Die Eroberung der akademischen Welt
Die Gegenoffensive zum Sozialstaat, die 1938 beim Pariser Lippmann-Kolloquium begonnen hatte und 1947 mit der Gründung der „Mont Pèlerin Society (MPS)“ neu in Angriff genommen wurde, rechnete nicht mit kurzfristigem Erfolg. Allen Beteiligten war bewusst: Neben ausreichenden finanziellen Mitteln erforderte es vor allem Zeit und eine ausgefeilte Strategie, um „das charakteristische Meinungsklima, die dominante Weltanschauung einer Periode“, nachhaltig zu verändern, wie Friedrich August Hayek das Ziel der neoliberalen Mission beschrieb. Auch das Strategiekonzept stammt von ihm.
Man einigte sich darauf, die von der MPS vernetzte Grundsatzarbeit an Universitäten und Forschungsinstituten und die Arbeit mit Studierenden von der Politikberatung und der Propagandaarbeit zu trennen. So wollte man vermeiden, dass die Schlagkraft der neoliberalen Bewegung durch akademische Debatten geschwächt würde. Ein Erfolgsrezept, wie sich schon bald herausstellte.
Die Vergabe des sogenannten Wirtschaftsnobelpreises (eigentlich „Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften“) durch die schwedische Reichsbank ab 1969 brachte die Anerkennung der neoliberalen Wirtschaftswissenschaft als seriöse Forschungsrichtung.
Die Vergabe des sogenannten Wirtschaftsnobelpreises (eigentlich „Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften“) durch die schwedische Reichsbank ab 1969 brachte die Anerkennung der neoliberalen Wirtschaftswissenschaft als seriöse Forschungsrichtung.
Die Neoliberalen stellten im Vergleich zu ihrer Anhänger*innenschaft an den angloamerikanischen Universitäten eine überdurchschnittlich große Zahl an Trägern des „Wirtschaftsnobelpreises“. Das schuf Vertrauen und erleichterte den Zugang zu politischen Entscheidungsträger*innen.
Die Anerkennung als seriöse Wissenschaft war das eine Ziel, das sich die neoliberalen Missionar*innen für die akademische Welt setzten. Von mindestens gleicher Bedeutung war aber das Heranbilden einer neuen Wissenschafter*innen-Generation, die ihr Ideal in der Stärkung der Marktfreiheit sah und als Opinion-Leader*innen in die Breite wirken konnte. Das bekannteste Beispiel für das Gelingen dieser Strategie sind die „Chicago Boys“, die chilenischen Studenten, die über ein Austauschprogramm mit der Päpstlichen katholischen Universität von Chile zu Milton Friedman nach Chicago gekommen waren und dann als Berater von Diktator Augusto Pinochet die neoliberale Wende in ihrer Heimat steuerten.
Auch in Österreich setzte die neoliberale Missionstätigkeit bald nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Im Tiroler Bergdorf Alpbach ließen sich Studierende aus ganz Westeuropa, die gerade dem Horror des Zweiten Weltkriegs entronnen waren, von Karl Poppers „kritischem Rationalismus“ begeistern, die Absage an jede Form der „Weltverbesserung“ entsprach ihrer Illusionslosigkeit, die offene Diskussionskultur brachte frischen Wind. Ein rassistisch gefärbter Antikommunismus, (auch schon) die Verteidigung „europäischer Werte“ und stramme Westorientierung im „Kalten Krieg“ bildeten bei der Gründung des „Europäischen Forums Alpbach“ die ideologische Klammer mit Hayeks Neoliberalismus.
Ein rassistisch gefärbter Antikommunismus, (auch schon) die Verteidigung „europäischer Werte“ und stramme Westorientierung im „Kalten Krieg“ bildeten bei der Gründung des „Europäischen Forums Alpbach“ die ideologische Klammer mit Hayeks Neoliberalismus.
Otto Molden, mit seinem Bruder Fritz Initiator des Alpbacher Events, hielt bei der erhofften europäischen Einigung „das … Fernhalten der fremden asiatischen Kulturen, Russland und Türkei“, für „absolut notwendig“. Das erinnert fatal an die aktuell nicht nur von Rechtsaußen-Politiker*innen vertretene Behauptung, man müsse die „europäischen Werte“ gegen die Gefahr aus dem Osten verteidigen.
