Solidarität. Immer wieder taucht der Begriff in der Öffentlichkeit auf; es ist ein großes Wort – sogar der ÖGB führt die „Solidarität“ als Titel seiner Zeitschrift. Doch was bedeutet das eigentlich im 21. Jahrhundert, solidarisch zu sein?
Eine Spurensuche
In der ArbeiterInnenbewegung ist der Begriff der – internationalen – Solidarität tief verankert: „Denken wir an jenes Grundprinzip der Internationale: die Solidarität“, erklärte Karl Marx schon 1872 in seiner Rede auf dem Haager Kongress der Internationalen Arbeiterassoziation. Und er kündigte an: „Was mich angeht, so werde ich mein Werk fortsetzen und beständig daran arbeiten, unter allen Arbeitern diese für die Zukunft so fruchtbringende Solidarität zu begründen.“
Obwohl der Kuchen insgesamt größer wird, gibt es also eine ganze Menge Menschen, die ein kleineres Stück davon abbekommen.
Heinz Bude
Solidarität, das ist vor allem eine Idee. Ein Bewusstsein für Gemeinschaft und die Bereitschaft zur Empathie: sich mit anderen verbunden fühlen, andere unterstützen, mit anderen für gemeinsame Ziele kämpfen. Gleichzeitig ist Solidarität ein kollektives Gefühl, das Wir ersetzt das Ich. Und Solidarität ist auch eine Reaktion – auf Leid, auf Ungerechtigkeit, auf Unterdrückung. Anders sein ist möglich, doch Gemeinsamkeiten und Brücken werden stärker betont als mögliche Unterschiede.
Neoliberale Slogans
Manche behaupten, inzwischen sei Solidarität aus der Mode gekommen, sie sei ein Relikt. Vermischt wird das zumeist mit sattsam bekannten neoliberalen Slogans: Jeder könne es schaffen, jede sei ihres Glückes Schmied. Die Realität zeigt, welcher Unsinn das ist. Armut und Reichtum werden von Generation zu Generation vererbt: Die meisten TellerwäscherInnen sind Kinder von TellerwäscherInnen, die meisten MillionärInnen sind Kinder von MillionärInnen.
Armut ist dabei keineswegs etwas, das nur soziale Randgruppen betrifft. Rund 17,5 Prozent der österreichischen Bevölkerung sind mit Stand 2018 armuts- oder ausgrenzungsgefährdet. Das bedeutet: Über 1,5 Millionen Menschen in Österreich sind von Armut und Ausgrenzung betroffen, fast ein Fünftel der Bevölkerung. Solidarität bedeutet auch, die Menschen hinter diesen Zahlen nicht aus den Augen zu verlieren – Bewusstsein ist der erste Schritt zur Veränderung.
Über 1,5 Millionen Menschen in Österreich sind von Armut und Ausgrenzung betroffen, fast ein Fünftel der Bevölkerung. Solidarität bedeutet auch, die Menschen hinter diesen Zahlen nicht aus den Augen zu verlieren.
Im Gegenzug besitzen die 100 reichsten Familien des Landes rund 24 Prozent des Gesamtvermögens, schreibt das Wirtschaftsmagazin „Trend“. Global wird diese Ungerechtigkeit sogar noch deutlicher: Einige Dutzend Milliardäre besitzen so viel wie die Hälfte der Weltbevölkerung. Das sind nicht bloß Zahlen, sie können übersetzt werden: in Armut, in Hunger, in Kriege, in Flucht, in die Klimakatastrophe.
Auch das oft gepriesene Wirtschaftswachstum kommt keineswegs bei allen an. Im Gegenteil: Viele haben tatsächlich nicht mehr oder sogar weniger als früher. In Österreich sind mehr als 400.000 Menschen manifest arm. Das bedeutet, dass sie kein Geld für angemessenes Essen, für Kleidung oder zum Heizen haben.
Heinz Bude kommt in seinem Buch „Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee“ zu dem Schluss: „Obwohl der Kuchen insgesamt größer wird, gibt es also eine ganze Menge Menschen, die ein kleineres Stück davon abbekommen.“ Der logische Umkehrschluss: Wenn diejenigen, die Profite auf Kosten der Mehrheit angehäuft haben, weniger hätten, dann wäre mehr für alle da. Umverteilung – auch das ist ein Akt der Solidarität.
Ellbogen statt Solidarität?
Doch für immer mehr Menschen erscheinen Reichtum und Armut naturgegeben. Es ist die Logik der Leistungsgesellschaft, die Logik eines angeblich alternativlosen Kapitalismus, die Logik des individuellen Aufstiegs. Und damit ist es nicht zuletzt die Logik eines Mangels an Solidarität: Individuelle Ellbogen-Mentalität ersetzt kollektive Antworten. Nach unten wird getreten, ärmeren Schichten der Bevölkerung die Mindestsicherung gekürzt. Schneller arbeiten, härter arbeiten, krank arbeiten. Standort statt Internationalismus. Dass dabei eine Spirale nach unten in Gang gesetzt wird, dass am Schluss alle verlieren? – Ein Mantel des Schweigens.
Für immer mehr Menschen erscheinen Reichtum und Armut naturgegeben. Es ist die Logik der Leistungsgesellschaft, die Logik eines angeblich alternativlosen Kapitalismus, die Logik des individuellen Aufstiegs.
Manche glauben gar, sie würden automatisch im gleichen Boot mit allen anderen sitzen, die zufällig im gleichen Land geboren wurden. Ihnen fühlen sie sich näher als Menschen, die buchstäblich gerade mit Booten über das Mittelmeer flüchten müssen – oder in den Fluten ertrinken. Ihnen sei empfohlen, bei der nächsten Lohnverhandlung zu beobachten, was Konzernbosse real von Solidarität mit den Beschäftigten halten. Egal, in welchem Land.
Solidarität 21
Klar ist: Solidarität funktioniert nicht allein, es ist ein kollektiver Prozess. Nicht umsonst heißen die Lohnverträge in Österreich Kollektivverträge. Ein Minimum für alle wird verhandelt, niemand darf weniger bekommen. In Australien lautet das Motto der ArbeiterInnenbewegung: „Touch one, touch all“ – wer eine/n angreift, greift alle an.
Solidarität bedeutet aber auch, eigene Privilegien zu verstehen.
Solidarität bedeutet aber auch, eigene Privilegien zu verstehen. Als Mensch, der in einem reichen Land geboren ist, gegenüber jenen, die im globalen Süden leben. Als Mensch, der im Frieden lebt, gegenüber jenen, die Krieg erfahren müssen. Als Mann gegenüber Frauen. Als heterosexueller Mensch gegenüber jenen, die gleichgeschlechtlich lieben. Als weißer und deutschsprachiger Mensch gegenüber jenen, die von Rassismus betroffen sind. Nur wer die eigenen Privilegien kennt, kann verstehen, welche Bedürfnisse andere Menschen haben.
Wie sehr die Idee der Solidarität heute wirkmächtig werden kann? Es hängt von konkreten Menschen ab. Die Betriebsrätin, die die KollegInnen zur Betriebsversammlung für anständige Löhne zusammenbringt. Der Nachbar, der das Viertel für eine Verkehrsberuhigung zusammentrommelt. Die Kollegin, die Frauen im Betrieb gegen sexistische Dummheiten mobilisiert. Der Opa gegen rechts, der mit seinen Freunden für geflüchtete Menschen auf die Straße geht. Die Schülerin, die an ihrer Schule einen Klimastreik organisiert. Gemeinsam. Solidarisch eben. w
Michael Bonvalot
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 2/20.
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Redaktion
aw@oegb.at