sei es auf Ihrem Twitterprofil oder in Ihren Büchern – zuletzt erschien „Mut zum Recht!“ – an die Bedeutung der Verfassung, die heuer 100 Jahre alt wurde. Vergessen wir dieses Dokument denn zu oft?

Oliver Scheiber: Die Verfassung funktioniert im Prinzip sehr gut, aber sie ist in Österreich auffallend wenig im Bewusstsein – jedenfalls im internationalen Vergleich. In Deutschland ist das zum Beispiel viel stärker. Das liegt daran, dass es hier nicht ein Dokument gibt wie in anderen Ländern, wo man eine beschlossene Urkunde hat, sondern dass das Verfassungsrecht bei uns verteilt ist über ganz viele Gesetze. Und das ist sicher ungünstig fürs Verfassungsbewusstsein. Ein weiterer Grund ist, dass es kein Bewusstsein gibt für den großen Einschnitt, wann die Verfassung geschaffen wurde. Ich glaube, die wenigsten verbinden das mit dem Ende der Monarchie und der Schaffung der Republik. Das ist wahrscheinlich in Ländern anders, wo die Verfassung zum Beispiel aus einer Revolution heraus entstanden und dann automatisch viel stärker im Bewusstsein verankert ist. Zentrale Dinge wie das Legalitätsprinzip sind in Österreich nicht so im Bewusstsein von Medien und Öffentlichkeit vorhanden.

Das Bezirksgericht Meidling von Richter Oliver Scheiber gilt als Vorreiter der Digitalisierung
„Man kann natürlich darüber streiten, ob das ein bisschen zu pathetisch war, also ob die Verfassung wirklich elegant ist oder ob es nicht auch reicht, dass sie einfach funktioniert.“

Österreicher*innen brauchen also Verfassungsnachhilfe?

Die Schule ist dabei sicher wesentlich. Ich fand es auch gut, dass Alexander Van der Bellen nach den Ibiza-Geschehnissen die Verfassung immer wieder erwähnt hat. Man kann natürlich darüber streiten, ob das ein bisschen zu pathetisch war, also ob die Verfassung wirklich elegant ist oder ob es nicht auch reicht, dass sie einfach funktioniert.

War das früher anders?

Ich glaube, Österreich hat einfach wenig Krisen gehabt nach 1945. Darum hat man sich selten auf die Verfassung berufen. Ihre Bedeutung wird in Zeiten der politischen oder gesellschaftlichen Krise deutlicher.

In meiner Erinnerung hat sich das verändert, also dass der Bundespräsident so offen immer wieder über die Verfassung kommuniziert, und zwar seit der Bundespräsidentenstichwahlwiederholung. Ich glaube, Österreich hat einfach wenig Krisen gehabt nach 1945. Darum hat man sich selten auf die Verfassung berufen. Ihre Bedeutung wird in Zeiten der politischen oder gesellschaftlichen Krise deutlicher.

Ihr Anliegen ist ein allgemeiner und solidarischer Zugang zum Recht aus. Wie sieht der genau aus?

Ich glaube, dass die Hemmschwelle früh beginnt, also dass sich viele denken: Das ist für mich zu kompliziert oder zu teuer. Dazu kommen starke Bildungshemmschwellen, dass man gar nicht weiß, wo man beginnen soll. Elemente wie der Amtstag auf den Bezirksgerichten steuern dagegen. Man kann sich hier einmal in der Woche unentgeltlich erkundigen bei rechtlichen Fragen, in denen sonst Anwälte beraten. Da ist Österreich im internationalen Vergleich sehr niederschwellig und einfach zugänglich. Gerade im Familienrecht wird das sehr stark konsultiert.

Wie kann man das langfristig weiter vereinfachen?

Ein Punkt ist das Finanzielle. Wir haben zwar Gebühren- und Kostenbefreiungen für ganz niedrige Einkommen, also bis etwa 1000 Euro monatlich. Ich glaube aber, dass es mittlerweile für die Mittelschicht und schwache Einkommen auch schwierig geworden ist. Menschen, die zwischen 1000 und 3000 Euro verdienen, können sehr schwer längere Prozesse vorfinanzieren. Stellen Sie sich vor, neben Ihnen wird die U-Bahn gebaut und bei Ihnen in der Wohnung entstehen dadurch Sprünge in den Wänden. Allein die Beweissicherung kostet gleich einmal 4000 Euro, nur damit ein Sachverständiger des Gerichts kommt und die Schäden feststellt. Ein anderer Punkt ist, dass die Behördensprache immer noch sehr abschreckt.

