Der 17. ÖGB-Bundeskongress beschloss 2009 eine große Reform der Statuten des Österreichischen Gewerkschaftsbundes. In den Jahrzehnten, die seit der Wiederbegründung einer staatsunabhängigen demokratischen Gewerkschaftsbewegung vergangen waren, hatte sich vieles geändert. Die in Paragraf 3 der Statuten festgelegten Selbstverpflichtungen des ÖGB spiegelten die Veränderungen wider. So kam zum Beispiel nach dem EU-Beitritt Österreichs und angesichts von öffentlichen Angriffen auf Gewerkschaftsrechte die Verpflichtung zur „Wahrung der in der Verfassung verankerten Rechtsstaatlichkeit in einem sozialen Europa“ hinzu.
Der „unentwegte Kampf zur Hebung des Lebensstandards der ArbeitnehmerInnen Österreichs“ blieb selbstverständlich immer unverändert im Zentrum – wie auch die Sicherung des Weltfriedens. Aber noch eine andere Selbstverpflichtung gibt es seit der ÖGB-Gründung: jene, den Faschismus zu bekämpfen.1
Einmischung notwendig
Angesichts des Inhalts von Paragraf 3 werden sich viele fragen, was das alles mit einer Gewerkschaftsbewegung zu tun hat, – natürlich mit Ausnahme der Verpflichtung zum Kampf für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen der ArbeitnehmerInnen. Und zusätzlich werden sich wohl manche auch noch fragen, warum sich der ÖGB 66 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch immer zum Kampf gegen den Faschismus verpflichtet. Zunächst der Versuch einer Antwort auf die erste Frage: Es kann keiner Gewerkschaft der Welt, die diesen Namen verdient, gleichgültig sein, wie die Gesellschaft und der Staat um sie herum beschaffen sind – ob Frieden herrscht oder Krieg, ob GewerkschafterInnen verfolgt werden oder beim Eintreten für ArbeitnehmerInneninteressen persönlich sicher sind, ob das Recht auf Organisation erst erkämpft werden muss oder außer Frage steht, ob gute Lohnabschlüsse weggesteuert werden oder nicht und vieles mehr. Deshalb mischte sich die Gewerkschaftsbewegung von Anfang an in die Politik ein. In Österreich musste sie es 1869 tun, um erst einmal Koalitionsfreiheit durchzusetzen, das heißt die Beseitigung der Strafdrohung für Gewerkschaftsgründung und Arbeitskämpfe.
Sie mischte sich auch massiv ein, um ein demokratisches Wahlrecht zu erreichen, das 1907 wenigstens für Männer Wirklichkeit wurde. Sie begann, Kollektivverträge abzuschließen, und schuf damit eine neue Rechtsform, die über das Individualrecht für die Arbeitsbeziehungen im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch weit hinausging. In der Demokratie der Ersten Republik stellte Richard Wagner, der Leiter der Wiener Gewerkschaftsschule, 1925 überhaupt einen „Funktionswandel der Gewerkschaften“ fest: „Wenn die freien Gewerkschaften heute lange nicht mehr Vereine unter anderen Vereinen im Gesellschaftsleben sind, die irgendwelche Sonderinteressen ihrer Mitglieder vertreten, also in unserem Fall mehr Lohn und geringere Arbeitszeit, sondern wenn sie immer größere Massen zu gemeinsamem Wirtschaftswillen zusammenschließen …, dann wandelt sich ihre Funktion, Gruppenvertretung in den gegebenen Wirtschaftsverhältnissen zu sein, zu der allgemeinen gesellschaftlichen Funktion, die Wirtschaftsverhältnisse bewusst zu beeinflussen.“2 Es war also nur eine konsequente Weiterführung der Gewerkschaftsstrategien der Zeit vor dem Faschismus, die den ÖGB nach 1945 zu einem entscheidenden Faktor für den demokratischen und wirtschaftlichen Wiederaufbau Österreichs werden ließ.
Auch 2011 noch wichtig
Das Stichwort „Faschismus“ führt zum Versuch einer Antwort auf die zweite Frage, warum der Kampf gegen Faschismus und Reaktion im Jahr 2011 noch immer als Selbstverpflichtung in den ÖGB-Statuten zu finden ist. Dazu vorab ein notwendiger Hinweis: Es wird nicht auf den Nationalsozialismus allein Bezug genommen, sondern auf faschistische Ideologien und Systeme generell. Es gibt leider keine Dokumentation des Diskussionsprozesses bei der Formulierung der ersten Statuten, aber man kann davon ausgehen, dass damit die Absicht ausgedrückt werden sollte, nicht nur etwaigen nationalsozialistischen Umtrieben entgegenzutreten, sondern auch jedem Ansinnen, Elemente des austrofaschistischen Ständestaat-Systems, das 1934 bis 1938 geherrscht hatte, wiederzubeleben. Auf jeden Fall wurden die Statuten von den VertreterInnen der ehemaligen christlichen Gewerkschaften im überparteilichen ÖGB mitgetragen, obwohl diese trotz Gegnerschaft zu den faschistischen Heimwehren in das Regime eingebunden gewesen waren.1945 wusste ja niemand wirklich, wie es weitergehen würde, und der Ständestaat war es gewesen, der 1934 alle eigenständigen, staats- und unternehmensunabhängigen Gewerkschaften verboten hatte. Wie tief und lang diese historischen Ereignisse nachwirken, zeigt übrigens die aktuelle politische Diskussion um die längst überfällige Aufhebung der Strafurteile gegen GegnerInnen der austrofaschistischen Diktatur.
