
Auch der Blick auf ganz Österreich zeigt, dass sich Geschlechterklischees bei der Berufswahl hartnäckig halten. Im Jahr 2023 waren die drei häufigsten Lehrberufe, die junge Frauen erlernten, Bürokauffrau, Friseurin bzw. Stylistin oder Einzelhändlerin mit Schwerpunkt Lebensmittel. Bei den Männern hingegen absolvierten die meisten eine Lehre als Elektro-, Metall- oder Kfz-Techniker. Und im Bereich Forschung und Entwicklung liegt der Anteil von Frauen in Österreich laut Arbeitsmarktservice (AMS) etwa bei 25 Prozent. Anlass genug also, im Rahmen von Initiativen wie dem „IT&Me“-Workshop der Wirtschaftsagentur Wien Mädchen stärker für MINT-Fächer, also für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, zu begeistern und mit gängigen Klischees zu brechen.
Stereotype bei der Berufswahl: Männerdomäne IT
„Wie hoch, glaubt ihr, ist der Frauenanteil in der IT-Branche in Österreich?“, will Imani von den Schüler:innen wissen. Die aufgeweckte 20-Jährige hat selbst den Zweig Medizininformatik an der HTL Spengergasse im 5. Wiener Gemeindebezirk abgeschlossen. Die Stereotype, denen Frauen und Mädchen in technischen Sparten begegnen, kennt sie. Als sogenannte Explainerin ist sie an diesem Tag schon zum zweiten Mal im Einsatz und leitet durch den vierstündigen Workshop. Im Rahmen von „IT&Me“ wird sie den Schüler:innen, die dafür aus der Mittelschule Brüßlgasse im 16. Wiener Gemeindebezirk in die ein paar Hundert Meter entfernte Brunhildegasse gekommen sind, erklären, was man im Bereich der Informationstechnologie so alles machen kann. Die Klasse wird dafür in zwei Gruppen aufgeteilt.

Als Antwortmöglichkeiten auf Imanis Frage stehen in Form von beschrifteten Kärtchen 8 Prozent, 18 Prozent, 29 Prozent und 62 Prozent zur Wahl. Instinktiv gehen die meisten Schüler:innen zum Kärtchen mit den 18 Prozent. Die nächste Frage richtig zu beantworten fällt ihnen schon schwerer: „Was glaubt ihr: Warum ist das so?“, fragt Imani. „Weil das mehr Männer machen wollen“, sagt Marko. „Man sieht immer nur, dass Männer diese Berufe ausüben“, vermutet hingegen Adi. „Das ist ein wichtiger Punkt“, gibt Imani der Schülerin recht.

Frauen vor den Vorhang!
„Uns geht es darum, unentdeckte Berufe für Schüler:innen sichtbar zu machen, und das unabhängig von ihrem Background“, sagt Kristina Wrohlich von der Wirtschaftsagentur Wien. Sie leitet das Team Technologie Awareness und ist für den Schwerpunkt Nachwuchs verantwortlich. Gemeinsam mit ihren Kolleg:innen konzipiert sie Veranstaltungen und Workshops wie den, der heute stattfindet. „Denn wir wissen, dass die Berufswahl stark davon abhängt, welche Berufe bereits in der Familie und im Umfeld ausgeübt werden.“
Die Workshops, die es bereits seit 15 Jahren gibt und die von Schulen kostenlos über eine Online-Plattform gebucht werden können, sollen den Horizont der Schüler:innen in Bezug auf ihre spätere Berufswahl erweitern. Sie finden im Rahmen des Projekts „JOBITY“ statt, das als Teil des Programms „Interreg Österreich – Tschechien“ aus EU-Mitteln gefördert wird. Die Wirtschaftsagentur Wien bietet auch noch zwei weitere Workshops für Mittelschulen und Gymnasien zu den Branchen „Health“ sowie „Green Tech“ an. „Wir erwarten uns nicht, dass alle sofort nach dem Workshop etwas im IT-Bereich machen wollen und sagen: Das ist jetzt mein Traumberuf“, meint Wrohlich. Es gehe vielmehr um das Aufzeigen von Möglichkeiten.
Unbekannte Erfinderinnen können die Berufswahl beeinflussen
Dass der IT-Bereich nicht nur eine Männerdomäne ist, verdeutlicht den Schüler:innen in der Brunhildegasse der nächste Teil des Workshops: Sie sollen bahnbrechende Technologien der IT ihren Erfinder:innen zuordnen. Das fällt der Klasse – zumindest bei einem Teil der Namen – nicht leicht. Dass Bill Gates Microsoft entwickelt hat, ist den meisten bekannt. Auch, dass Steve Jobs der Gründer des Apple-Konzerns ist, wissen sie. Doch dass sich die Wiener Schauspielerin und Erfinderin Hedy Lamarr das Frequenzsprungverfahren, das die Grundlage für die Verschlüsselung von Funk-Technologien bildete, patentieren ließ oder dass die Ingenieurin Mira Murati als Chief Technology Officer maßgeblich an der Entwicklung der Open-AI-Software ChatGPT beteiligt war, wissen die wenigsten.
„Warum ist das so?“, will Imani wissen. „Die Männer waren erfolgreicher“, so Markos Erklärung. „Aber schaut euch mal die Erfindungen der Frauen an. Die sind auch sehr erfolgreich“, wirft die Explainerin ein. „Es ist oft so, dass Frauen, die etwas erfunden haben, nicht so bekannt sind wie Männer, die etwas erfunden haben.“ Diese Schieflage habe mehrere Gründe, erklärt Imani. In der Vergangenheit sei es immer wieder vorgekommen, dass Frauen ihre Errungenschaften weggenommen und als die ihrer männlichen Kollegen ausgegeben wurden. Zudem war es Frauen lange Zeit nicht möglich, ohne die Erlaubnis ihrer Männer arbeiten zu gehen.

