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Obdachlosigkeit in Österreich: Am einstigen Nordbahnhof nächtigen Obdachlose. Früher Bahnhof, nun Schlafplatz: Am einstigen Nordbahnhof nächtigen Obdachlose.
Perrine Schober hat im Herbst 2015 "Shades Tours" ins Leben gerufen. Perrine Schober hat im Herbst 2015 "Shades Tours" ins Leben gerufen. Obdachlose Guides zeigen Interessierten ihr Wien und geben Einblick in ihren Alltag.
JUCA-Leiterin Andrea Fichtinger JUCA-Leiterin Andrea Fichtinger betont, dass die Jugendlichen wiederkommen können, falls sie nach einem missglückten Umzug wieder obdachlos werden.

Reportage: Im Schatten der Armut | Obdachlosigkeit in Österreich

Schwerpunkt Großstadt

Wohnungslosigkeit kann jede/n treffen, von Jugendlichen bis zu AkademikerInnen. Sandra Knopp und Udo Seelhofer gingen der Frage nach, wieso immer mehr Menschen in Wohnungsnot geraten, und stießen auf zum Teil überraschende Antworten.

Gerade als sich Barbaras Krebsbehandlung dem Ende zuneigte, entschloss sich ihr Vermieter, den Mietvertrag nicht zu verlängern. Die Wohnung sollte verkauft werden. Somit stand Barbara plötzlich auf der Straße. Die Kaution für eine neue Wohnung konnte sie sich nicht leisten. „Ich war vorher selbstständig, durch die kostspielige Behandlung waren meine finanziellen Ressourcen aufgebraucht.“ Aber Barbara ließ sich nicht entmutigen. Die Suche nach einer neuen Bleibe hatte oberste Priorität. Der Wendepunkt kam für Barbara, als sie im Radio von den „Shades Tours“ hörte. Diese Stadtführungen unterscheiden sich deutlich von den üblichen geführten TouristInnentouren: Obdachlos gewordene Menschen zeigen die Stadt aus einer sozialpolitischen Perspektive. So erzählen die Guides sowohl von den Herausforderungen als auch von den Lösungsansätzen und Einrichtungen für Obdachlose. „Ich habe dann gleich zum Hörer gegriffen und Perrine Schober, die Gründerin von Shades Tours, angerufen“, erinnert sich Barbara. Bei einem Gespräch stellten beide fest, dass die Chemie passt, Barbaras Schulung zur Führerin begann.
Das Wiener Straßenbild hat sich in den letzten Jahren stark verändert, erzählt Gründerin Perrine Schober: „Die Menschen gehen jeden Tag an Armut und Obdachlosigkeit vorbei und wissen gar nicht, wie sie reagieren sollen.“ Die Inspiration für Shades Tours holte sich Schober unter anderem aus Amsterdam, wo Thementouren, die etwa durch das Rotlichtmilieu führen, angeboten werden. „Ich habe nachgedacht, wie ich das in Wien realisieren kann.“ 
Ziel sei es, die Menschen so zu bilden, dass sie sich nicht unwohl fühlen, wenn sie einen obdachlosen Menschen sehen, und agieren können, wenn es nötig ist. „Es ist ein Projekt der sozialen Bildung für die Zivilbevölkerung.“ Viele gehen in die Touren, um etwas Gutes zu tun, und seien dann sehr überrascht, wie viel sie eigentlich bekommen haben, so Schober.