Diese Ära ist nicht vorbei
Trotzdem vertreten viele Menschen, darunter auch etliche HistorikerInnen, den Standpunkt, die Ära des Faschismus sei endgültig vorbei, man solle die Vergangenheit Vergangenheit sein lassen und Nationalsozialismus, italienischen Faschismus, Austrofaschismus, das spanische Franco-Regime, den kroatischen Faschismus und all die anderen Spielarten nicht anders behandeln wie zum Beispiel die Regierungszeit von Kaiser Franz Joseph. Es stimmt ja auch: Außer ein paar nostalgischen Neo-Nazis wird niemand mehr Outfit und Sprache dieser historischen Regime verwenden. Aber sind deshalb auch ihre Ideen und Ziele verschwunden? Die Antwort darauf wird unterschiedlich ausfallen, je nachdem, wie und durch wen Faschismus definiert ist.
Der US-amerikanische Historiker Stanley G. Payne kam in seinem 1995 erschienenen Standardwerk „A History of Fascism“3 zu dem Ergebnis, dass zwar „der spezifische historische Faschismus niemals wiedererschaffen werden kann. Jedoch wäre es möglich, dass wir am Ende des 20. Jahrhunderts Zeugen eines Aufstiegs neuer und teilweise ähnlicher Formen von autoritärem Nationalismus, insbesondere in Osteuropa, Afrika und Asien, werden“. Der deutsche Historiker Andreas Umland stimmt dem zu, hält aber die Definition als „autoritärer Nationalismus“ für zu harmlos. Er verlangt: „Faschismus sollte als eine spezielle Form von Rechtsextremismus konzipiert werden, wie unter anderem die … häufigen Allianzen zwischen faschistischen und anderen antidemokratischen rechten Gruppierungen und deren gelegentliche Verschmelzung zu indizieren scheinen.“4
Staatsunabhängige eigenständige Gewerkschaften, deren Handlungsspielraum untrennbar mit einem demokratischen Umfeld verbunden ist, gehörten zumindest in Europa zu den Angriffszielen des Faschismus und wurden zerschlagen, wo dieser an die Macht kam. Nicht zuletzt auch, weil es echten Gewerkschaften egal ist, welchen „Migrationshintergrund“ ihre Mitglieder haben, – sie sind die Organisation der auf abhängige Arbeit angewiesenen Menschen, unabhängig davon, woher sie kommen. Das widerspricht der rassistischen Ideologie, die alle alten und neuen Formen des Rechtsextremismus miteinander verbindet.
Lebensbegleitendes Lernen
Die meisten Menschen, die heute in Österreich leben, können keine Erinnerung an die Ereignisse vor 80, 70, 60 Jahren haben. Das ist normal. Damit sie aber trotzdem zur Erkenntnis fähig sind, wo faschistische und sonstige rechtsextreme „Problemlösungen“ den demokratischen Weg bedrohen, muss das Gedächtnis an die reale Herrschaft des Faschismus zu einem öffentlichen Kulturgut werden. Oskar Negt, der deutsche Wissenschafter, der immer wieder auch der österreichischen Gewerkschaftsbewegung kritische Nachdenkanstöße gibt, betont aus diesem Grund in vielen seiner Referate: „Nur die demokratische Gesellschaftsordnung ist angewiesen auf lebensbegleitendes Lernen.“5
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1 Die aktuellen Statuten des ÖGB im Web: tinyurl.com/bmhkusx
2 Richard Wagner: Der Funktionswandel der Gewerkschaften und die freigewerkschaftliche Bildungsarbeit. In: Anton Hueber, Franz Domes (Hg.): Arbeit und Wirtschaft, VI. Jg., Heft 13 vom 1. Juli 1928, Sp. 609-614; Sp. 609-610.
3 Stanley G. Payne: A History of Fascism, 1914-1945. XIV + 613 S., The University of Wisconsin Press, Madison 1995.
4 www.neue-politische-literatur.de; Fachbereich 2 der TU Darmstadt > Neue Politische Literatur > Archiv > Online-Rezensionen > e-npl Stanley G. Payne; DL 23.10.2011.
5 Oskar Negt: Politische Bildung und Demokratie – ein Plädoyer für Bildung als Antwort auf die Katastrophe: In AK Oberösterreich (Hg.): 50 Jahre Bildungshaus AK-Jägermayrhof, Linz 2009, S. 52-67; S. 52.
Von Brigitte Pellar (Historikerin)
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 11/2011.
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