Man könnte in diesen Tagen ja der Ansicht sein, der Neoliberalismus habe langsam, aber sicher ausgedient. Man könnte darauf hoffen, dass die Regierenden in Europa verstanden hätten, dass die Privatisierung öffentlicher Aufgaben, die Deregulierung der Wirtschaft und die Prekarisierung der Arbeitswelt die gespenstischen Erfolge der neurechten Demagogen von Hofer bis Trump mit ermöglicht haben. Man könnte zu dem Schluss kommen, dass mithin deren weiterer Rückbau eine schlechte Idee ist.
Denkt man dagegen an die Angriffe auf den 8-Stunden-Tag oder die Auseinandersetzungen um die Tarifeinheit zurück, die in Deutschland allein in den vergangenen zwei Jahren zu beobachten waren, so wird schnell deutlich, dass die Hegemonie marktliberalen Denkens keineswegs gebrochen ist. Von den Plänen der rechtsradikalen „AfD“, die davon träumt, den Mindestlohn wieder abzuschaffen und den Arbeitsmarkt weiter zu deregulieren, gar nicht zu reden.
Dramatische Einbrüche
Auch beim Vergleich von Tarifbindung oder Mitgliederzahlen der 1990er-Jahre mit der Gegenwart wird die dramatische Entwicklung der deutschen Arbeitsbeziehungen im Zuge des neoliberalen Umbaus der Gesellschaft in den vergangenen zwei Jahrzehnten deutlich. So haben die im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) vertretenen Mitgliedsgewerkschaften zwischen 1991 und 2012 rund die Hälfte ihrer Mitglieder verloren. Auch die Tarifbindung brach dramatisch ein, Flächentarifverträge erfassen gegenwärtig keine 20 Prozent der Beschäftigten mehr. Jüngst erst wurde vermeldet, die Gesamtzahl der Beschäftigten habe mit über 43 Millionen einen Rekordstand erreicht. Zugleich ist der Anteil sogenannter atypischer Beschäftigungsverhältnisse auf rund 40 Prozent angestiegen.
Druck auf Nachbarländer
Das Fundament des „deutschen Jobwunders“ – das regelmäßig als Beleg dafür herhalten muss, dass die Agenda-Politik der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder sinnvoll gewesen sei – ist also eine drastische Schwächung der Gewerkschaften. Sie hatte eine weitgehende Fragmentierung und Deregulierung des Arbeitsmarktes zur Folge, verbunden mit der Schaffung des größten Niedriglohnsektors in Europa. Und dies wiederum übt massiven Druck auf die Nachbarländer, darunter auch Österreich, aus.
So weit, so schlecht, jedenfalls aus Sicht des DGB und der Mehrheit der Beschäftigten in Deutschland und Europa. Und doch gibt es Gründe zu vorsichtigem Optimismus, und das nicht nur, weil die größte Volkswirtschaft Europas es nach jahrelanger Knochenarbeit der DGB-Gewerkschaften endlich geschafft hat, einen Mindestlohn einzuführen, auch wenn dieser kaum genügend Geld zum Leben lässt. Vielmehr haben die deutschen Gewerkschaften in den vergangenen Jahren den Abwärtstrend deutlich gebremst und zu neuem Selbstbewusstsein gefunden – und zwar nicht nur die betont selbstbewusst auftretende IG Metall.
Davon zeugen die zahlreichen Arbeitskämpfe etwa bei den Sozial- und Erziehungsdiensten, bei der Post oder im Flugverkehr. Davon zeugt ein stetiger Anstieg der Streiktage in den letzten Jahren auf allein zwei Millionen Arbeitstage in 2015. Davon zeugen aber auch verstärkte Bemühungen um die Erneuerung der eigenen Organisationstrukturen und neue Plattformen zum innergewerkschaftlichen Austausch wie etwa die Konferenz „Gemeinsam gewinnen – Erneuerung durch Streik“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die Ende September bereits zum dritten Mal in Frankfurt am Main stattfand.
Wirksame Solidaritätsaktionen
Wie können Gewerkschaften wieder durchsetzungsfähiger werden? Diese Frage zog sich wie ein roter Faden durch die Konferenz. So haben Streiks in Öffentlichkeit und Politik immer öfter ein negatives Image. Dazu kommt, dass den Arbeitgebern meistens kaum noch wirtschaftlicher Schaden durch die Arbeitsniederlegung zugefügt werden kann. Das ist nicht zuletzt eine Folge von Deregulierung und Fragmentierung, durch die es leichter wird, Beschäftigte gegeneinander auszuspielen. Hier kommt ein anderer Aspekt zum Tragen, der immer wieder als wichtiges und zentrales Mittel in Arbeitskämpfen betont wurde: die Solidarität der Beschäftigten untereinander. Carsten Becker von der Berliner Charité machte etwa darauf aufmerksam, wie wichtig Solidarität und Zuspruch von anderen ArbeitnehmerInnen für Streikende sind. Er wies auf die einfache, aber wirksame Methode hin, Fotos oder Videos zu Solidaritätsaktionen zu machen und diese den Streikenden zu schicken. Das hatte schon den Charité-Streikenden viel Kraft gegeben.
