Interview: Regelrechter Kippeffekt

Johannes Gärtner ist Geschäftsführer der Firma Ximes, die sich auf das Thema Arbeitszeit spezialisiert hat.
Fotos (C) Markus Zahradnik

Inhalt

  1. Seite 1 - Die Wünsche der Beschäftigten
  2. Seite 2 - Das Thema Arbeitszeitverkürzung
  3. Seite 3 - Risiken des 12-Stunden-Tags
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Experimente in Betrieben zeigen: Kürzere Arbeitszeitmodelle funktioneren deutlich besser als lange. Auch mehr freie Tage bringen viel. XIMES-Geschäftsführer Johannes Gärtner über intelligente Arbeitszeitmodelle, österreichische Pausenkultur und familiäre Schichtpläne.

Arbeit&Wirtschaft: Wenn man sich an Ihr Unternehmen in Sachen Arbeitszeit wendet: Wie läuft eine Beratung ab?

Johannes Gärtner: Wir sehen Arbeitszeit immer in vier Dimensionen: erstens die juristische, zweitens Wirtschaftlichkeit und Kunden- oder Patientennutzen, drittens die Wünsche der MitarbeiterInnen und schließlich die Gesundheit. Dabei sind die letzten beiden keineswegs immer identisch. Wir versuchen Lösungen zu finden, die in allen vier Dimensionen optimal sind – in der Regel gemeinsam mit allen beteiligten Gruppen, also quasi sozialpartnerschaftlich. Das hat sich sehr bewährt, denn es geht hier um einen vielschichtigen Themenkreis, und wenn man die einzelnen Aspekte besser versteht, kann man bessere Lösungen erarbeiten. Dabei kommt auch die Technik ins Spiel. Hier sind komplizierte Rechenvorgänge nötig, weil viele Faktoren bedacht werden müssen: Einhaltung der Wochenruhe, Personalaufwand, Schichtzeiten etc. Das findet oft schon direkt im Gespräch mit den Kunden statt. So erhalten wir gleich wertvolle Rückmeldungen.

Welche Wünsche haben die Beschäftigten selbst?

Es ist ziemlich eindeutig, dass mehr Einfluss auf die Arbeitszeit als positiv erlebt wird. Was ich festgestellt habe: Sobald Menschen persönliche Erfahrungen mit attraktiven Arbeitszeitmodellen haben, finden sie auch Gefallen daran. Wenn jemand praktische Erfahrungen mit längeren Freizeitblöcken gemacht hat, dann ist das viel konkreter als das theoretische „Das wäre gut für dich“.

Sobald Menschen persönliche Erfahrungen mit attraktiven Arbeitszeitmodellen haben, finden sie auch Gefallen daran.

Inwieweit ist die steigende Flexibilität der Beschäftigten ein organisatorisches Problem für die Unternehmen?

Es braucht sicher einiges an Steuerungs- und Koordinationsmechanismen. Dass jeder irgendwann arbeitet, ist sicher nicht überall machbar. Es wird jeder Kassakraft klar sein, dass während der Öffnungszeiten jemand da sein muss. Da kann dann etwa das Ziel sein, unbeliebte Randzeiten unter den Beschäftigten gerecht aufzuteilen.

Wenn wir uns ansehen, welche Tätigkeiten in einem Unternehmen anfallen, dann gibt es meist viel, das zwar erledigt werden muss, aber nicht zu einer bestimmten Uhrzeit. Hier sind Freiräume möglich. Es geht darum, individuelle Wünsche und Notwendigkeiten so weit wie möglich zu berücksichtigen und gleichzeitig das Unternehmen am Laufen zu halten.

Es geht darum, individuelle Wünsche und Notwendigkeiten so weit wie möglich zu berücksichtigen und gleichzeitig das Unternehmen am Laufen zu halten.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Das Personalbüro in einem Unternehmen beispielsweise muss ein verlässlicher Ansprechpartner sein: Das bedeutet aber nicht, dass es wirklich jeden Tag acht Stunden oder mehr voll besetzt sein muss. Mit einer entsprechenden Software können wir auch für komplexe Aufgabenstellungen von unterschiedlichen Wünschen optimale Lösungen erarbeiten.

Welche Rolle spielt die voranschreitende Digitalisierung?

