Nach acht Jahren im Unternehmen wurde ein Grafiker vor die Wahl gestellt: Entweder er wird selbstständig – oder gekündigt. Die Auftragslage habe sich leider rapide verschlechtert, lautete die Begründung. Der Arbeitsalltag des Grafikers hat sich nicht verändert. Er hat fixe Arbeitszeiten, muss um Urlaub anfragen und bezieht seine Honorare von seinem früheren Arbeitgeber. Aber sein Einkommen ist um die Hälfte geschrumpft, da er seine Sozialbeiträge nun selbst zahlen muss.
Junge unter Druck
Das ist nur einer von vielen Fällen, die der „Watchlist Prekär“ (www.watchlist-prekaer.at) der GPA-djp anonym gemeldet wurden. Wird eine Scheinselbstständigkeit vermutet, wird sie an die Gebietskrankenkasse zur Überprüfung weitergeleitet. Bis zu zwei Drittel der freien Dienst- und WerkvertragsnehmerInnen sind nach Einschätzung der Gewerkschaft als Scheinselbstständige einzustufen. Erweist sich der Verdacht als begründet, müssen Unternehmen ausständige Ansprüche, etwa zur Pensionsversicherung, bis zu fünf Jahre rückwirkend nachzahlen.
Angesichts des angespannten Arbeitsmarktes wagen aber viele nicht, sich über unfaire Arbeitsbedingungen zu beschweren. „Je höher die Arbeitslosigkeit, desto mehr nehmen Menschen in Kauf, um den Job zu behalten“, erklärt Veronika Kronberger, Verantwortliche für die Interessengemeinschaft work@flex, welche die Watchlist bei der GPA-djp betreibt. Auch gut Ausgebildete hangeln sich von Praktikum zu Praktikum, in der Hoffnung, eine feste Anstellung zu finden. Doch das gelingt immer seltener. „In vielen Fällen werden Praktikanten aus Kostengründen durch Praktikanten ersetzt“, kritisiert Kronberger.
Die Zahl jener, die in atypischen Beschäftigungsverhältnissen arbeiten, ist von 2011 bis 2015 um 6,6 Prozent auf 463.300 gestiegen. Zu den atypischen Beschäftigungen zählt die Statistik Austria Neue Selbstständige, zeitlich befristete Jobs, LeiharbeiterInnen oder freie DienstnehmerInnen. Im Jahr 2015 wurden bei der Wirtschaftskammer Österreich 290.061 Unternehmen als sogenannte Einpersonenunternehmen (EPUs) geführt – das sind fast 60 Prozent der Mitglieder. Laut Umfragen der Wirtschaftskammer starten sogar 80 Prozent der GründerInnen ihr Unternehmen ohne MitarbeiterInnen. Zu den EPUs kommen 48.469 Neue Selbstständige, die keinen Gewerbeschein besitzen und als FreiberuflerInnen auf Werkvertragsbasis arbeiten. Im Schnitt verdienen die Einpersonenunternehmen rund 11.600 Euro. Nicht ohne Grund befürchten diese Personengruppen also, später keine existenzsichernde Pension zu haben.
Die Gewerkschaft hat sich in den vergangenen Jahren im Kampf gegen Scheinselbstständigkeit starkgemacht. Ziel war eine Regulierung atypischer Dienstverhältnisse – mit Erfolg: Diese sind mit circa einem Prozent aller unselbstständig Beschäftigten inzwischen die kleinste Gruppe der „atypisch“ Erwerbstätigen. Im Jahr 2008 wurde quasi die sozialversicherungsrechtliche Gleichstellung eingeräumt, dazu kamen weitere ArbeitnehmerInnenrechte. Seitdem ist ihre Zahl um 24.000 Personen zurückgegangen, ein Minus von 39 Prozent. Rund 70 Prozent der freien DienstnehmerInnen haben übrigens mindestens die Matura oder einen Universitätsabschluss.
Pensionsloch
Geringfügige Jobs, auch Minijobs genannt, sind für viele Menschen notwendig, weil das Einkommen vom Hauptjob zu gering ist. Für manche sind sie der einzig verfügbare Job, und gerade für Junge sind sie die Möglichkeit zum Einstieg ins Berufsleben. KritikerInnen merken an, dass die Betroffenen meist nicht sozialversichert sind – was der eigentliche Witz an der Sache ist –, allerdings fallen sie dadurch um wichtige Pensionsmonate um. Sie können sich freiwillig versichern, der Versicherungsbetrag beläuft sich auf rund 59 Euro. „Ich kann, trotz des niedrigeren Gehalts, jungen Leuten nur empfehlen, sich kranken- und pensionsversichern zu lassen, um wertvolle Beitragszeiten zu sammeln“, sagt WIFO-Expertin Christine Mayrhuber.
Von der Arbeitszeit hängt das Einkommen ab. Wer 2.100 Euro netto pro Monat verdient, arbeitet laut einer aktuellen AK-Erhebung im Schnitt 40,5 Stunden pro Woche. In der niedrigsten Einkommensstufe mit 800 Euro sind es 25,9 Stunden pro Woche. Die Teilzeitquote ist mit rund 48 Prozent bei Frauen sehr hoch. „Es ist einerseits positiv, dass Frauen am Arbeitsmarkt stärker Fuß gefasst haben und durch Teilzeitjobs versichert sind. Aber das Pensionssystem ist auf Vollzeitjobs angelegt“, betont Mayrhuber. Viele Frauen haben deshalb durch längere Teilzeitarbeit später keine existenzsichernde Pension.