In vielen Veranstaltungen der Konferenz wurde ein Grundgedanke erkennbar, der maßgeblich zum neuen Selbstbewusstsein beigetragen hat und der dem sogenannten Organizing entlehnt ist. Dahinter verbirgt sich ein in den Ghettos amerikanischer Großstädte entwickelter Baukasten verschiedener Empowerment-Werkzeuge, die zunächst von US-Gewerkschaften und seit einigen Jahren auch von den deutschen Kollegen übernommen wurden. Das durchgehende Prinzip beim „Organizing“ wird treffend mit der Parole auf den Punkt gebracht: „Never do for a worker what he can do for himself“.
Schlagkräftig werden
So erhalten die Beschäftigten, die sich beim Online-Giganten Amazon gegen unzumutbare Arbeitsbedingungen wehren, ebenso logistische und moralische Unterstützung wie die Hamburger Wachleute, die höhere Löhne forderten. Den eigentlichen Arbeitskampf aber müssen und sollen sie selbst führen, auf Augenhöhe mit dem Arbeitgeber, während die Funktionäre aus der Zentrale im Hintergrund bleiben. Auf diese Weise wandeln sich Gewerkschaften von großen, trägen Stellvertreter-Organisationen zu schlagkräftigen, basisdemokratischen Organisationen, die effektive Unterstützung dort bieten, wo sie gebraucht wird – und die wie nebenbei die Demokratie von innen heraus erneuern.
Der Streik als der Kristallisationspunkt gewerkschaftlicher Machtausübung steht im Zentrum dieser Strategie, denn: „Streik stellt immer die Machtfrage“, so der langjährige Organizing-Theoretiker und Aktivist Juri Hälker. „Streik hat immer einen emanzipatorischen Charakter“, ergänzte der stellvertretende Vorsitzende der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Thomas Händel.
Wie relevant diese Machtfrage heute nicht nur in Deutschland ist, zeigte auch der Vortrag von André Hemmerle, Vorstandsmitglied der französischen Nahrungsmittelgewerkschaft CGT-FNAF, der von den Streiks und Aktionen gegen die geplante Arbeitsgesetzgebung in Frankreich berichtete. Diese wird nebenbei bemerkt häufig mit der rot-grünen Agenda-Politik verglichen, deren Folgen für Gewerkschaften und Arbeitswelt eingangs beschrieben wurden.
Dass sich Gewerkschaften in Europa gegen Versuche wehren müssen, die oft ohnehin eingeschränkten Spielräume weiter zu beschneiden, das wurde auch an anderen Stellen der Tagung deutlich. So erinnerte Thomas Händel daran, dass die von den EU-Institutionen erzwungene antigewerkschaftliche Gesetzgebung der letzten Jahre in Griechenland fatale Auswirkungen auf ganz Europa haben dürfte, so sie ohne koordinierte gewerkschaftliche Gegenwehr bliebe: „Das macht nicht halt vor den Grenzen in Europa, das schwappt zu uns zurück.“
Vor dem Hintergrund des massiven Rechtsrucks in Europa und den USA machte die Frankfurter Konferenz fast schon ungewollt deutlich, wie eng wirtschaftlicher Ausgleich und Demokratie verbunden sind und warum die Beschneidung gewerkschaftlicher Macht und gewerkschaftlicher Rechte stets ein Alarmsignal für die politische Entwicklung einer Gesellschaft ist. In Ungarn etwa lässt sich seit Jahren beobachten, wie rechtsautoritäre Machthaber mit ArbeitnehmervertreterInnen umspringen, in den USA dürften in dieser Hinsicht finstere Zeiten anbrechen.
Stürmische Zeiten
Der autoritäre Kapitalismus, wie er mit Figuren wie Donald Trump, Marine Le Pen oder auch Norbert Hofer aufzieht, fordert gegenwärtig die Demokratie heraus. PolitikerInnen und Parteien scheinen häufig zu schwach, um den Aufwärtstrend der Rassisten und Antidemokraten zu stoppen. Gewerkschaften können hier eine wichtige Aufgabe übernehmen, die weit über die Verteidigung ihrer ureigenen Rechte hinausgeht. Sie könnten ein weiteres Mal in ihrer Geschichte Avantgarde in stürmischen Zeiten sein.
Linktipp:
Dokumentation der Streikkonferenz
tinyurl.com/gwmnjbc
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Von Lukas Franke, Freier Journalist
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 10/16.
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