Bei der Arbeitszeit ist hier schon viel passiert, und es wird noch einiges passieren. Ich denke, es wird leichter werden, Freizeitwünsche der Beschäftigten und betriebliche Erfordernisse unter einen Hut zu bringen. Aber auch Fragestellungen wie „Warum kommt es kurzfristig in irgendeinem Bereich zu Mehrstunden?“ werden in Zukunft leichter geklärt werden können. Und die Beschäftigten werden mehr Freiräume haben. Wenn man – Stichwort „Big Data“ – Tausende von Arbeitszeiten anschauen kann, dann kann man auch Muster erkennen. Auch für die Politik bringt das mehr Wissen über Arbeitszeiten und was einzelne Regelungen bewirken.

Früher haben wir an manchen Fragestellungen tagelang gearbeitet, das lässt sich heute mit entsprechender Software in einer Stunde erledigen. Allerdings haben sich die Fragestellungen erweitert. So entwickeln wir gerade einen Unfallrechner, der die Unfallwahrscheinlichkeit abhängig von der Arbeitszeit berechnet.

Wann wird dieser Unfallrechner Realität sein?

Recht bald, es gibt schon sehr viel Forschung dazu, und er ist methodisch schon sehr weit entwickelt. Ich nehme an, im Sommer oder spätestens Herbst werden wir damit arbeiten können. Es lässt sich dann berechnen, um wie viel höher die Unfallgefahr etwa nach drei Nachtschichten ist – wobei das dann immer auch in Relation zur Tätigkeit gesehen werden muss: Bauarbeiter haben natürlich andere Risiken als etwa Büroangestellte, für die bei Übermüdung das Unfallrisiko aber auf dem Heimweg auch höher sein kann. Mit unserer Methode können wir dann Arbeitszeitmodelle direkt vergleichen und ganz genau sagen: Das Modell eins hat 30 Prozent Unfallrisiko und Modell zwei 85 Prozent.

Abgesehen von dieser Unfallgefahr und einer gesundheitlichen Komponente, gibt es auch die soziale Komponente. Nehmen wir das Beispiel einer Reinigungskraft, die in der Regel genau dann arbeiten muss, wenn alle anderen nicht arbeiten: zeitig in der Früh, abends oder am Samstag. Da sollte man sich bemühen, ihr trotzdem möglichst viel soziale Teilhabe zu ermöglichen.

Gehen Sie vor Ort zu den Unternehmen oder findet das meiste am Computer im Büro statt?

Das ist genau das, was ich an meiner Arbeit so mag. Ich bin sehr viel unterwegs und lerne viele verschiedene Arbeitssitua­tionen kennen und Abläufe verstehen. Da holt mich dann der Chirurg in den OP, oder ich stehe in der Werkhalle im Metallwerk oder im Chemielabor oder bin bei der Altenpflege dabei.

(C) Markus Zahradnik

Nach diesen vielfältigen Eindrücken: Was ist Ihrer Einschätzung nach die aktuell größte Herausforderung?

Es wird auch in Zukunft weiter darum gehen, die richtige Balance zu finden zwischen den Freiräumen für die Beschäftigten und den betrieblichen Erfordernissen. Und was auch jetzt schon spannend ist: Bei der Suche nach Fachkräften wird Arbeitszeit immer mehr zum Thema. Wenn ein Arbeitgeber auf die Wünsche und Bedürfnisse von geeigneten Jobsuchenden eingehen kann, dann haben beide gewonnen.

Bei der Suche nach Fachkräften wird Arbeitszeit immer mehr zum Thema.

Wir glauben allerdings nicht an magische Ideallösungen, sondern das muss jedes Mal individuell erarbeitet werden. Wir versuchen, Methoden und Kennzahlen zu identifizieren, wie Unternehmen klüger mit ihrer Zeit umgehen können; Time Intelligence lautet hier das Stichwort. Da braucht es neben Selbststeuerungsmechanismen letztendlich auch Vorgesetzte, die darauf achten, was tatsächlich passiert.

Gleitzeit von Montag bis Freitag ist an sich ja ein ideales Modell. Aber es gibt in fast jedem Unternehmen

Beschäftigte, die auch innerhalb idealer Modelle zu überlangen Arbeitszeiten tendieren. Wenn es sich dabei womöglich um langjährige MitarbeiterInnen handelt, dann können sie die Firmenkultur deutlich prägen. Das kann jüngere BewerberInnen, die weniger arbeiten möchten, abschrecken. Hier sollte man gezielt und rechtzeitig gegensteuern.