Wohnraum dringend gesucht

Die Lage am österreichischen Wohnungsmarkt ist seit Jahren angespannt und spitzt sich weiter zu. Mit 1. April 2017 wurden die Mietrichtwerte in Österreich um 3,5 Prozent angehoben. Davon sind hierzulande rund 300.000 Haushalte betroffen. Im Durchschnitt bedeutet das für jeden Einzelnen rund 150 Euro Mehrkosten pro Jahr. Das kann sich nicht jeder leisten. Caritas-Wien-Geschäftsführer Klaus Schwertner appelliert an VermieterInnen, Baubranche und Politik: „Wir suchen kleine, abgeschlossene Wohneinheiten mit Bad und Kochgelegenheit ab 25 Quadratmeter zu leistbaren Preisen, nach Möglichkeit unbefristet.“ Die Caritas mietet solche Wohneinheiten für KlientInnen an und übernimmt in der ersten Zeit eine Ausfallshaftung.
Laut Statistik werden wohnungslose Menschen stetig jünger. Rund ein Drittel der Betroffenen ist unter 30 Jahre alt. Das JUCA im 16. Bezirk, das Übergangswohnhaus der Caritas für junge Erwachsene zwischen 18 und 30 Jahren, hat sich dieser Zielgruppe angenommen. Philipp wohnt seit einem halben Jahr hier. Davor schlief er im Freien, auf der Donauinsel und beim Museumsquartier. Zu Hause habe es einfach nicht mehr gepasst: „Mit meinen Eltern habe ich mich sehr viel gestritten. Das hat sich immer mehr hochgeschaukelt, bis ich rausgeflogen bin.“
Im JUCA gefällt es dem 21-Jährigen sehr gut. „Die Mitbewohner und Betreuer sind sehr gemütlich. Es gibt keine Streitereien und niemand geht mir auf die Nerven. Das ist recht angenehm“, sagt er lachend. Vom JUCA erfuhr er durch einen Freund: „Ich bin hierhergekommen und man hat mir sofort ein Zimmer gegeben.“
JUCA-Leiterin Andrea Fichtinger betont, dass es im JUCA vor allem um Grundversorgung und Notunterkunft gehe: „Wir haben hier im Haus 67 Einzelzimmer und eine Notschlafstelle mit 16 Plätzen.“ Vielen Jugendlichen fehle es an familiärem Rückhalt und tragfähigen sozialen Beziehungen. Einige haben Suchtprobleme, anderen fehlt der Schulabschluss. Die Jugendlichen können bis zu zwei Jahre im JUCA wohnen, in Einzelfällen auch länger. Andrea Fichtinger betont, dass die Jugendlichen mehrfach ins JUCA kommen können: „Viele sind es nicht gewohnt, sich an Regeln zu halten, und ziehen vorzeitig wieder aus. Andere schaffen es nicht, die Miete fristgerecht zu zahlen. Es handelt sich um Jugendliche, die noch nie selbstständig gewohnt haben und ihr eigenes Einkommen verwalten müssen und sich damit schwertun.“ Etwaige VermieterInnen bittet sie um Verständnis: „Unsere Zielgruppe kann nicht nachweisen, schon jahrelang in eigenen Wohnungen gelebt zu haben. Für sie ist es oft der erste Versuch.“
Im Jahr 2016 wandten sich rund 6.000 Menschen wegen Wohnproblemen an die Caritas. Caritas-Wien-Geschäftsführer Klaus Schwertner betont, dass steigende Mieten ein österreichweites Problem sind. „Seit 2008 sind die Wohnkosten um mehr als 18 Prozent gestiegen. Bei armutsgefährdeten Haushalten betrug die Steigerung gar 31 Prozent.
Diese Fakten liegen schon lange auf dem Tisch, aber die Regierung hat die Probleme unterschätzt oder ignoriert“, kritisiert Schwertner. Das führt dazu, dass sich viele Menschen trotz Arbeit den notwendigen Wohnraum nicht mehr leisten können. Schwertner zitiert aus Wohnannoncen: Für eine 33-m2-Wohnung in Wien-Favoriten sind 678 Euro Miete veranschlagt, in Salzburg Stadt kostet eine 46 m2 große Unterkunft 745 Euro Miete. Dazu kommt eine Kaution von mehr als 2.000 Euro. Auch die Kosten für Strom, Wasser und Heizung müssen beglichen werden. „Von den BewohnerInnen im JUCA kann sich das niemand leisten“, so Schwertner.

(K)eine Endstation für Ex-Häftlinge

„Straße der Verlierer?“, fragt das Schild am Eingang des „’s Häferl“ in der Nähe der U4-Station Margaretengürtel in Wien. „’s Häferl“-Leiter Norbert Karvanek würde diese Frage eindeutig mit Nein beantworten. 220 Gäste werden dort pro Tag gratis bewirtet. Karvaneks Motto: „Ich bin kein Sozialarbeiter, ich bin ein Armenwirt.“
„’s Häferl“ wurde vor fast 30 Jahren von der evangelischen Gefangenenseelsorgerin Gerlinde Horn gegründet.
Eines der größten Probleme von Häftlingen, die mehrere Jahre abzusitzen hatten, ist, dass sie nicht nur Arbeit und Wohnung, sondern auch ihr soziales Umfeld verlieren. „Übrig bleiben oft nur die Eltern, und die sterben meistens weg“, so Karvanek. Um solche Menschen kümmerte sich Gerlinde Horn erst in ihrer Wohnung und später in der Tagesstätte „’s Häferl“. „Wir sind so etwas wie die ‚evangelische Gruft‘. Hier arbeiten nur Ehrenamtliche, nur ich bin fix für zwölf Stunden angestellt.“
Laut Karvanek kommt ein Problem selten allein: „Obdachlose kommen leichter in Haft, Ex-Häftlinge werden leichter obdachlos.“ Ihnen fehle es an Betreuung, auch wenn sich die Verhältnisse diesbezüglich gebessert haben. Norbert Karvanek ist seit 15 Jahren fixer Bestandteil der „Häferl“-Crew. Die Einrichtung habe er durch Zufall kennengelernt: „Ich habe einen verrückten Künstler getroffen, mit dem habe ich Backgammon gespielt. Einmal haben wir gesagt: ‚Treffen wir uns im Häferl, dort ist der Kaffee billiger.‘“ Sein Freund sei nicht gekommen, aber er lernte dort Gründerin Gerlinde Horn kennen. Nach einem Gespräch mit ihr fasste Karvanek, der selbst sieben Jahre in Haft gewesen war, einen Entschluss: „Ich habe mir gesagt: ‚Norbert, du hast jetzt 20 Jahre am Stammtisch dahergeredet. Jetzt kannst du was tun!‘“
Im Jahr 2002 ging Gerlinde Horn in Pension, Norbert Karvanek übernahm und entwickelte das Angebot weiter. „In erster Linie sind wir ein Wirtshaus. Die Menschen fragen uns auch nach Gewand und Schuhen.“ Vor allem das Schuhwerk sei bei Obdachlosen immer wieder Thema. „Obdachlose brauchen ständig Schuhe. Wer wohnungslos ist, zieht diese auch in der Nacht nicht aus oder er hat sie im Schlafsack. Dadurch leidet das Schuhwerk mehr.“ Einmal im Monat bietet „’s Häferl“ gemeinsam mit seiner Trägerin, der Diakonie Wien, eine Sozialberatung an: „Hier wird der Erstkontakt zu den Menschen hergestellt.“