Die offene Diskussionskultur wurde beim „Europäischen Forum“ durch die Teilnahme von Kritikern der Positionen von Popper, Hayek und der Molden-Brüder bewusst demonstriert, aber die Zielrichtung blieb lange Zeit eindeutig. Da überrascht es nicht, dass es im modernen Kongresszentrum von Alpbach zwar einen Hayek-Saal gibt, aber keinen Saal, der etwa nach dem für den Aufbau des österreichischen Sozialstaats wichtigen Ökonomen Eduard März benannt wäre. Trotzdem konnte es sich ab den 1960er-Jahren kein österreichischer Spitzenpolitiker, auch kein sozialdemokratischer, leisten, Alpbach fernzubleiben.
Während der Finanz- und Wirtschaftskrise nach dem Crash der Immobilienblase 2008 fanden erstmals Wissenschafter*innen mit anderen als neoliberalen Positionen wieder öffentlich Gehör, wenn auch noch kaum bei politischen Entscheidungsträger*innen. Die Programmgestalter*innen von Alpbach stellten einige von ihnen in die vorderste Reihe und ließen damit Diskussionen über Armut und Ungleichheit zu – und über Wege, sie zurückzudrängen. Selbstverständlich kam immer auch die neoliberale Gegenposition zu Wort.
Der inhaltliche Schwenk hatte zur Folge, dass zuerst die Industriellenvereinigung und 2018 auch die Wirtschaftskammer als Co-Veranstalter (und damit als regelmäßige Geldgeber) des „Europäischen Forums“ ausschieden. Die Begründung der WKÖ: „In dieser Form sehen wir derzeit keinen Mehrwert für uns.“ Mit dem „Salzburger Summit“ wurde 2019 erstmals eine offen neoliberale Gegenveranstaltung zu den Alpbacher Wirtschaftsgesprächen organisiert.
Das Think-Tank-Netzwerk – Politikberatung ohne demokratische Kontrolle
Eine Stärke der neoliberalen Missionar*innen war von Anfang an ihr internationales Teamwork auch außerhalb der akademischen Welt, das nicht zuletzt aufgrund der finanziellen Mittel, die zur Verfügung standen, auch ohne die digitalen Hilfsmittel des 21. Jahrhunderts funktionierte. Schon im Anschluss an das Lippmann-Kolloquium entstand die erste internationale neoliberale „Denkfabrik“, das „Centre International d`etudes pour la rénovation du libéralisme“ („Internationales Studienzentrum zur Erneuerung des Liberalismus“) in Paris mit Außenstellen in Genf, London und New York. Seine Tätigkeit wurde mit Beginn des Zweiten Weltkriegs eingestellt, sodass die „Mont Pèlerin Society“ nach Kriegsende einen zweiten Anlauf nehmen musste.
Think-Tanks sind keine neoliberale Erfindung. Sie entstanden in den USA schon während des Ersten Weltkriegs zur Propaganda für den Kriegseintritt und den Friedensplan von Präsident Wilson. Da Walter Lippmann in dieser Zeit als Präsidentenberater tätig gewesen war, ist es nicht verwunderlich, dass diese Instrumente der Politikberatung und der Einflussnahme auf Politik und öffentliche Meinung als ideal für die neoliberale Mission erkannt wurden. Nach und nach kam es auf Anregung und mit Unterstützung der MPS rund um den Globus zur Gründung vielfach vernetzter neoliberal ausgerichteter Think-Tanks. Institutionen und Wissenschafter*innen mit sozialstaatlicher Orientierung und selbst solche mit rein kommerzieller Ausrichtung sind im Feld der Politikberatung weit abgeschlagen. Das gilt auch für Österreich.
Nach und nach kam es auf Anregung und mit Unterstützung der MPS rund um den Globus zur Gründung vielfach vernetzter neoliberal ausgerichteter Think-Tanks. Institutionen und Wissenschafter*innen mit sozialstaatlicher Orientierung und selbst solche mit rein kommerzieller Ausrichtung sind im Feld der Politikberatung weit abgeschlagen. Das gilt auch für Österreich.
In Österreich ist der öffentliche Einfluss des Ökonom*innen-Netzwerks, das außerhalb des bestimmenden neoliberalen Clusters steht, immerhin noch etwas größer als zum Beispiel in Deutschland. Das hängt, so wird vermutet, damit zusammen, dass hier einerseits die Sozialpartnerschaft als Mittel des gesellschaftlichen Interessenausgleichs eine besondere Tradition hat, andererseits damit, dass die neoliberale Wende etwas später einsetzte.