Sollten nicht auch vermehrt Pflichtverteidiger*innen eingesetzt werden?

Wir sagen in Österreich immer, man kann auch ohne Anwält*in prozessieren, jedenfalls in kleineren Dingen. Wenn die eine Seite mit Anwält*in kommt und die andere ohne, muss der Richter oder die Richterin alles Notwendige an Informationen bereitstellen. Ich glaube, das Prinzip, dass jeder anwaltlich vertreten sein soll, wäre das fairere. Das ist natürlich ein Spagat als Gericht, laufend Informationen beizuschaffen und gleichzeitig neutral zu bleiben, in Verhandlungssituationen ist das recht schwierig. Wichtig erschiene mir auch, dass jeder Strafgefangene verpflichtend anwaltlich vertreten ist. Derzeit ist das nur für die Untersuchungshaft vorgesehen.

Richter Oliver Scheiber zur Pflichtverteidigung in der österreichischen Justiz
„Ich glaube, das Prinzip, dass jeder anwaltlich vertreten sein soll, wäre das fairere.“

Wie ist die Lage denn andernorts?

Nehmen wir zum Beispiel das italienische Strafrecht. Auch nach einem Fünf-Euro-Diebstahl sieht dort das Gesetz die anwaltliche Vertretung vor. Das erscheint mir das bessere Konzept, und nebenbei entlastet es die Gerichte massiv. Es ist ja doch eine starke Überforderung, dem Richter oder der Richterin permanent die Verpflichtung zur Information, zur Fürsorge und zur Entscheidung aufzuerlegen und dazu natürlich die Verpflichtung, alle gleich zu behandeln.

Aber wer soll das bezahlen?

Ich meine: Das muss man sich als Gesellschaft leisten. In der Medizin sagt man ja auch nicht, wir bauen keine hochwertigen Krebstherapien auf, weil das zu teuer ist. Der Zugang zum Recht ist einfach wichtig. Was man überlegen könnte: Verpflichtende Haftpflichtversicherungen, auch für Rechtsschutz, und dann zahlt halt einfach jeder fünf Euro im Monat vom Gehalt und dafür sind alle versichert.

In der Medizin sagt man ja auch nicht, wir bauen keine hochwertigen Krebstherapien auf, weil das zu teuer ist. Der Zugang zum Recht ist einfach wichtig.

Also in etwa so wie bei der Krankenversicherung?

Genau. Da kann man sicher verschiedene Modelle noch entwickeln.

Ein gutes Stichwort. Es heißt, in der Justiz mangelt es an allen Ecken und Enden an Geld.

Immer wenn man über „die Justiz“ redet, darf man nicht vergessen, dass sie relativ klein ist. Wir haben insgesamt 2000 Richter*innen und Staatsanwält*innen – in ganz Österreich. Alles, was man bei der Justiz diskutiert an Kosten ist im Vergleich zu anderen Ressorts und Bereichen ziemlich überschaubar und relativiert auch Investitionen. Probleme bestehen in der Justiz aktuell im Kanzleibereich, hier wurden zu viele Stellen abgebaut, viele haben wegen der schlechten Bedingungen selbst gekündigt. 2020 wurde da die Trendwende geschafft. Es wurden viele neue Kanzleibedienstete aufgenommen, aber es dauert, die Menschen auszubilden und einen neuen Stamm aufzubauen. Auch im Strafvollzug ist es eng, aber ich finde immer, bevor man hier etwas ändert, sollte man hier gesellschaftlich die Grundsatzdiskussion führen: Wollen wir überhaupt so viele Leute im Strafvollzug haben? Im Moment sind es ungefähr 9.000. Muss man für 9.000 gute Bedingungen schaffen oder reicht es nicht vielleicht, nur 3.000 Menschen einzusperren, weil die anderen 6.000 völlig ungefährlich sind, denn dann wäre es schade ums Geld? Diese Diskussion sollte vorher kommen.

Richter Oliver Scheiber über den Personalmangel in der Justiz
„Probleme bestehen in der Justiz aktuell im Kanzleibereich, hier wurden zu viele Stellen abgebaut, viele haben wegen der schlechten Bedingungen selbst gekündigt.“

Im Moment werden ja einige Haftanstalten neu gebaut, zum Beispiel in Korneuburg und in Salzburg.

