Gleichberechtigung: Von der Utopie zur Vision – im Gespäch mit Ingrid Moritz (+Podcast)

© Markus Zahradnik
Die COVID-Krise hat einige Rückschritte in Sachen Gleichberechtigung gebracht. Wenn wir nun ins Jahr 2030 blicken: Wie wird die Situation in neun Jahren sein? Wir haben mit der Leiterin der Abteilung Frauen und Familie der Arbeiterkammer darüber gesprochen, welches Szenario realistisch und welches möglich ist.

Arbeit&Wirtschaft: Wenn wir uns jetzt mal ins Jahr 2030 denken: Wo wird Österreich dann in Sachen Gleichberechtigung realistischerweise stehen?

Ingrid Moritz: Bei den minimalen Anstrengungen, die wir jetzt erleben, gehe ich eher von einem Stillstand aus oder nur sehr langsamen Bewegungen. Wir sind derzeit in der EU am vorletzten Platz bei der Einkommensschere, und wenn hier nicht mehr passiert, dann werden wir diesen Platz nicht verlassen. Das hat auch sehr viel mit dem Care-Sektor zu tun – hier gibt es einfach wirklich riesige Defizite. Das Thema Vereinbarkeit, die ganze Care-Arbeit, lastet immer noch auf dem Rücken der Frauen. Ich sehe kein sehr positives Bild, denn derzeit haben wir auch praktisch keine Frauenpolitik, also zumindest von Regierungsseite sehe ich keine, die offensiv die Probleme der Frauen am Arbeitsmarkt angeht, die die Verringerung der Einkommensschere angeht, die Doppelbelastung oder Dreifachbelastung, die partnerschaftliche Teilung von Arbeit. Ich habe den Eindruck, alle Themen, die Frauen betreffen, sind mittlerweile Kampfthemen. Insofern bin ich da nicht so optimistisch. Es bräuchte eine andere Regierungskonstellation, damit sich da etwas ändert.


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Was sind die wesentlichsten Problemfelder, die bearbeitet werden müssen?

Frauen in Österreich verdienen um 20,4 Prozent weniger als Männer, in der EU sind es 15,3 Prozent und lediglich Estland liegt hinter uns. Wir sind hier wirklich ganz, ganz weit hinten und das, obwohl Österreich eines der reicheren Länder innerhalb der EU ist. Auch das Thema Kinderbetreuung ist nach wie vor stark vernachlässigt. Hier gibt es ein starkes Stadt-Land-Gefälle. Im ländlichen Raum ist vor dem dritten Geburtstag oft Wüste – da gibt es kein Kinderbetreuungsangebot, lediglich in den Städten sieht es besser aus. Wir haben noch sehr viele Einrichtungen, die entweder Mittagessen gar nicht vorsehen oder am frühen Nachmittag schließen. Das sind Bedingungen, die eigentlich nur Teilzeitarbeit ermöglichen. Wenn die Kinder dann älter werden und in die Schule gehen, haben wir die Teilzeitschule. Es gibt kaum Ganztagsschulen. Bei den Schulen haben wir also das gleiche Problem. Und wenn man auf die Situation im Alter schaut, auf die Pflege von älteren Menschen: Auch hier haben wir eine riesige Lücke, und die große Last der Pflege und Betreuung wird unbezahlt auf die Frauen verlagert. Es gibt mobile Pflege und stationäre Einrichtungen, aber das Gros der Last liegt noch immer bei den Frauen. Zusätzlich müssen Frauen jetzt noch länger erwerbsarbeiten, weil das Pensionsantrittsalter angehoben werden soll. Ältere Frauen sind ganz oft in der Situation, dass sie die Kinderbetreuung übernehmen für ihre Töchter, Schwiegertöchter und ihre Schwiegersöhne und Söhne oder eben auch Angehörige pflegen. Wenn die auch länger arbeiten, bedeutet das, dass diese unbezahlte Betreuungsarbeit wegbricht. Unsere ganze Gesellschaft baut darauf auf, dass all das ohnehin die Frauen erledigen.

Wie schaut die Lösung aus?

