Der Fachkräfte-Blues: Zahlen, Daten, Fakten

Foto (C) Andrey Popov / Adobe Stock
Die Konjunktur steigt. Trotzdem stehen im Westen Küchen leer, es fehlen IT-Leute, Zehntausende sind ohne Job. Vielleicht liegt das auch an den Arbeitsbedingungen?
In der Hitparade der Wirtschaft hält sich ein Lied hartnäckig. Es ist der „Fachkräfte-Blues“, gesungen von der Band „Die Arbeitgeber“. So klagt der Wirtschaftsbund, dass derzeit österreichweit 162.000 Qualifizierte fehlen. Zuletzt erklärten 87 Prozent von 4.500 befragten Firmen, den Mangel zu spüren. 60 Prozent gaben an, im letzten Jahr Probleme gehabt zu haben, ausgelernte MitarbeiterInnen zu finden.

Was bedeutet der Fachkräftemangel? Ist das Verhältnis von BewerberInnen pro offener Stelle 1,5 oder darunter, spricht das Ministerium von Fachkräftemangel.
Doch was ist das eigentlich, der Fachkräftemangel? Eine Definition liefert das Sozialministerium (BMSGK) über die so genannte Stellenandrangziffer. Hinter diesem bürokratisch anmutenden Wort steckt eine einfache Rechnung: das Verhältnis von BewerberInnen pro offener Stelle. Ab 1,5 oder darunter spricht das Ministerium von Fachkräftemangel. Auf dieser Basis erstellt es seine Mangelberufeliste, die wiederum jene Berufe ausweist, in denen entsprechend gebildete Nicht-EU-BürgerInnen Zugang zu Österreichs Arbeitsmarkt haben. 2018 wuchs diese Liste auf mehr als das Doppelte an: statt 11 Berufen wurden 27 geführt. Heuer sind es gar 45, zudem wird die Liste regionalisiert.

Nicht allein die formale Ausbildung zählt, erklärt die Ökonomin Julia Bock-Schappelwein vom Wifo im Gespräch mit der „Arbeit&Wirtschaft“. Nach geltendem Recht müssen BewerberInnen Deutschkenntnisse, Berufserfahrung und andere Kriterien eines Punktekatalogs erfüllen. Darüber hinaus müssen sie ein Jobangebot vorweisen.

Zu wirtschaftlichen Hochzeiten müsste die Arbeitslosigkeit eigentlich sinken, steigt doch die Nachfrage nach Arbeitskräften zumindest saisonal in manchen Branchen. Nun befinden wir uns schon seit mindestens 2016 in so einem Hoch. Die Nationalbank schätzt aktuell, dass die Konjunktur um drei Prozent steigt. Daneben erleben wir aber Rekordarbeitslosigkeit bei Jung und Alt, gerade im Westen. Im Jahr 2017 betrug die durchschnittliche Stellenandrangziffer im Land ob der Enns 2,1, in Salzburg 2,2, in Vorarlberg 2,5 und in Tirol 3,1. Aber das Lied vom Fachkräftemangel will nicht abebben.

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Beispiel Gastgewerbe

Zu Beginn der Skisaison zeigte sich das deutlich: Österreichweit waren laut AMS 9.000 Jobs im Gastgewerbe offen. Allein in Tirol waren 3.050 Stellen unbesetzt. Trotzdem legten schon Ende November einzelne Hütten Ruhetage ein. Sie fanden einfach kein Küchenpersonal. KöchInnen kamen 2019 auf die Mangelberufeliste, denn ihre Stellenandrangziffer beträgt 1,3. Ministerin Elisabeth Köstinger (ÖVP) bezeichnete den Mangel an Arbeitskräften im Tourismus als „ernstes Problem“.

Wieso gelingt es nicht, mehr Leute an die Töpfe zu locken?
Wieso gelingt es nicht, mehr Leute an die Töpfe zu locken? Offenbar sind auch andere Faktoren als der Stellenandrang im Spiel. Das führt zum Anfang zurück. Eine ausführliche IHS-Studie aus dem Jahr 2015 stellte fest: Klagen über den Fachkräftemangel sind weltweit verbreitet, hängen aber kaum mit der Wirtschaftslage zusammen. Viele Betriebe würden ihre Situation schlicht überinterpretieren oder falsch abbilden.