Der Ausstieg der Industriellenvereinigung (IV) aus dem sozialpartnerschaftlichen Konfliktregelungsmechanismus ab den 1990er-Jahren war eine entscheidende Voraussetzung für die Gründung der beiden wichtigsten Think-Tanks „Eco Austria“ (2011) und „Agenda Austria“ (2013). In beiden Fällen hatte die IV ihre Hand im Spiel.
Das Unterlaufen solidarischer gewerkschaftlicher Lohnpolitik ist, wie es der neoliberalen Ideologie entspricht, eines der Ziele dieser und ähnlicher Institute, wie der deutschen „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM), die auch in Österreich mitmischt. Sie brachte den 2005 von 243 Ökonom*innen formulierten „Hamburger Appell“ in die öffentliche Diskussion ein. Der Appell, den auch in Österreich tätige und aus Österreich stammende Wirtschaftswissenschaftler*innen unterzeichneten, verlangt unter anderem eine stärkere „Lohnspreizung“, also größere Lohnunterschiede, als Voraussetzung für weniger Arbeitslosigkeit.

Die sozialpartnerschaftliche Tradition in Österreich überdeckte, dass die neoliberale Missionstätigkeit in Österreich viel früher einsetzte, als dies zunächst wahrgenommen wurde.
Die sozialpartnerschaftliche Tradition in Österreich überdeckte, dass die neoliberale Missionstätigkeit in Österreich viel früher einsetzte, als dies zunächst wahrgenommen wurde.
Die Gründung des „Instituts für höhere Studien“ (IHS) 1963 wurde von Hayek angeregt, sein erster Direktor war der Mises-Schüler Oskar Morgenstern – zusammen mit dem aus der Sozialdemokratie kommenden Soziologen Paul Lazarsfeld als Feigenblatt. Es ist wohl kein Zufall, dass die Leiter des IHS (und nicht des Wirtschaftsforschungsinstituts) bisher immer den Vorsitz beim „Fiskalrat“ führen und damit für die Kontrolle der „Budgetdisziplin“ zuständig sind. Es ist wohl ebenso wenig Zufall, wenn ein aus der Sozialdemokratie kommender Nationalbank-Präsident die Mitgliedschaft im Hayek-Institut für notwendig hielt. Dieser kleine, aber nicht zu unterschätzende Think-Tank mit Standbeinen in Deutschland und Österreich besteht seit 1993 und ist vor allem in die USA gut vernetzt, unter anderem als eine europäische Auslandsverbindung zum aggressiven „Atlas-Network“, einem von Hayek befürworteten Think-Tank-Netzwerk, dessen Tätigkeitsschwerpunkt Lateinamerika ist.
Die Erschaffung eines neuen Zeitgeists
Um „die dominante Weltanschauung einer Periode“ zu werden, ist der Einfluss auf das Denken und Handeln der überwiegenden Mehrheit der Wissenschafter*innen, Politiker*innen oder Journalist*innen unerlässlich. Aber die Prophet*innen des Neoliberalismus wussten sehr genau: Erst wenn es gelang, die zentralen Grundsätze ihrer Ideologie zum Allgemeingut zu machen, konnten sie sich ihres Erfolges sicher sein.
Aber die Prophet*innen des Neoliberalismus wussten sehr genau: Erst wenn es gelang, die zentralen Grundsätze ihrer Ideologie zum Allgemeingut zu machen, konnten sie sich ihres Erfolges sicher sein.
Um dies zu erreichen, wurden und werden alle zur Verfügung stehenden Kommunikationsmittel eingesetzt, im digitalen Zeitalter selbstverständlich in hohem Maß die sozialen Medien. Aber nach wie vor verzichten neoliberale Think-Tanks nicht auf traditionelle Wege der Beeinflussung – von Plakataktionen über Workshops für Schüler*innen und Studierende bis zu Fernsehdiskussionen.