Auch für Klagenfurt gibt es Pläne. Das ist sicher kein Fehler. Denn wir sehen auch, dass dort die Sozialisierung und Resozialisierung wesentlich besser funktioniert, oder dass der Medikamentenverbrauch um zwei Drittel sinkt, und so weiter. Ich fände es nur schade, wenn man jetzt alle alten Haftplätze durch neue ersetzen würde, weil das ist wie mit Autobahnen: Immer, wenn du neue baust, sind sie wenig später voll. Wir sollten erst überlegen, wie viele Plätze wir künftig überhaupt brauchen.

Ihre Einschätzung: Was wird die kürzlich von Justizministerin Alma Zadic angekündigte Reform des Strafvollzugs wirklich zum Besseren verändern?

Wir kennen den genauen Entwurf noch nicht, aber es wird jedenfalls Verbesserungen geben. Vor allem für den so genannten Maßnahmenvollzug, also die Unterbringung psychisch erkrankter Straftäter, ist mehr Rechtsschutz geplant. Immer mehr psychisch kranke Menschen werden in Österreich wegen vergleichsweiser geringer Delikte auf unbegrenzte Zeit angehalten – da müssen wir eine schnell eine Änderung herbeiführen. Ich wünsche mir darüber hinaus die Grundsatzdiskussion: Sollten nicht eigentlich generell wesentlich weniger Menschen eingesperrt sein und wie kommen wir dorthin – denn die Kriminalität sinkt seit Jahrzehnten, aber die Häftlingszahl geht nicht hinunter.

Sollten nicht eigentlich generell wesentlich weniger Menschen eingesperrt sein und wie kommen wir dorthin – denn die Kriminalität sinkt seit Jahrzehnten, aber die Häftlingszahl geht nicht hinunter.

Jetzt haben wir von modernen Justizanstalten gesprochen – wir sitzen hier gerade in Meidling, einem der modernsten Bezirksgerichte Österreichs. Sie haben ein Servicecenter erstritten – und es ist das erste Bezirksgericht in Österreich, das digitalisiert wurde.

Den Pilotversuch hat das Justizministerium angeregt, das Ganze läuft jetzt hier seit 18 Monaten und hat vorher schon am Arbeits- und Sozialgericht sowie am Handelsgericht begonnen. Die Bezirksgerichte sind von der Digitalisierung für die Justiz ein bisschen schwieriger, weil wir sehr unterschiedliche Verfahrensarten haben. Aber im Jahr 2020 wurde der Digitalisierungsprozess an vielen österreichischen Gerichten vorangetrieben – der elektronische Akt hat sich gerade in der Pandemiesituation sehr bewährt.

Was hat sich durch die Digitalisierung verändert?

Das Papier verschwindet relativ schnell. Man sieht daran auch, dass die Verfahren in Österreich zügig abgewickelt werden. Ersetzt wurde das Papier durch Dateien und Notebooks bei den Richter*innen und Kanzleikräften. In der Corona-Zeit konnten bei uns Kanzleikräfte so von zu Zuhause aus arbeiten, was wir bisher noch gar nicht gehabt haben. Das war auch für die Akzeptanz bei den Mitarbeiter*innen nützlich.

Richter Oliver Scheiber zur Digitalisierung der Justiz
Was bringt die Digitalisierung? „Längerfristig werden die Vorteile sicher sein, dass es viel schneller geht, weil die Aktenwege wegfallen.“

Wie kann man sich eine digitale Gerichtszukunft konkret vorstellen?

Längerfristig werden die Vorteile sicher sein, dass es viel schneller geht, weil die Aktenwege wegfallen. Und wenn man ans Strafrecht denkt, wo der Akt zwanzig Mal zwischen Gericht und Staatsanwaltschaft hin und her geht, da haben jetzt künftig immer alle gleichzeitig Zugriff. Auch beim Familienrecht wird das wichtig werden, wo bisher ständig jemand wartet, Jugendamt, Sachverständiger, Anwält*innen, das sind oft sechs Beteiligte auf einmal. Entsprechend schneller wird alles dann gehen und entsprechend besser sind alle Beteiligten informiert.

Es ist ja auch umweltbewusster! Auch Kopien des Akts dürften so billiger werden, das kostet ja an den Gerichten im Moment oft noch horrende Gebühren.