Und das Thema Arbeitszeitverkürzung?

Das ist spannend. Wir sind gemeinsam mit der Arbeiterkammer an der Evaluierung dieses Projekts beteiligt. Es gibt immer mehr Firmen, die mit ihrer Arbeitszeit werben. Bei enger werdenden Märkten ist das eine interessante Option für Unternehmen. Persönlich glaube ich, dass sehr viel davon abhängt, wie weit ein Unternehmen in der Lage ist, auf die Wünsche der Jobsuchenden und Beschäftigten zu reagieren.

Viele Arbeitgeber sind prinzipiell bereit, auf die Wünsche und Bedürfnisse der Beschäftigten einzugehen. Wichtig ist immer das Gespräch.

Wenn Jobsuchende zum Beispiel keine Kinderbetreuung finden können, dann sind sie auch nicht flexibel, können gar nicht flexibel sein. Viele Arbeitgeber sind prinzipiell bereit, auf die Wünsche und Bedürfnisse der Beschäftigten einzugehen. Wichtig ist immer das Gespräch. Der Ansatz: „Setzen wir uns zusammen und schauen wir, wie wir das alles unter einen Hut bringen können“, ist nicht immer einfach, aber es entstehen wesentlich bessere Lösungen als auf dem konfrontativen Weg.

Wäre es nicht Zeit für eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung?

Ich kenne Versuche, wo auf betrieblicher Ebene mit 30- bis 35-Stunden-Wochen experimentiert wird. Das ist total spannend, weil sehr schöne Modelle dabei herauskommen. Ein 33er-Modell ist nicht nur etwas besser als ein 38er-Modell, der Unterschied ist einfach gewaltig.

Es mag überraschen, dass dieser Unterschied so viel ausmacht, aber hier gibt es einen regelrechten Kippeffekt. Sobald die Menschen praktische Erfahrung mit kürzeren Arbeitszeiten gemacht haben, erscheint weniger Geld nicht mehr so abschreckend wie davor. Nicht zuletzt deshalb ist die Freizeitoption ja auch so erfolgreich.

Was ist besser: Wochenstunden zu reduzieren oder eine sechste Urlaubswoche?

Die allgemeine arbeitswissenschaftliche Empfehlung lautet, Belastungsspitzen zu reduzieren beziehungsweise zeitnah einen entsprechenden Ausgleich zu ermöglichen. Von daher spricht einiges für die allgemeine Arbeitszeitverkürzung. Andererseits gibt es Menschen, denen es leichter fällt, komplett von der Arbeit wegzubleiben als den Arbeitstag zu verkürzen.

Der Erholungseffekt eines Urlaubs klingt relativ schnell ab. Wenn also die sechste Urlaubswoche dazu verwendet wird, den Sommerurlaub zu verlängern, dann bringt das für den Rest des Jahres nur wenig. Kurz gesagt, das Beste wären mehr freie Tage, vor allem nach Belastungsspitzen, das Zweitbeste verlängerte Wochenenden. Im Schichtbetrieb wäre es gut, nach den Arbeitszeiten längere Freizeitblöcke zu haben.

Neben positiven Effekten auf die Gesundheit ermöglicht die Arbeitszeitverkürzung Männern ja auch, sich mehr an der Kinderbetreuung zu beteiligen.

Meine Frau und ich hatten bei beiden Kindern einen Schichtplan, das kann ich nur empfehlen. Wir haben beide weniger gearbeitet als vorher und alles genau eingeteilt. So lässt sich auch vermeiden, dass man um drei Uhr in der Früh darüber diskutiert, wer jetzt aufsteht und sich um das weinende Kind kümmert. Ich empfehle das Männern auch schon deshalb, weil es dann Zeiten gibt, in denen sie nicht mehr das fünfte Rad am Wagen sind, in denen sie mit dem Kind zu zweit sind und damit eindeutig Bezugsperson.

Gibt es einen Trend zum Weglassen der Mittagspause?

