Abgezäunte Wohncontainer mitten im Nirgendwo. Auf Wäscheleinen trocknen vereinzelt T-Shirts oder Socken. Die Bilder zeigen das Abschiebelager Gjadër in Nordalbanien, aufgenommen von der albanischen Investigativjournalistin Kristina Millona. Seit Monaten recherchiert sie zu den Zuständen im Lager und fährt dafür wöchentlich aus Tirana in das 500-Seelen-Dorf Gjadër.

Journalist:innen haben jedoch keinen Zugang zum Lager. Die Mitarbeiter:innen haben die Weisung, keine Fragen zu beantworten und auch sonst sickern nur wenige Informationen durch. Um Fotos zu machen, kletterte Millona auf einen nahegelegenen Hügel. Dafür hätte sie auch verhaftet werden können. Das Risiko ging die Journalistin ein. Das Lager ist auf einem ehemaligen Militärgebiet gebaut und wird streng bewacht – von der italienischen, nicht albanischen Polizei. Es war Teil eines Deals zwischen der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und dem albanischen Ministerpräsidenten Edi Rama, um die Migrationspolitik auszulagern.
Plan gescheitert
Doch wie kam es dazu? Albanien und Italien einigten sich vergangenes Jahr darauf, gemeinsam gegen die sogenannte „irreguläre“ Migration vorzugehen. Italien wollte dafür zwei Auffanglager in Albanien bauen. Männer aus „sicheren Drittländern“, die von der italienischen Küstenwache beim Überqueren des Mittelmeers aufgegriffen wurden, sollten nach Albanien gebracht und dort festgehalten werden. Im ersten Lager im Hafen des albanischen Badeorts Shengjin sollten sie einem Schnellverfahren unterlaufen, um letztlich nach Gjadër gebracht und abgeschoben oder weitergeschickt zu werden. Die italienische Regierung wollte mit diesem Konstrukt europäisches Recht umgehen und schneller abschieben: Die EU-Asylverfahrensrichtlinie greift nämlich nur bei Asylanträgen, die an der Grenze, in Transitzonen oder innerhalb der Hoheitsgewässer gestellt werden – nicht jedoch in internationalen Gewässern, wie der deutsche Förderverein Pro Asyl erklärt.
Laut italienischer Regierung sollten so 36.000 Geflüchtete jährlich rückgeführt werden – was Berechnungen des italienischen Innenministeriums zu Folge jährlich 1,7 Milliarden Euro sparen würde.
Italienische Gerichte stoppten das Vorhaben aber, zumindest teilweise: Nach Auffassung der Richter:innen waren die Herkunftsländer der Geflüchteten nicht sicher genug, um dorthin abgeschoben zu werden. Außerdem seien Abschiebeeinrichtungen außerhalb der EU nicht zulässig. Ein Urteil des EuGH steht noch aus. Die italienische Regierung änderte daraufhin die Pläne. So wurde aus Gjadër eine typische Abschiebehafteinrichtung (CPR) – wovon es in Italien schon zehn Stück gibt. Geflüchtete werden inhaftiert und müssen zuerst zurück nach Italien gebracht werden, um abgeschoben zu werden. Das kostet wiederum mehr.
Versuchskaninchen Albanien
„Wir waren schon immer die Versuchskaninchen für diese Art von Verwaltungshaft“, sagt die albanische Journalistin Millona im Gespräch mit der Arbeit&Wirtschaft. Sie sieht die Lager als eine Art Pilotprojekt, das womöglich auf die gesamte EU-Außengrenze ausgeweitet werden könnte. Darauf deuten auch die Gespräche zwischen Friedrich Merz und Christian Stocker hin, wie Insider vermuten.
Wir sind die
Versuchskaninchen für diese
Art von Verwaltungshaft.
Kristina Millona, Journalistin
Albanien war das erste Land, das 2006 ein Rückübernahmeabkommen mit der Europäischen Agentur für Grenz- und Küstenwache (FRONTEX) sowie der EU unterzeichnete und seither undokumentierte albanische Migrant:innen zurückführt. Es ist auch das einzige Land, in dem FRONTEX-Beamt:innen direkt mit der Grenzpolizei zusammenarbeiten.
Traumatisiert von Migration
Das Dorf Gjadër selbst gleicht einer Geisterstadt, berichtet Journalistin Millona. Heute leben dort schätzungsweise noch rund 200 Familien, die auf finanzielle Hilfe von Familienmitgliedern aus dem Ausland angewiesen sind. Viele der Dorfbewohner:innen erzählten Millona von eigenen Migrationserfahrungen oder von Angehörigen, die ausgewandert sind.
Das Lager nebenan sei dann für viele eine Belastung. „Viele der Leute brechen in Tränen aus, wenn ich mit ihnen spreche. Eine Mutter sagte mir, sie fühle mit den Müttern, deren Söhne, dort eingesperrt sind. Sie sei selbst sei Mutter und habe ihren Sohn schon lange nicht mehr sehen können“, erzählt die Journalistin.
Hoffnungslosigkeit im Lager
Die italienische Oppositionspolitikerin Rachele Scarpa der Mitte-Links Demokratischen Partei besucht das Lager seit knapp zwei Monaten wöchentlich. Als Abgeordnete hat sie Zugang. Im Telefoninterview erzählt sie von den schlechten Bedingungen für die Geflüchteten. Vor allem deren Psyche würde leiden.
Italien plant Aufnahmezentren für Migranten in Albanien ab August. Die Lager in Shengjin sind fertig, in Gjader noch nicht. Ziel: Erstprüfung der Asylchancen von Bootsmigranten. Jährlich sollen 36.000 Menschen untergebracht werden. Projekt ist umstritten.
— ORF News 🤖 (@orfnewsbot.bsky.social) 5. Juni 2024 um 15:31
„Solche Lager sind Orte, die nicht zuletzt psychische Krankheiten begünstigen und Menschen, jede Hoffnung, jede Perspektive und jeden Wert ihres eigenen Lebens rauben“, so Scarpa. „Sie haben nichts mehr und lassen es an ihrem Körper aus.“ So kommt es zu zahlreichen Fällen von Selbstverletzung.
Mindestens ein Mann hätte ernsthafte psychische Probleme. Die Abgeordnete erzählt, er sei offenbar überzeugt, sich noch in Italien zu befinden. Für Scarpa handelt es sich um „psychisch kranke Person, die niemals hätte dorthin gebracht werden dürfen.“
Laut italienischem Innenministerium sind zwischen dem 11. April und 21. Mai 110 Personen nach Gjadër gebracht worden. 24 von ihnen wurden zunächst nach Italien und von dort aus in ihre Herkunftsländer abgeschoben. Am 9. Mai wurden fünf weitere Personen nach Kairo abgeschoben – die erste direkte Abschiebung aus Albanien, organisiert und durchgeführt von italienischen Behörden. Eigentlich wäre das nicht zulässig, dennoch setzten die Behörden sie durch. Der öffentliche Diskurs über Migration entfernt sich zunehmend von einer menschlichen Perspektive. Im Mittelpunkt steht heute der Schutz der Grenzen – nicht das Schicksal der Menschen, die davon betroffen sind.