Vom Arbeiten in prekären Jobs sind ältere ArbeitnehmerInnen ab 55 Jahren besonders betroffen, ebenfalls von Arbeitslosigkeit. „Das Problem ist, dass die Arbeitsplätze für Ältere oft nicht da sind und viele von der Arbeitslosigkeit in die Pension wechseln“, sagt AK-Arbeitsmarktexpertin Ilse Leidl-Krapfenbauer. Sie hält ein Bonus-Malus-System für sinnvoll, um Arbeitgeber zu motivieren, Menschen, die älter als 55 Jahre sind, zu beschäftigen.
Mehr und bessere Jobs
Eine Gruppe, die besonders oft auf Arbeitssuche oder auch in prekären Jobs beschäftigt ist, sind Menschen mit Behinderung. Zwar gibt es hohe Lohnkostenzuschüsse, Arbeitgeber entscheiden sich – wohl auch angesichts des derzeit großen Angebots an Arbeitskräften – oftmals für Bewerber ohne (offensichtliche) Behinderung. Dabei müssen Betriebe ab 25 Mitarbeitern auch Menschen mit Behinderungen anstellen, sonst wird eine „Ausgleichstaxe“ fällig, die je nach Betriebsgröße monatlich zwischen 251 und 374 Euro liegt. „Das ist viel zu wenig, dass sie Betriebe zum Umdenken bewegt“, so Leidl-Krapfenbauer.
„Prekäre Beschäftigungen gibt es in immer mehr Bereichen, vom Handel übers Gastgewerbe bis hin zu Reinigungsdiensten“, sagt Sozialwissenschafter Jörg Flecker. Auch im öffentlichen Dienst finden sich immer wieder Fälle. Eine ausreichende Altersvorsorge ist mit einem Gehalt, das oft unter der Armutsgefährdungsgrenze liegt, unmöglich. Flecker sieht in unsicheren Niedriglohnjobs zudem eine Bedrohung für das Pensionssystem, weil diese Beschäftigtengruppe entsprechend niedrige Beiträge leistet. Der Sozialwissenschafter fordert, dass sozial- und arbeitsrechtliche Bestimmungen stärker kontrolliert werden. Außerdem brauche es mehr Jobs: „Das geht wohl nur über Arbeitszeitverkürzung“, so Flecker. Vollzeitbeschäftigte arbeiten hierzulande über 40 Stunden pro Woche. Der Sozialwissenschafter plädiert für eine 30-Stunden-Woche. Finanziert werden könnte das durch eine Entlastung der Lohnnebenkosten in Branchen mit besonders vielen Arbeitskräften. Kapitalintensive Branchen, die weniger Beschäftigte haben, könnten stärker zur Kasse gebeten werden.
AK-Experte Gernot Mitter hält eine privilegierte Behandlung bestimmter Formen prekärer Beschäftigung bei der Pensionsversicherung für machbar. Er denkt dabei an eine Erhöhung der „Mindestpension“: Eine solche gibt es in Österreich indirekt über die Ausgleichszulage, die jene erhalten, deren Pension unter 882,78 Euro liegt. Finanziert werden könnte dies durch einen Zuschuss aus Steuermitteln. „Die Frage ist aber, in welcher Höhe sich eine Mindestpension – ob man sie jetzt Volkspension oder wie in Österreich Ausgleichszulage nennt – gesellschaftlich durchsetzen lässt.“ Mitter kritisiert den Verlauf der öffentlichen Diskussion zu diesem Thema, die sich nur darum drehe, dass die ÖsterreicherInnen sparen und länger arbeiten müssen, „weil wir uns die Pension sowieso nicht leisten können. In so einem politischen Umfeld wird das schwierig werden.“
Solidarische Lösung nötig
Eine individuelle Vorsorge für prekär Beschäftigte ist für Mitter keine Lösung. Wer mit seinem Geld „gerade so übers Monat kommt“, könne sich keine Altersvorsorge leisten: „Da braucht es solidarische Systeme.“ Für Scheinselbstständige oder EPUs, die von nur wenigen Auftraggebern abhängig seien, bedeute das, dass man für die Betroffenen Mindesthonorarhöhen durchsetzen müsse.
Vom Kapitalmarkt abhängige Ansparformen, wie zum Beispiel Pensionsfonds, sind für Mitter zu unsicher: „In den USA sind die Pensionen der über 70-jährigen in der Finanzkrise weggeschmolzen.“ Die Arbeiterkammer hält deshalb weiter am Umlageverfahren fest, bei dem einbezahlte Beiträge unmittelbar für die Finanzierung der Leistungsberechtigten benutzt, also an diese wieder ausgezahlt werden. Denn, so Mitter: „Ökonomisch Schwächere haben so eine Absicherung.“
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Von Sandra Knopp und Udo Seelhofer, Freie JournalistInnen
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 4/16.
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