Genau, wir verlangen jetzt schon weniger für Dateien auf USB-Sticks, die sind also auch schon billiger. Bürger*innen können seit kurzem über die Bürgercard elektronisch in ihre Verfahrensakten Einsicht nehmen.

Stichwort Corona: Wie haben Sie die Krise bis dato am Gericht erlebt? Man kann ja hier nicht alles herunterfahren, manche Verfahren sind schwierig zu stoppen, gerade wenn jemand schon lange in Untersuchungshaft sitzt. Ist ein Aufschub da zu rechtfertigen?

Ich finde, so wie das im ersten Lockdown im Frühjahr gemacht haben, war das gut zu rechtfertigen. Wir haben eben vor allem die Haftsachen weitergeführt. Oder auch Verfahren wie Kindesentführungen oder drängende Obsorge-Entscheidungen, psychische Erkrankungen, Heimunterbringungen, all diese dringenden Angelegenheiten sind ohne Verzögerung weitergelaufen. Der Großteil der Verfahren war aber unterbrochen. Das halte ich für vernünftig. Im Ergebnis haben die Erfahrungen der Justiz und der ganzen staatlichen Verwaltung viel gebracht. Erstens wurde von der öffentlichen Hand kräftig in die Technik investiert, was sonst länger gedauert hätte. Zweitens haben wir den Mitarbeiter*innen in der Verwaltung überall sehr viel mehr Eigenverantwortung gegeben, d.h. es sind Dienstzeiten aufgehoben worden, die Telearbeit in ganz großem Ausmaß zugelassen worden.

Wir haben eben vor allem die Haftsachen weitergeführt. Oder auch Verfahren wie Kindesentführungen oder drängende Obsorge-Entscheidungen, psychische Erkrankungen, Heimunterbringungen, all diese dringenden Angelegenheiten sind ohne Verzögerung weitergelaufen.

Man sieht aus den Erfahrungen, dass die Mitarbeiter*innen im Ergebnis effizienter und schneller und motivierter arbeiten, wenn sie mehr Verantwortung übertragen bekommen. Ich glaube, das war für die Verwaltung ganz wichtig zu sehen: Wir müssen nicht alles regeln, wir können den Mitarbeiter*innen vertrauen, sie sind dann motivierter, freundlicher, hilfsbereiter, schneller, und helfen sich auch wechselseitig.

Man konnte das ja in vielen Branchen beobachten, dass durch den Corona-Digitalisierungsschub plötzlich Dinge möglich wurden, die vorher unvorstellbar waren. In einem so scheinbar alten Apparat wie der Justiz wirkt das aber tatsächlich noch bemerkenswerter als vielleicht anderswo.

Ja, es gibt viele positive Neuerungen. Bei manchem, etwa den Zoom-Videokonferenzen, hat sich die anfängliche Euphorie wieder etwas gelegt. Inzwischen sieht man, dass in vielen Bereichen der persönliche Kontakt schwer zu ersetzen ist. Es wurden ja auch Verhandlungen auf die Weise abgehalten.

Wirklich? Saßen sich dann Laptops im Gerichtssaal gegenüber? (lacht)

So ungefähr. Weil man ja zum Beispiel nicht mehr in Altenheime gehen konnte, mussten Personen, die da befragt werden mussten, via Videokonferenz zugeschalten werden. Aber auch bei Haftverhandlungen wurde das teilweise eingesetzt. Videokonferenzen sind aber nicht geeignet für normale Hauptverhandlungen, wenn es wirklich um Strafe und Schuld geht.

Warum?

Weil da die persönliche Interaktion eine sehr große Rolle spielt. Für die Zukunft gilt es zu überlegen, wo uns die modernste Technik gut weiterhilft, und wo sie nicht so gut eingesetzt ist. Insgesamt wird es zu Qualitätsverbesserungen und Erleichterungen für die Bürger*innen führen. Wenn ich für eine kurze Zeugenvernehmung aus Tirol per Video ins Wiener Gericht zugeschaltet werde und nicht den ganzen Tag mit der Reise verliere, ist das ein sehr spürbarer Vorteil.

Sind gerichtliche Entscheidungen aus der Corona-Zeit, die kurzfristig vielleicht anderen Regeln und Voraussetzungen unterlagen, eigentlich im Nachhinein womöglich anfechtbar?