Der Politik unterläuft anscheinend der gleiche Fehler. Für Arbeitsmarktexpertin Bock-Schappelwein löst die Regio-nalisierung der Mangelberufeliste wenig: „Im Jahr 2019 können höchstens 300 Zulassungen erteilt werden.“ Das steht im krassen Gegensatz zu den 162.000 Fachkräften, die man allerorten sucht.

Wie erkennt man Fachkräftemangel?

Unter Fachkräftemangel werden unterschiedliche Dinge verstanden. Anknüpfend an die internationale Forschung, definiert das IHS ihn als Nachfrage „nach bestimmten berufsfachlichen Qualifikationen“, die das Angebot regional wie national „substanziell übersteigt“. Diese Nachfrage darf nicht konjunkturell bedingt sein.

Kriterien für Mangelberufe (IHS)

  • Nachfrage nach bestimmten berufsfachlichen Qualifikationen übersteigt deren Angebot regional wie national substanziell
  • eine vergleichsweise niedrige bzw. sinkende Arbeitslosenquote im betroffenen Beruf
  • eine hohe Wochenarbeitszeit
  • hohe bzw. überproportional steigende Löhne
  • Abwerbe- und Treueprämien

Ein weiteres Kriterium sind hohe Wochenarbeitszeiten. Außerdem nennt das IHS überdurchschnittlich steigende Löhne sowie Abwerbe- und Treueprämien. Die Annahme dahinter: Gibt es solche Phänomene, so stecken dahinter die Versuche von Betrieben, auf einen entsprechenden Mangel zu reagieren. Das heißt, innerhalb einer Branche werden neue KollegInnen gelockt. Wer lange in Firma X bleibt, erhält nicht nur einen höheren Lohn, sondern auch mal Zuckerln in Sach- bzw. Geldform – so die Theorie.

Hohe Wochenarbeitszeiten kennt man im Gastgewerbe. Zugleich beträgt das Mindestgehalt dort gerade mal 1.500 Euro brutto. Im Jahr 2017 stiegen die KV-Löhne im Schnitt um nur 2,3 Prozent, Lehrlingsentschädigungen um knapp 3 Prozent. All das liegt unter dem Metaller-Abschluss 2017.

Treueprämien stehen nur im Angestellten-Kollektivvertrag, nicht in jenem der ArbeiterInnen. Zu Letzteren zählen KöchInnen. Gibt es keine Betriebsvereinbarung, gibt es für sie also keine Prämien. Zudem fallen die Treueprämien in der Gastronomie nicht gerade üppig aus: Nach zehn Jahren steht einem gerade mal ein Monatslohn zu. Keine dieser Bedingungen ist überdurchschnittlich in dem Sinn, wie ihn die IHS-Studie versteht. Es gibt hier also trotz niedriger Stellenandrangziffer keinen Fachkräftemangel, nur bescheidene Bedingungen.

In welchen Branchen herrscht nun wirklich Mangel?
In welchen Branchen herrscht nun wirklich Mangel? Die IHS-Studie analysierte für 2005 bis 2010 umfangreiche Daten von 22 ausgesuchten Berufsgruppen. In diesen waren 54 Prozent aller Unselbstständigen von 20 bis 64 Jahren beschäftigt. Zur Untersuchung des Fachkräftemangels flossen alle erwähnten Kriterien ein. Demnach galt ein Mangel etwa bei ArchitektInnen als „wahrscheinlich“, in der Geburtshilfe bei der beschriebenen Lohnentwicklung als „möglich“.

