Bildung mit schnell

Effizienter, vergleichbarer, internationaler und vor allem schneller sollte das Hochschulstudium werden. Das waren die Hauptmotive für 29 europäische Staaten, im Jahr 1999 im italienischen Bologna eine Deklaration zu unterzeichnen, die den Grundstein für einen gemeinsam gestalteten Hochschulraum legte. Die Wirtschaft hatte schon lange gefordert, Schule und Studium zu verkürzen, um möglichst bald jüngere MitarbeiterInnen zu bekommen. Ihre Stimme wurde erhört. Der Beschluss von Bologna sah eine europaweite Vergleichbarkeit von Studiengängen und -abschlüssen vor, um einen gemeinsamen Wirtschaftsraum zu entwickeln.
Ein Abschluss, egal in welchem Fach, sollte fortan in jedem europäischen Land die gleichen Anforderungen und Titel haben. Dazu wurden in Österreich, bis auf wenige Ausnahmen, die Diplom- und Magister-Abschlüsse abgeschafft. Nach einem dreijährigen Studium erhält man nun den „Bachelor“ als Titel, Master nennen sich nunmehr AbsolventInnen, die im Anschluss zusätzlich zumeist zweijährige Spezialisierungen absolviert haben. Mit der sogenannten Bologna-Reform wurde auch das „Credit Point“-System (ECTS – European Credit Transfer System) eingeführt. Demnach muss jeder Student und jede Studentin mindestens 30 Punkte pro Semester sammeln. Ein dreijähriger Bachelor ist bei 180 Punkten erreicht, während das Masterzeugnis vergeben wird, wenn man 300 „Credit Points“ erzielt hat.
Die Folge: straffe Stundenpläne, vermehrte Anwesenheitspflichten, Voraussetzungsketten und ständige Prüfungen. Die Verdichtung des Studiums lässt wenig Zeit für soziales oder politisches Engagement, geschweige denn einfach nur dafür, einmal über den Tellerrand hinauszublicken. KritikerInnen der Bologna-Reform sagen zudem, dass sich Studierende jetzt zu sehr an den Regelstudienplänen orientieren und nicht am Inhalt. ECTS-Punkte werden zum roten Faden ihres Studiums. Wer heute studiert, braucht erheblichen Ehrgeiz und am besten vermögende Eltern, denn die Reformen der letzten Jahre haben auch die finanzielle Situation für viele Familien verschärft.

Soziale Spaltung
In Österreich ist heute wie in kaum einem anderen europäischen Land die soziale Herkunft für den Bildungserfolg entscheidend. Der Wirtschaftsprofessor Wilfried Altzinger und seine KollegInnen von der WU Wien zeigten kürzlich in einer Studie, dass 54 Prozent der Kinder, die in Haushalten aufwachsen, in denen mindestens ein Elternteil einen akademischen Abschluss aufweist, selbst einen akademischen Titel erreichen. Haben die Eltern hingegen maximal einen Pflichtschulabschluss, schließen nur sechs Prozent der Kinder ein Hochschulstudium ab. Für viele junge Erwachsene aus bildungsfernen und finanziell schwächeren Verhältnissen ist der finanzielle Aufwand der Hauptgrund, auf ein Hochschulstudium an der Universität oder der Fachhochschule zu verzichten. Die monatlichen Lebenshaltungskosten für Studierende in Österreich liegen laut Österreichischem Akademischen Austauschdienst bei durchschnittlich 850 Euro pro Monat. Bei sechs Semestern Regelstudienzeit für ein Bachelorstudium kommen da im Durchschnitt über 30.000 Euro zusammen – für viele Studierende und ihre Familien eine schwere Hürde. Entscheiden sich junge Erwachsene aus „kleinen Verhältnissen“ doch für ein Studium, reicht das Familieneinkommen oft nicht aus, um sie zu unterstützen – und sie müssen arbeiten gehen.

Auch für Sonia Lech ist Geld das größte Problem. Die Tochter einer Kindergärtnerin und eines Bauarbeiters ist die erste in ihrer Familie, die die Hochschule besucht. Lech bezieht Studienbeihilfe und hat zwei Jobs, um sich das Studium zu finanzieren. Die staatliche Studienförderung, die weniger begüterten Studierenden wie ihr zur Absicherung während des Studiums dienen soll, reicht nicht aus, um ihr Studium zu finanzieren. Ein Grund ist, dass in Österreich seit 1999 die Berechnungsgrenzen für die Höhe der Stipendien nicht angepasst wurden. So führen kollektivvertragliche Lohnerhöhungen bei den Eltern beispielsweise zu geringeren Stipendien. Gleichzeitig ist die Studienbeihilfe immer weniger wert, weil auch die Lebenshaltungskosten laufend steigen.
Um die Finanzierung des Studiums zu stemmen, gehen – wie Sonia – mehr als die Hälfte aller Studierenden in Österreich nebenbei arbeiten. Dies trifft laut der letzten Studierenden-Sozialerhebung (2011) gerade zu Beginn des Studiums auf Studierende aus einkommensschwachen Schichten häufiger zu. Des Weiteren belegt die Studie, dass sie im Durchschnitt mehr Stunden arbeiten als ihre besser gestellten StudienkollegInnen – dies allerdings häufiger in Jobs, die mit ihrem Studium nichts zu tun haben.