Wenn es Lösungen gibt, dann sind es schlechte Lösungen und nur Versuche, Lücken zu stopfen, wie zum Beispiel die 24-Stunden-Betreuung mit prekären Arbeitsbedingungen und Verträgen oder Tagesmütter, die zum Teil auch sehr instabile Arbeitsbedingungen haben. Es baut alles auf prekären Jobs auf und auf der unbezahlten Arbeit von Frauen. Das rächt sich und führt dazu, dass Österreich in der EU so weit zurückfällt. Gerade Arbeit mit Menschen kann sehr sinnstiftend sein, sie ist aber meist nicht gut bezahlt, vieles davon auch prekär. In der Pflege beispielsweise arbeiten viele nur Teilzeit, viele sagen auch, sie könnten sich unter diesen Bedingungen überhaupt nicht vorstellen, in Vollzeit zu arbeiten. Oft wird auf migrantische Arbeitskräfte zurückgegriffen, die dann in den eigenen Ländern riesige Versorgungslücken erzeugen. Das ganze System ist äußerst fragil, und das hat auch damit zu tun, dass man lange geglaubt hat, der ganze Care-Sektor ist nicht Wirtschaft. Man dachte, Wirtschaft ist nur dort, wo etwas produziert, etwas hergestellt, etwas verkauft wird, aber die Arbeit mit Menschen, soziale Dienste – das ist immer nur als Kostenfaktor gesehen worden und nie als Wirtschaftsimpuls. Andere Länder wie zum Beispiel Schweden haben das schon in den siebziger Jahren erkannt und entsprechend in Care investiert und den ganzen Sektor auf ordentliche Beine gestellt.

Gerade durch Corona ist ja das Thema Pflege wieder sehr in den Mittelpunkt gerückt, warum geht trotzdem so wenig weiter in dem Bereich?

Wir wissen, dass die Frauen die Hauptlast getragen haben in dieser Corona-Phase, sie tragen sie noch jetzt, und viele zittern schon vor dem Herbst. Viele sind einfach zu erschöpft, und wenn diese Erschöpfung irgendwann in Wut umschlagen würde, dann könnte sich vielleicht etwas bewegen. Es wäre notwendig, Care wie eine Infrastruktur zu sehen. Sie gehört dazu, damit das gesellschaftliche Leben funktioniert. Solange der Aufschrei der Frauen ausbleibt, versucht man unter den Teppich zu kehren, dass all das auf ihrem Rücken ausgetragen wird. Man müsste viel mehr die Stimmen der Frauen laut und sichtbar machen und ihre Lebenssituationen thematisieren. Themen, die Frauen betreffen, kommen aber medial so gut wie nicht vor.

Frauen- und Familienexpertin Ingrid Moritz plädiert im Interview für eine bessere Bezahlung im Care-Sektor. Gerade dieser Bereich sei noch immer eine Frauendomäne – und die Frauen seien erschöpft.

Wenn man jetzt tut, was zu tun ist: Was wäre bis 2030 möglich?

Also möglich ist, glaube ich, sehr viel. Die Corona-Krise hat uns gezeigt, dass wir einen noch immer sehr starken Staat haben, der sehr viel aufgreifen kann und auch eine Kraft ist. Vielleicht ist bis 2030 nicht alles auf Schiene, aber grundsätzlich kann der Sektor der Care-Arbeit auf komplett andere Beine gestellt werden, sodass es nicht mehr etwas ist, was die Frauen machen müssen, weil es niemand anderer macht.

Und im Bereich der Kinderbetreuung?

Es ist möglich, dass es tatsächlich einen Rechtsanspruch gibt, dass es ausreichend Personal gibt und dass die Kinder wirklich eine Frühförderung erleben. Das halte ich wirklich für realistisch, wenn es gewollt und ernst genommen wird. Auch in der Pflege ist viel möglich – dass man einfach verlagert von unbezahlter Arbeit und prekären Arbeitsbedingungen zu besseren Arbeitsbedingungen, auch das ist möglich. Ich glaube nicht, dass man das Problem komplett lösen kann in diesen neun Jahren, aber man kann da wirklich sehr viel investieren.

Die Corona-Krise hat uns gezeigt, dass wir einen noch
immer sehr starken Staat haben, der sehr viel
aufgreifen kann und auch eine Kraft ist.

Dem Fachkräftemangel in der Pflege kann man begegnen, indem man die Arbeitsbedingungen verbessert, die Bezahlung und die Arbeitszeiten – also, dass man verlässliche Arbeitszeiten hat, dass man nicht permanent einspringen muss, weil schon wieder jemand ausfällt. Man sollte auch bei der Qualität der Arbeit ansetzen: Wir erleben in Österreich, dass diese Arbeit immer mehr getaktet wird: Pfleger*innen haben nur eine bestimmte Zeit für jede Tätigkeit. Menschen gehen in diesen Bereich, weil sie eine sinnstiftende Tätigkeit durchführen wollen, aber genau die wird ihnen genommen.

Wie sieht es aus mit Einkommensgerechtigkeit?