Milton Friedman nutzte 1980 das damals modernste Kommunikationsmedium Fernsehen, um den „freien Markt“ gerade auch für den „kleinen Mann“, die „kleine Frau“ anzupreisen. Seine Serie „Free to Choose“ machte TV-Geschichte. Sie wurde auch von deutschen Sendern ausgestrahlt und ist (in einer 1990 überarbeiteten Version) mittlerweile im Internet frei zugänglich. Jede*r Einzelne, so kann der Titel verstanden werden, soll frei sein, seinen/ihren eigenen Weg zu wählen, ohne Einschränkung durch die Staatsbürokratie und Gesetze. Und, so vermittelt die Serie, nur ein freier Markt sichert diese Freiheit.
Die Agitationsmethode war ausgefeilt. Opinion-Leader*innen wurden in Form von Diskussionsrunden bedient, bei denen auch immer wieder Gegner*innen neoliberaler Positionen zu Wort kamen. Aber hängen blieben jene Spots, in denen „Menschen wie du und ich“ über ihre Erfahrungen mit der bösen Bürokratie und/oder den bösen Gewerkschaften berichteten. In der Folge „Wer schützt die Arbeiter?“ beschwert sich der Bergarbeiter John Persinger, dass ihn Streikposten der Gewerkschaft gewaltsam am Arbeiten in der Kohlemine gehindert hätten. Die Aussage lautete natürlich: Die Gewerkschaft ist an der Zunahme der Arbeitslosigkeit schuld und schadet den Braven und Fleißigen.
1980 hatte der Eingriff des Staates in die Marktfreiheit, um bessere Bedingungen für die Bürger*innen zu schaffen, selbst in den USA noch breite öffentliche Zustimmung. Deshalb „verkauften“ Milton und Rose Friedman und die Macher*innen von „Free to Choose“ die Elite-Ideologie Neoliberalismus als beste Grundlage, um soziale und politische Ungleichheit abzuschaffen, während der Wohlfahrtsstaat die Ungleichheit nur einzementiere.

Mit dem Gleichheitsversprechen des Neoliberalismus wurde der großen Mehrheit der Menschen, die sich von Mitbestimmung in Politik und Wirtschaft (oft zu Recht) ausgegrenzt fühlten, scheinbar ein Weg zur Selbstermächtigung und zu Bürger*innenstolz eröffnet.
Mit dem Gleichheitsversprechen des Neoliberalismus wurde der großen Mehrheit der Menschen, die sich von Mitbestimmung in Politik und Wirtschaft (oft zu Recht) ausgegrenzt fühlten, scheinbar ein Weg zur Selbstermächtigung und zu Bürger*innenstolz eröffnet.
Konservative und rechtspopulistische Parteien in den europäischen Demokratien übernahmen erfolgreich dieses Marketingmodell, etwa wenn sie die „Flat-Tax“, eine gleichmäßige Steuer für alle durch Steuersenkung für Reiche und Konzerne und ein Lieblingsprojekt Friedmans, als Weg zu mehr Gleichheit anpreisen.
Eine andere Methode, die „dominierende Weltanschauung“ der wohlfahrtsstaatlichen Epoche gründlich umzudrehen, war und ist die schleichende Bedeutungsänderung von Begriffen. Das sei an zwei Beispielen demonstriert: an der Bedeutung des Wortes „Reform“ und an der Verwendung des Begriffs „Kund*in“. „Reform“ bedeutete bis zu den 1980er-Jahren Maßnahmen zur Verbesserung des Sozialstaats, daraus wurde spätestens im neuen Jahrtausend „Schlankheitskur“ für staatliche Leistungen.
Zum zweiten Beispiel: Noch in den 1980er-Jahren dachte niemand daran, Teilnehmer*innen an Volkshochschulkursen, Menschen, die sich beim AMS als arbeitslos melden, oder Kolleg*innen, die eine Beratung in der Arbeiterkammer in Anspruch nehmen, als „Kund*innen“ zu bezeichnen, also als Käufer*innen einer Leistung. (Fast) niemandem ist aufgefallen, dass damit die Rollen umgedreht wurden. Bürger*innen, die einen Anspruch auf öffentliche Leistungen haben, weil sie erst durch ihre Beiträge ermöglicht werden, werden zu gewöhnlichen Käufer*innen degradiert.
Teil 2: Friedrich August Hayek, Karl Popper, Milton Friedman und der Staat als Diener des Marktes.
Teil 5: Thatcher, Reagan und der der Anfang des neoliberalen Zeitalters.