Angesichts des zeitlichen Drucks, in der vorgegebenen Zeit die nötigen ECTS-Punkte zu sammeln, sind also jene klar im Nachteil, die nebenbei noch jobben müssen. Zum Druck im Studium selbst kommt für sie noch der Druck dazu, sich finanziell über Wasser halten zu müssen. „Die Schwierigkeit liegt dabei darin, den Stundenplan, die Uni und die Arbeit unter einen Hut zu bekommen“, schilderte Sonia vor Kurzem ihre Situation in einer Fernsehreportage. Der ständige Druck und die hohen Anforderungen, ihr Studium in der vorgesehenen Zeit zu schaffen und sich nebenbei größtenteils selbst zu finanzieren, werden zur Belastung. „Dann muss man sich schnell überlegen, ob man nicht doch eher ein Semester länger studiert, um Arbeit und Studium unter einen Hut zu bringen“, erklärt sie. Ihr Beispiel ist kein Einzelfall. Fast die Hälfte der befragten Studierenden in der Studierenden-Sozialerhebung Österreichs berichten über Probleme, Studium und ihre Erwerbstätigkeit zu vereinbaren, und viele StudienanfängerInnen rechnen bereits im ersten Jahr damit, ihr Studium nicht in der Regelstudiendauer abzuschließen. Nicht zuletzt kann die erhöhte Berufstätigkeit leicht zu einem Verlust der Studienbeihilfe mangels ausreichenden Studienerfolgs führen.

Steigende Anforderungen
Ein weiteres Ziel der Bologna-Reform war die Förderung des internationalen Austausches von Studierenden. Jede/r sollte nach Möglichkeit im Ausland ein Gastsemester absolvieren, um Erfahrungen zu sammeln und später auf dem Arbeitsmarkt bessere Chancen zu haben. Aber für viele junge Erwachsene aus einkommensschwachen Familien bedeutet die Internationalisierung des Studiums eine zusätzliche Belastung, die es vor der Reform nicht gab. Oftmals sind die Lebenshaltungskosten im Ausland höher, und es können in manchen Ländern weitere Studiengebühren dazukommen, die von den Auslandszuschüssen kaum vollständig abgedeckt werden können. Wer also nicht über die ausreichenden finanziellen Mittel verfügt, ist klar benachteiligt. Hinzu kommt, dass für das Auslandssemester der Nebenjob aufgegeben werden muss, der für das Einkommen im Alltag notwendig ist. Neben den Auslandserfahrungen erwarten heute viele Unternehmen von ihren potenziellen MitarbeiterInnen zusätzlich, dass sie während des Studiums auch erfolgreich Praktika absolviert haben. Für Studierende mit der entsprechenden finanziellen Unterstützung der Eltern ist diese Anforderung weniger problematisch. Aber die Zeit zu finden, um nebenbei (oftmals unbezahlte) Praktika zu absolvieren, ist für arbeitende Studierende kaum zu schaffen, ohne ihr Studium zwangsläufig ein Semester zu verlängern.

Reduktion der Doppelbelastungen
Die Mehrheit der Bachelor- und Master Studiengänge sind heute als Vollzeitstudiengänge konzipiert. Eine studienbegleitende Berufstätigkeit ist meist nicht vorgesehen. Die durch den Bologna-Prozess verschärften Studienbedingungen haben die Belastungen für Studierende aus finanziell schwächeren Familien und für Berufstätige massiv erhöht. Der Abschluss in der Regelstudiendauer wird fast unmöglich. Zeit für thematische Vertiefungen, Hobbys oder ehrenamtliches Engagement hat nur, wer es sich leisten kann.

Linktipps
Studierenden-Sozialerhebung 2011:
www.sozialerhebung.at/index.php/de/
Eckl & Kastner (2015). Stipendien im Sinkflug:
tinyurl.com/pc74h44

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Von Philipp Schnell, Abteilung Bildungspolitik der AK Wien

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 8/15.

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