Wenn man im Care-Arbeitssektor ansetzt, dann gibt es auch Effekte Richtung Einkommensschere. Eine Sache, die grundsätzlich auch möglich ist, aber ein großer Kraftakt: eine Arbeitszeitverkürzung. Das würde Spielräume eröffnen, dass auch mehr partnerschaftliche Arbeitszeiten möglich sind, dass man Arbeit anders verteilt und dass auch die Frauen mehr Ressourcen für sich selber haben und eher auch einmal Vollzeit arbeiten können, weil Vollzeit auch nicht mehr 40 Stunden oder mehr heißt. Arbeitszeitverkürzung mit einer Debatte, wie faire Verteilung von unbezahlter Arbeit aussieht – das könnte ein Beitrag von der Politik sein.

Welche drei Dinge würden Sie sich von der Frauenministerin wünschen?

Die Frauenministerin muss ja nicht alle Gesetze durchsetzen. Ihre Rolle ist es, dass sie auf diese Wunden aufmerksam macht. Dass sie diese Themen vorantreibt und die Grundlagen schafft und den anderen Ressorts gegenüber lästig ist. Nichts davon ist Realität. Es gibt weniger Studien zu Frauen denn je. Nach Langem gibt es nun endlich die Bereitschaft Österreichs, bei der Zeitverwendungsstudie, die auch die Verteilung von unbezahlter Arbeit erhebt, mitzumachen. Es werden keine Hebel genutzt, die zur Verfügung stehen. Eine Frauenministerin hat immer die unbequeme Rolle: Sie muss lästig sein, sie muss die Sprecherin der Frauen sein, für ihre Anliegen eintreten und dafür sorgen, dass es entsprechende Ressourcen gibt. Aktuell sehe ich nichts davon.

Ich auch nicht.

Ich finde, dass alle, für die es möglich ist, am Erwerbsarbeitsmarkt beteiligt sein sollen mit ihrem Können, ihren Potenzialen und ihren Defiziten. Wir haben noch immer viele Unternehmen mit hierarchischen Strukturen – hier sollten die Beschäftigten viel mehr mitgenommen werden. Das kann man auf allen Ebenen machen, und es macht auch auf allen Ebenen Sinn. Wir haben aktuell auch extreme Unterschiede, was Löhne und Arbeitsbedingungen betrifft: einerseits schlecht bezahlte Tätigkeiten unter schlechten Arbeitsbedingungen und andererseits Managementjobs mit zum Teil unverschämt hohen Gehältern. Das ist nicht gerecht und das sollte geändert werden.

Was ist die große Utopie?

In meiner Utopie ist der Care-Sektor ein viel breiterer Begriff – auch im privaten Umfeld muss die unbezahlte Arbeit mitgedacht werden. Was mich reizen würde, ist weiterzudenken, was in den 1920er-Jahren diskutiert wurde, auch die unbezahlte Arbeit anders zu gestalten. Damals waren es die Waschküchen und Gemeinschaftsküchen. Wir sollten mehr Räume schaffen für gesellschaftliche Visionen und da wirklich auch was ausprobieren. Man müsste mit der Bevölkerung entwickeln, wie man diese Arbeiten organisiert. Ich fände es auch sehr attraktiv, öffentlichen Raum mehr zu nutzen und zu fragen: Was soll hier stattfinden? Wie können wir mehr Partizipation zustande bringen und Diskussion darüber, wie wir leben wollen. Frauen sollen hier einen ganz gewichtigen Platz haben in diesem öffentlichen Raum, in dem man sich auch nicht fürchten muss als Frau, als junge Frau vor allem. Egal, wann man in der Nacht nach Hause geht.

Es ist wichtig, dass man da wirklich alle Bevölkerungsanteile reinholt und Orte schafft, an denen diskutiert wird, wo man auch über Visionen und Anliegen und Bedürfnisse reden kann. Ich möchte einen öffentlichen Raum, der inspirierend ist, und nicht einen, in dem man sich immer schützen muss oder wo es nur um Konsum geht oder ob man dazugehört oder nicht.

Über den/die Autor:in

Beatrice Frasl

Beatrice Frasl hat Anglistik und Amerikanistik und Gender Studies studiert und ist feministische Kulturwissenschafterin, Podcasterin("Große Töchter", "She Who Persisted"), Lektorin an der Universität Wien und Aktivistin. Sie schreibt aktuell an ihrer Doktorarbeit im Bereich Gender Studies/Popkulturforschung und immer wieder auch für Medien im In- und Ausland, publiziert wissenschaftlich und hält Vorträge und Workshops zu Themen Feminismus, Geschlecht, Genderforschung und Queer Studies.

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