Berufsgruppe Fachkräftemangel
ArchitektIn
MedizinerIn, ApothekerIn
Material- und ingenieurtechnische Fachkräfte
Sicherheits- und Qualitätskontrolle
Pflege- und verwandte Berufe
Wahrscheinlich
Krankenschwester/-pfleger, Geburtshilfe
FormerIn, SchweißerIn
MaschinenmechanikerIn, SchlosserIn
Möglich
Datenverarbeitung
InformatikerIn
Bau
Laden-/MarktverkäuferIn, VorführerIn
ElektromechanikerIn
Unwahrscheinlich

Ein weiteres interessantes Beispiel ist die IT, wo das IHS einen Mangel als „unwahrscheinlich“ ausschloss. Hier wurde erst im Herbst ein Mangel von 10.000 Personen kolportiert. Gleichzeitig war die IT auf Platz 10 der Top-Lehrberufe im Monat. Das IHS stellte fest, dass im Jahr 2010 auf 1.500 offene Stellen 1.400 arbeitslose InformatikerInnen kamen.

Die StudienautorInnen vermuten, dass dies mit Vorurteilen zusammenhängt. Firmen könnten akademisch gebildete IT-Kräfte vorziehen. Die sind aber nicht zwingend besser qualifiziert. Die technische Entwicklung legt das nahe, unterbietet doch ihr Anpassungsdruck die Zeit eines Studiums vielfach. Bei solchen Einwänden beharren Firmen oft darauf, dass vorhandene BewerberInnen zu schlecht seien. Ausreichende Belege dafür fehlen.

Die Politik scheint ähnlich gestrickt zu sein: Wifo-Forscherin Bock-Schappelwein verweist darauf, dass Uni-Abschlüsse im BMSGK-Katalog 30 von 55 Mindestpunkten bringen.

Was kann also getan werden, um dem Fachkräftemangel zu begegnen? Mit der Ausweitung der Mangelberufeliste kommt die Regierung wieder den Arbeitgebern entgegen. Sie erleichtert weder die Arbeitssuche für bereits in Österreich lebende Menschen noch die Bedingungen für in- und ausländische Beschäftigte, sondern befeuert vielmehr Sozialdumping.

Lohndruck

Für gleiche Arbeit müssen gleiche Regeln gelten. Wer MigrantInnen durch Lohndruck ausbeutet, macht auch InländerInnen erpressbar. Das aber scheint der Plan zu sein: So wurden ohne Not die Gehaltsuntergrenzen auf der Liste gekürzt – von 2.565 auf 2.052 Euro für unter 30-Jährige und von 3.078 auf 2.565 Euro für jene darüber. Natürlich sind das immer noch vergleichsweise hohe Einstiegslöhne.

Unternehmen müssten investieren,
doch die drücken seit Jahren die Gehälter.

Aber die Kürzung ohne Not, im Aufschwung, ist auch eine sinnlose Bestrafung von AusländerInnen (und inländischen FacharbeiterInnen). Sie macht Österreich als Arbeitsstandort nicht attraktiver. Wifo-Expertin Bock-Schappelwein schlägt eine Alternative vor: So könnten Firmen verstärkt ältere KollegInnen einbeziehen, etwa durch flexible Arbeitszeiten und interne Weiterbildung. Auch Junge und Geringqualifizierte sollen diese genießen können, außerdem brauche es familienfreundliche Angebote. Dazu müssten Unternehmen jedoch investieren, doch die drücken seit Jahren die Gehälter:
Laut Einkommensbericht 2016 verloren seit 1998 die unteren 10 Prozent der niedrigsten Einkommen 35,1 Prozent ihrer Reallöhne und ArbeiterInnen im Schnitt 13 Prozent. Was Arbeitgeber als Fachkräftemangel in ihren Klageliedern besingen und den Beschäftigten zuschieben, ist also mindestens ein Mangel an anderer zentraler Stelle: bei der leistungsgerechten Bezahlung.

IHS-Studie „Gibt es in Österreich einen Fachkräftemangel?“:
bit.ly/2Mzr8DP

Von
Zoran Sergievski

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 1/19.

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Über den/die Autor:in

Zoran Sergievski

Zoran Sergievski, geboren 1988 in Hessen, freier Journalist und Lektor. Studierte Publizistik in Wien. Schreibt seit 2007 für diverse Websites, Zeitschriften und fürs Radio, am liebsten über Medien, Rechtsextreme und Soziales. Lebt mit Kleinfamilie in Wien.

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