Jährlich grüßt das Managertier

Thomas und Monika füllen einen Fragebogen aus. Thomas ist Manager eines internationalen Versicherungsunternehmens, Monika Angestellte im Einzelhandel. Sie können für jede Frage auf einer Skala von 1 bis 7 Punkte vergeben, je mehr sie zustimmen, desto mehr Punkte werden sie geben.
Eine Frage betrifft den Kündigungsschutz für ArbeitnehmerInnen in Österreich. Als Manager findet Thomas, dass in Österreich ein recht starker Kündigungsschutz herrscht. Er möchte so flexibel wie möglich kündigen und einstellen können, also gibt er die vollen 7 Punkte. Monika hingegen schätzt ein sicheres Arbeitsumfeld, in dem sie ihrer Arbeit in Ruhe nachgehen kann, ohne sich mit Gedanken über eine plötzliche Entlassung beschäftigen zu müssen. Sie findet, in Österreich ist der Kündigungsschutz ohnehin nicht so stark ausgebaut, und vergibt 3 Punkte.
Auch ihre Meinung zur Unternehmensbesteuerung wird abgefragt. Monikas Reallohn steigt seit Jahren kaum – gleichzeitig liest sie in der Zeitung davon, dass Unternehmen ihre Gewinne in Steueroasen verlagern und dem Sozialstaat dadurch die Finanzierungsquelle mehr und mehr entzogen wird. Sie findet, dass auch die Unternehmen mit ihren steigenden Umsätzen einen größeren Beitrag leisten sollten, und vergibt daher 2 Punkte. Thomas dagegen möchte den steuerlichen Beitrag seines Unternehmens auch weiterhin gering halten. Er gibt 6 Punkte, um zu zeigen, dass er in Österreich die Unternehmenssteuern für zu hoch hält.
Der Fragebogen ist vom World Economic Forum (WEF), das jedes Jahr für eine Vielzahl von Ländern ein Wettbewerbsranking herausgibt. Dieses Ranking besteht neben wirtschaftlichen Daten aus Befragungen. Nur die Hälfte der bisherigen Geschichte kann sich allerdings wie eben beschrieben zugetragen haben – denn Monika wird als Arbeitnehmerin dafür in Wirklichkeit nie befragt werden.

Einseitige Sicht
Das WEF interessiert sich nämlich lediglich für die Ansichten von ManagerInnen. Nur Thomas kann also einer von circa 100 österreichischen ManagerInnen sein, die jährlich über die Fragebögen des WEF kundtun, wie ihrer Meinung nach Österreich wirtschaftlich dasteht. Da nur ManagerInnen befragt werden, ist das daraus entstehende Ranking ausschließlich von deren Sicht geprägt. Dabei spielen politische Interessen eine wesentliche Rolle: Fragen zur Effizienz des Staates, der Unternehmensbesteuerung oder der Lohnsetzung beispielsweise werden grundsätzlich anders beurteilt werden, wenn sie von politischen Absichten wie Steuersenkungen für Unternehmen oder einer Flexibilisierung der Löhne getrieben sind.
Außerdem stellt sich die Frage, ob die einzelwirtschaftliche Sicht von ManagerInnen überhaupt dazu in der Lage ist, den gesamtwirtschaftlichen Zustand der Volkswirtschaft zu beschreiben. Thomas wünscht sich vielleicht eine Lohnsenkung in seinem Unternehmen, da er dann mit geringeren Personalkosten seine Versicherungen billiger anbieten kann. Also wird er im Fragebogen das Lohnniveau als zu hoch angeben. Werden aber die Löhne aller ArbeitnehmerInnen gesenkt, können letztlich auch alle weniger konsumieren, Kaufkraft und Unternehmensumsatz sinken damit – Thomas wird weniger Versicherungen unter die Leute bringen. Thomas’ betriebswirtschaftliche Sicht ist damit ungeeignet, einen gesamtwirtschaftlich sinnvollen Rat zu geben.

Österreich hinter Kasachstan?
Die Befragungen führen dann auch zu paradoxen Ergebnissen. Laut aktuellem Ranking etwa liegt Österreich bei der Frage nach der Verschwendung öffentlicher Ausgaben hinter Ländern wie Ghana, Libyen, Botswana oder Ruanda auf Platz 55. In Kasachstan, China, Bhutan oder dem Oman haben ManagerInnen laut Befragung ein größeres Vertrauen in Politik und Gesetzgebung als in Österreich. Und auch die Unabhängigkeit der Justiz (Österreich auf Platz 27) scheint in Saudi Arabien, Südafrika, Uruguay oder Katar besser gewährleistet zu sein. Es ist offen, ob die Antworten der ManagerInnen nicht vielleicht anders ausgefallen wären, wenn sie auch danach gefragt worden wären, wie Österreich im Vergleich zu diesen Ländern dasteht. Dennoch interpretiert das WEF dies in die Antworten hinein. Damit ist klar: Eine ernstzunehmende Vergleichbarkeit zwischen Ländern erlauben die Ergebnisse nicht. Dass das WEF zudem Befragungsergebnisse, die stark von jenen der Vorjahre abweichen oder nicht ins Bild passen, einfach „bereinigt“ und sich die Daten damit so zurechtschustert, wie sie gerade benötigt werden, ist da nur das Tüpfelchen auf dem I.