Mir sind bisher keine Entscheidungsaufhebungen aus diesem Grund bekannt. Mir scheint, dass die geänderten Verfahrensregeln sachlich gut begründet waren.

Was sollte man im österreichischen Strafrecht dringend ändern?

In Österreich ist die Hauptverhandlung fast ausschließlich der Frage gewidmet: Ist der oder die Angeklagte schuldig oder nicht? Bei der Straffrage wird die Person des Täters sehr wenig erörtert. Da gibt es nur die Möglichkeit, informell zu sprechen. In anderen Ländern beispielsweise wird das geteilt, da wird erst entschieden, ob schuldig oder nicht schuldig, und im Falle eines Schuldspruchs wird in einem weiteren Verfahrensabschnitt ausführlich über die Person gesprochen und welche Strafe passend wäre – und auch was jemandem am besten hilft, aus der Negativspirale herauszukommen. Ich finde, wir schauen im Strafrecht generell zu wenig auf den Menschen. Die Sanktion ist oft nicht treffsicher, weil Persönlichkeit und Lebenssituation des Täters bzw. der Täterin nicht ausreichend besprochen wurden. Das legt die Grundlage zum nächsten Unglück.

Andererseits ist doch gerade die sogenannte Restorative Justice, also der Ansatz der Wiedergutmachung statt Strafe, auch in Österreich inzwischen immer verbreiteter, oder?

Da hat sich tatsächlich vieles bereits geändert, die Ausbildung junger Richter*innen wird auch immer besser. Täter-Opfer-Ausgleichsmodelle haben sich breit bewährt, gerade auch bei den Opfern stoßen sie auf hohe Akzeptanz. Es ist die Politik, die immer wieder im strengen Strafen verharren will.

Richter Oliver Scheiber über positive Veränderungen im Gerichtssaal
„Was sich in der letzten Zeit schnell verändert hat: Die Kommunikation im Gerichtssaal ist viel professioneller geworden. Also jetzt im Vergleich zu von vor dreißig, vierzig Jahren.“

Die Mühlen mahlen also doch, wenn auch langsam.

Was sich in der letzten Zeit schnell verändert hat: Die Kommunikation im Gerichtssaal ist viel professioneller geworden. Also jetzt im Vergleich zu von vor dreißig, vierzig Jahren. Ich sehe den Grund dafür auch im gestiegenen Frauenanteil. Mehr als die Hälfte der Richter*innen sind heute Frauen. Das hat viel bewegt.

Generell hat die Kompetenz zugenommen – aber auch der Druck. Richter*innen werden stark kontrolliert. Ich glaube aber nicht, dass die Überwachung auf Schnelligkeit und Verfahrensdauer allein aussagekräftig ist dafür, wie gut jemand seinen Job macht. Ganz besonders schnell ist man dann, wenn man über alles drüberfährt. Aber wollen wir das?

Klingt jedenfalls nicht menschlich… Wenn wir an ein faires Rechtssystem der Zukunft denken, wie könnte ein solches aussehen?

Die positive Vision wäre: Dass wir endlich die Ressourcen, die durch die Digitalisierung frei werden – und das werden enorm viele sein –, umverlagern. Zum Beispiel in Servicebereiche, die den Menschen helfen, ein Verfahren einzuleiten.

Die positive Vision wäre: Dass wir endlich die Ressourcen, die durch die Digitalisierung frei werden – und das werden enorm viele sein –, umverlagern. Zum Beispiel in Servicebereiche, die den Menschen helfen, ein Verfahren einzuleiten. Wenn man sich nur auf die Bürgercard verlässt, schließt man nämlich in Wahrheit ein Drittel der Bevölkerung aus, Menschen, die digital nicht zurechtkommen. Wir haben heute in unserem Servicecenter zwei bis drei Mitarbeiter*innen – warum nicht in Zukunft sieben bis acht? Menschen, die fragen: Was brauchen Sie, worum geht es, erzählen Sie bitte Ihre Geschichte, und die dann beraten, helfen, beim Ausfüllen der Formulare unterstützen.

Was fehlt noch für einen modernen Rechtsstaat der Zukunft?

