Otto Neurath: Demokratie unter Feinden, Arbeit&Wirtschaft, 20/1926
Otto Neurath bewies hingegen in seinem Artikel für die Arbeit&Wirtschaft ein gutes Gespür für die Fragilität der bürgerlichen Demokratie.
Im Hinblick auf die Klassenschichtung Österreichs sowie auf die gesamte, geschichtliche Situation strebt die sozialdemokratische Partei die Umgestaltung der politischen Machtverhältnisse ohne Bürgerkrieg an.
Der Entwurf des neuen Parteiprogramms drückt dies mit aller Deutlichkeit aus, er erweckt aber dabei keine Illusionen über den Parlamentarismus an sich, sondern tritt für die Wehrhaftmachung des Proletariats ein, damit das Proletariat, ohne vom Bürgertum physisch abhängig zu sein, die Demokratie zunächst innerhalb der alten, dann aber in neuer, seinem Dasein voll angepaßter Form innerhalb der sozialistischen Ordnung erleben könne.
Erst wenn die kapitalistische Wirtschaftsordnung überwunden ist, gibt es in der klassenlosen Gesellschaft soziale Demokratie.
Die Demokratie ist aber nicht nur eine gute Chance für das Proletariat, sie bringt auch Befreiung der Gesinnung und des persönlichen Daseins, trotz allen Leiden des bürgerlichen Zeitalters, und ist die Vorbereitung für die Zu[1]kunftsdemokratie. Bürgerliche Demokratie ist ein Frfoig gegenüber bürgerlicher und feudaler Undemokratie!
Wem gleicht die moderne Demokratie der bürgerlichen Gesellschaftsordnung? Wohl mehr einer Demokratie unter Feinden!
Wenn die Bürgerlichen über die parlamentarische Mehrheit verfügen, benützen sie ihre Macht, um eine widerstrebende, feindliche Klasse zu zwingen, sich ausbeuten zu lassen, und siegte innerhalb der heutigen Gesellschaftsordnung das Proletariat im Wahlkampf, so würde es, soweit es dies vermag, die Ausbeuter zu hindern suchen, ihre ertragreiche Tätigkeit fortzusetzen.