Frosch- versus Adlerperspektive
Das WEF verwendet für seine Rankings zum Teil offizielle Daten wie das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Aber auch bei deren Auswahl kommt die einzelwirtschaftliche Froschperspektive zum Tragen. So könnte man beispielsweise der Meinung sein, dass Arbeitslosigkeit und Beschäftigung zur Bewertung der österreichischen Wettbewerbsfähigkeit eine Rolle spielen sollten. Schließlich ist es wichtig, wie es am Arbeitsmarkt läuft: Müssen sich die Unternehmen um knappe Arbeitskräfte raufen? Oder haben viele Leute kein Arbeitseinkommen, mit dem sie Produkte nachfragen könnten? In den Wettbewerbsindex gehen diese Variablen allerdings nicht ein.
Nicht nur bei den Antworten der ManagerInnen fehlt also die volkswirtschaftliche Adlerperspektive, schon die Auswahl der Fragen findet aus betriebswirtschaftlicher Sicht statt. Deswegen gibt es sogar Widersprüche zwischen den Fragestellungen selbst: Während eine gute Kooperation zwischen ArbeitnehmerInnen und Unternehmen für positiv erachtet wird, bewertet das WEF zentrale Kollektivvertragsverhandlungen als negativ für die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes. Das gibt gerade für Länder wie Österreich, die eine hohe sozialpartnerschaftliche Kooperation in Form von Branchen-Lohnverhandlungen aufweisen, ein unstimmiges Bild ab.
Neben der inhaltlichen Kritik am Wettbewerbsranking stellt sich grundsätzlich die Frage, ob ein einzelner Index überhaupt dazu in der Lage ist, die Situation eines Landes gut abzubilden. Da aus den Teilergebnissen am Ende nur ein einzelner Wert berechnet wird, der dann den „Rang“ des Landes angibt, ist es theoretisch möglich, dass Länder mit gänzlich unterschiedlichen Ausgangsbedingungen rechnerisch auf denselben Wert kommen – obwohl deren Volkswirtschaften völlig anders geartet sind. So sind etwa Spanien und Katar Ranglisten-Nachbarn, die vom WEF als ähnlich wettbewerbsfähig eingestuft werden. Sinnvoller wäre es, Fakten wie zum Beispiel Arbeitslosigkeit, Kaufkraft, Investitionen und Forschungsausgaben nebeneinander abzubilden, um einen Blick für das „große Ganze“ zu bekommen, anstatt alles in einen Topf zu werfen.

Wettbewerbsrankings wie jene des World Economic Forum sind daher mit großer Vorsicht zu genießen. Sie spiegeln die Interessen von UnternehmerInnen wider und nicht, wie sie behaupten, die objektive Wettbewerbsfähigkeit eines Landes. Sie sind denn auch der jährliche Anlass für ein großes Gejammer um den Zustand der österreichischen Wirtschaft – politische Forderungen nach Steuersenkungen, Förderungen und Deregulierung für Unternehmen folgen ihnen meist auf den Fuß.
Sieht man sich abseits des WEF-Rankings einige Daten zur österreichischen Volkswirtschaft an, ergibt sich ein gänzlich anderes Bild: Da rangiert Österreich beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf seit rund 20 Jahren stabil unter den reichsten Volkswirtschaften Europas, und die Armutsgefährdung ist niedrig. Auch die heimische Industrieproduktion liegt weit über jener des Euroraum-Durchschnitts und damit im europäischen Spitzenfeld. Natürlich gibt es viele wichtige Baustellen, an denen gearbeitet werden müsste: Die hohe Arbeitslosigkeit etwa; die Stagnation niedriger Einkommen wird ein immer größeres Problem, je länger sie andauert; die extrem niedrige Besteuerung von Vermögen bedingt die hohe Besteuerung von Arbeit; und die Flüchtlingskrise hat offengelegt, dass in der Sprachförderung und der Integration in den Arbeitsmarkt Handlungsbedarf besteht. Aber diese Problemfelder sind klassische Interessenkonflikte, die mithilfe sauberer Daten und klarer Positionen ausdiskutiert werden müssen. Pseudowissenschaftliche Rankings helfen hier nicht weiter.

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Von Miriam Rehm, Abteilung Wirtschaftswissenschaft der AK Wien
Max Mayerhofer, Student der Volkswirtschaft an der WU Wien

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 6/16.

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