Wir haben ein ausgefeiltes Rechtssystem. Aber es müsste bereits im Bildungssystem mehr darüber informiert werden, dass jede und jeder Rechte hat, und das Wissen, wie man seine Rechte durchsetzen kann, wohin man sich wendet. Es ist die Aufgabe des Staates, seine Bürgerinnen und Bürger nicht nur zu informieren, sondern sie im Sinne eines Empowerments darin zu bestärken, auf ihre Rechte zu pochen. Wichtig ist es auch, das Recht leicht zugänglich zu machen, also die Verfahren von Formalismen zu befreien, die Sprache in der Justiz einfach und gut verständlich zu halten. Die Bürgerinnen und Bürger sollen dem Recht nicht nachlaufen müssen, sondern abgeholt werden. Und schließlich müsste es eine moderne Kommunikationskultur geben. In wenigen Nischen der harten Kriminalität braucht es repressive Ansätze, überall sonst sollte im Alltag der Gerichte und Rechtsberufe viele Gespräche und runde Tische geben. Also weniger schriftliche, mehr mündliche Kommunikation. All dies hieße, die Verfassung mit Leben zu erfüllen.

Beim laufenden Ibiza-Untersuchungsausschuss wurde von vielen Seiten eine öffentliche Übertragung gefordert. Ist das gescheit?

Ich halte es für wichtig, dass parlamentarische Prozesse transparent sind und das Parlament umfassend kontrollieren kann. In diesem Sinne hielte ich die öffentliche Übertragung von parlamentarischen Ausschüssen für sehr hilfreich. Bei Gerichtsverhandlungen ist das anders. Es erscheint mir wichtig, alle Gerichtsverhandlungen aufzuzeichnen – und zwar zur Dokumentation. Es ist qualitätssichernd, weil Aufzeichnungen dazu führen, dass Belehrungspflichten u.ä. sehr genau eingehalten werden. In vielen lateinamerikanischen Ländern werden Verhandlungen auch öffentlich übertragen, in Brasilien zum Beispiel. Ich bin da vorsichtig, so etwas gleitet schnell auch ins Spektakel. Und in Gerichtsverfahren geht es oft auch um sehr private und intime Dinge, die für Fernsehübertragungen nicht unbedingt geeignet sind. Zudem würden im Prozessieren geübte oder besser gebildete Menschen deutlich profitieren.

Ich halte es für wichtig, dass parlamentarische Prozesse transparent sind und das Parlament umfassend kontrollieren kann. In diesem Sinne hielte ich die öffentliche Übertragung von parlamentarischen Ausschüssen für sehr hilfreich.

Wenn wir schließlich noch einmal einen Blick zurück auf dieses verrückte Jahr 2020 werfen. Immer wieder musste der Verfassungsgerichtshof erhobene Corona-Regeln geraderücken. Was waren im Nachhinein die größten Patzer der Regierung? Und wie kann man so etwas künftig verhindern? Die Pandemie wird uns ja noch länger begleiten.

Ich denke, wir sehen bei einer globalen Betrachtung, dass die meisten Regierungen ganz ähnliche Maßnahmen gesetzt haben. Und in nahezu allen Staaten haben die Höchstgerichte einzelne Maßnahmen aufgehoben, da hat Österreich keine Sonderrolle. Ein Teil der Aufhebungen in Österreich geht darauf zurück, dass Regelungen wenig oder unzureichend begründet waren, das waren also technische Fehler in der juristischen Ausarbeitung. Da wurden Regelungen wohl oft zu überhastet zu Papier gebracht. Mich bedrückt mehr die Diskrepanz zwischen Frühjahr und Herbst – im Frühjahr ein insgesamt – auch rechtlich –– schlüssiges Konzept mit dem Ergebnis geringer Sterblichkeit.

Die vielen Corona-Toten im Herbst…

….wären meines Erachtens mit mehr Konsequenz und Vernunft vermeidbar gewesen – das betrifft Regierung und Gesellschaft, und rechtliche Fragen spielen dabei eine untergeordnete Rolle. Sicher ist, dass die Verfassung pandemietauglich ist – sie erlaubt auch starke Beschränkungen von Freiheiten, wenn sie verhältnismäßig und für den allgemeinen Gesundheitsschutz notwendig sind.

Über den/die Autor:in

Anja Melzer

Anja Melzer hat Kunstgeschichte, Publizistik und Kriminologie in Wien und Regensburg studiert. Seit 2014 arbeitet sie als Journalistin und Reporterin für österreichische und internationale Zeitungen und Magazine. Seit März 2020 ist sie Chefin vom Dienst der Arbeit&Wirtschaft.

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