Da habe ich leider wenig harte Daten. Meine persönliche Erfahrung ist, dass das kulturell sehr unterschiedlich gelebt wird. In Süddeutschland etwa sind Mittagspausen üblich, in Norddeutschland eher nicht. In Österreich haben wir eine relativ hohe Pausenkultur und gute Kantinen. Unsere Wirtshauskultur mit den Mittagsmenüs gibt es in vielen Ländern nicht. Unter gesundheitlichen und sozialen Gesichtspunkten ist das eine gute Institution. Aber es gibt auch zwischen den Organisationen große Unterschiede. In manchen Unternehmen gehört es einfach dazu, die Mittagspause durchzuarbeiten.

In manchen Unternehmen gehört es einfach dazu, die Mittagspause durchzuarbeiten.

Themenwechsel zum 12-Stunden-Tag: Bedeutet das nicht zusätzliche Risiken für alle, die mit gesundheitsgefährdenden Arbeitsstoffen in Kontakt kommen?

Wir haben generell eine sehr kritische Sicht auf den 12-Stunden-Tag. Wir meinen zwar nicht, dass die Welt untergeht, wenn jemand einmal zwölf Stunden arbeitet, aber passiert das mehrere Tage hintereinander und womöglich sogar noch nachts, dann kann das sehr kritisch werden. Ich denke aber, dass Unternehmen auch wissen, dass 12-Stunden-Tage oft sehr lange und unproduktive Tage sind. Niemand kann zwölf Stunden lang genauso arbeiten wie acht Stunden.

Niemand kann zwölf Stunden lang genauso arbeiten wie acht Stunden.

Und was die gefährlichen Arbeitsstoffe betrifft: Das ist zwar nicht mein Spezialgebiet, aber zum 12-Stunden-Tag und den MAK-Werten (maximale Arbeitsplatz-Konzentration, Anm.) gibt es meines Wissens kaum Studien bzw. überhaupt noch keine gesicherten Ergebnisse. Das sollte man dringend nachholen und ansonsten äußerst vorsichtig vorgehen. Man weiß ja, dass diese Stoffe schädigen können, aber ob das bei zwölf Stunden etwas mehr ist oder ein Vielfaches, ist nicht klar.

Bei den Krankenanstalten gibt es Diskussionen über Ruhezeiten nach Bereitschaftsdiensten. Wie beurteilen Sie das?

Prinzipiell unterscheiden wir zwischen Arbeitsbereitschaft – da ist man vor Ort – und Rufbereitschaft, wo man bei Anruf nachts, aus dem Bett heraus, auf die Straße muss. Die Frage ist immer: Wie halte ich die Arbeitsbelastung möglichst gering? Bei Rufbereitschaft etwa weiß man, dass diese Beschäftigten, auch wenn sie die ganze Nacht durchschlafen konnten, schlechter schlafen. Wenn der Schlaf tatsächlich gestört wurde, dann sollte dieser so bald wie möglich nachgeholt werden können.

Die Frage ist immer: Wie halte ich die Arbeitsbelastung möglichst gering?

Im Alltag ist das oft eine Gratwanderung, etwa bei Ärzten, deren OP-Plan für den nächsten Tag dann völlig durcheinanderkommen würde. Da stellt sich dann die Frage, was die größere Belastung ist: dass sämtliche Termine über den Haufen geworfen werden oder der Schlafmangel? Aber die jetzt diskutierten fünf Stunden Ruhezeit erscheinen mir eindeutig zu kurz. Die Frage ist natürlich auch, wie oft das vorkommt. Vieles kann man durchaus schon einmal machen, aber wenn es laufend passiert, dann wird es ein Problem.

Welche Arbeitszeitregelungen gibt es bei XIMES?

Software-Entwicklung und Büro haben einen sehr großen Gleitzeitrahmen. Unsere BeraterInnen machen sich die Termine ja ohnehin mit den KundInnen aus. Generell gibt es nur wenige Termine, bei denen es mir ein Anliegen ist, dass jemand auch anwesend ist, zum Beispiel bei der Software-Besprechung. Ab und zu machen wir ein Bürofrühstück, wo wir möchten, dass alle zusammenkommen. Ansonsten versuchen wir den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern so weit wie möglich entgegenzukommen, sowohl was das Arbeitsvolumen betrifft als auch den Ort. Ein Mitarbeiter, der mit einer Brasilianerin verheiratet ist, hat auch schon einmal einen Monat von Brasilien aus gearbeitet.

Von
Astrid Fadler

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 2/19.

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