„Was denkt ihr euch, wenn ihr das hört?“, fragt Imani danach in eine Runde nachdenklicher Gesichter. „Es ist gut, dass es nicht mehr so ist. Sie können jetzt selbst entscheiden“, sagt Marko schließlich. Er ist auch der Erste, der sich freiwillig meldet, um die Brille mit den dicken schwarzen Rändern aufzusetzen. Das Produkt des Wiener Unternehmens viewpointsystem ermöglicht es anderen, auf einem Bildschirm das zu sehen, was die Person, die die Brille trägt, gerade sieht. „Die Technologie nennt man Eye-Tracking“, erklärt Imani.
Danach geht es darum, den Schüler:innen verschiedene Berufe in der IT näherzubringen. Sie lernen, dass Applikationsentwickler:innen diejenigen sind, die Websites erstellen, dass IT-Sicherheitstechniker:innen zum Einsatz kommen, wenn Hacker:innen am Werk sind, oder dass IT-Netzwerktechniker:innen etwa Router an Schulen anbringen.

Vorbilder geben
In der Zwischenzeit hat sich Jasmin Gastgeb zur Gruppe gesellt. Die Technikerin arbeitet als IT-Applikationsverantwortliche in der Magistratsabteilung 1, der IT-Abteilung der Stadt Wien, und wurde als „Role Model“, also Vorbild, zum Workshop eingeladen. Die Schüler:innen stellen ihr Fragen, Gastgeb antwortet ruhig und geduldig. „Nein, ich wusste als Jugendliche auch nicht, was ich werden wollte. Das ist total normal“, sagt sie. „Wichtig ist, dass ihr später etwas macht, wofür ihr euch auch wirklich interessiert und begeistern könnt.“ Für Gastgeb selbst sei nicht die Schule, sondern die Lehre zur IT-Technikerin der richtige Bildungsweg gewesen. „Aber wie viel verdient man in dem Beruf?“, fragen die Schüler:innen. „Ich sage es mal so: Als 30-jährige IT-Technikerin wäre es nicht ungewöhnlich, 4.000 Euro brutto im Monat zu verdienen“, sagt Gastgeb. Imani bestärkt: „Also ihr seht, man kann in der IT gut verdienen, und es gibt wirklich viele verschiedene Möglichkeiten. Vor allem Ladys: Traut euch!“
Bisher habe ich nicht
daran gedacht, etwas im IT-Bereich
zu machen. Aber jetzt
kann ich es mir vorstellen.
Tuana, Schülerin
Bei den Explainer:innen wird bewusst darauf geachtet, dass ihr Alter nicht weit entfernt von dem der Schüler:innen ist. Rekrutiert wird oft über Empfehlungen oder Schwarze Bretter an Universitäten oder Fachhochschulen. „Wir achten darauf, dass die Explainer:innen selbst etwas Technisches oder Naturwissenschaftliches erlernt haben“, erklärt Teamleiterin Wrohlich. Immer wieder gebe es aber auch Ausnahmen. Imani etwa studiert noch nicht, sondern bereitet sich aktuell auf den Zahnmedizin-Aufnahmetest vor. „Am wichtigsten ist uns, dass die Explainer:innen die Inhalte gut an die Schüler:innen vermitteln können“, so Wrohlich. Vorbereitungsmaterialien und das Zuschauen bei bestehenden Workshops würden zur Schulung dienen. Und die finden in der Brunhildegasse täglich statt. „Unsere Angebote sind oft innerhalb von 24 Stunden ausgebucht“, beschreibt Wrohlich die große Nachfrage. Pro Jahr erreiche man damit fast 2.000 Schüler:innen.

Spielerischer Zugang zum Thema Berufswahl
„Denkt einfach logisch, okay?“, weist Tuana ihre Schulkolleg:innen ein, bevor sie loslegt. Die Klasse spielt Activity. Mit einem überdimensionierten Würfel wird entschieden, ob die Jugendlichen einen vorgegebenen Begriff erklären, zeichnen oder pantomimisch darstellen sollen. Das jeweilige Team muss erraten, was gemeint ist. Tuana beginnt nachzustellen, wie sie auf einer Tastatur tippt und dabei immer wieder auf einen imaginären Bildschirm schaut. „E-Mail!“, rufen mehrere Schüler:innen aus der Gruppe in ihre Richtung, noch lange bevor die Zeit abgelaufen ist.

Die spielerischen Elemente sind es auch, die der 15-jährigen Tuana an dem Workshop am besten gefallen haben. Nach der Schule möchte sie eine Lehre zur PKA machen – zur pharmazeutisch-kaufmännischen Assistenz. „Ich interessiere mich für Medizin. Aber man kann auch etwas mit IT im medizinischen Bereich machen“, sagt Tuana, und das hat sie heute gelernt. Auch bei Ana hat der Workshop neue Ideen über ihre berufliche Zukunft entstehen lassen. Bisher habe sie nicht daran gedacht, etwas im IT-Bereich zu machen. „Aber jetzt kann ich es mir vorstellen“, sagt sie am Ende der vier Stunden. Der Workshop scheint seinen Zweck erfüllt zu haben.
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