Unterschiedlicher Umgang

Laut Martin Schenk, Sozialexperte der Diakonie Wien, dreht es sich bei diesen Gesprächen häufig um Wohnprobleme wie Mietrückstände, gesundheitliche Nöte sowie den Verlust des Jobs oder der Mindestsicherung. Menschen gehen auf verschiedene Arten mit Wohnungsnot um, so Schenk: Frauen versuchen, irgendwo unterzukommen, bleiben auch in schwierigen Beziehungen, um sich den Wohnraum zu sichern.
Manches Ehepaar würde sich gerne scheiden lassen, bleibt jedoch zusammen, weil einer allein sich keine Wohnung leisten kann. Die Zahl an illegalen Substandard-Wohnungen steige: „Durch Arbeitsmigration aus Rumänien und Bulgarien gibt es viel Schwarzarbeit. Die Menschen leben ‚unsichtbar‘ in solchen Wohnungen. Dazu kommen Menschen aus dem Nahen Osten, die sich mit ihrem Einkommen am Wohnungsmarkt schwertun. Die geraten dann an Ausbeuter.“ Das Angebot an leistbarem Wohnraum müsse steigen, fordert Schenk. Die öffentliche Hand solle leistbaren Baugrund zur Verfügung stellen. Schenk betont die Wichtigkeit einer Delogierungsprävention: „In Wien gibt es hier bereits gute Entwicklungen. Diese braucht es flächendeckend in ganz Österreich.“
Jahrelang ging die etablierte Sozialarbeit davon aus, dass Menschen in einer Lebenskrise Wohnen erst wieder schrittweise erlernen müssten. Dafür wurden Übergangswohnangebote geschaffen. „Das ‚Housing First‘-Prinzip hingegen setzt auf Eigenverantwortung“, sagt Neunerhaus-Geschäftsführer Markus Reiter. Eigenständiges Wohnen steht im Vordergrund, die dazugehörige Betreuung richtet sich nach individuellen Bedürfnissen der Betroffenen. „Wenn jemand in einer Lebenskrise ist oder Unterstützung braucht, kann er das am besten in einer eigenständigen Wohnform bewältigen. Zwischenschritte wie betreutes Wohnen braucht es nicht, Menschen können von Beginn an wohnen“, sagt Reiter. Ist die Betreuung abgeschlossen, können die KlientInnen – anders als bei anderen Einrichtungen – in der Wohnung bleiben und müssen nicht wieder umziehen. „Es geht darum, Betreuung und Wohnform klar zu trennen. Das ist der Knackpunkt.“ Derzeit habe das Neunerhaus etwa 110 Wohneinheiten an Bedürftige vermittelt. Von diesen haben 97 Prozent ein aufrechtes Mietverhältnis, die meisten davon haben laut Reiter auch die Betreuung bereits abgeschlossen: „Diese Erfolgsquote ist beachtlich.“

Zugang verschärft

Dennoch werde es zunehmend schwerer, leistbaren Wohnraum bereitzustellen, sagt Reiter. „Wir reden regelmäßig mit Bauträgern, Genossenschaften und Wiener Wohnen. Was sich bei allen zeigt: Erwerbseinkommen, soziale Unterstützungsleistungen wie etwa die Mindestsicherung und die Wohnkosten gehen immer weiter auseinander.“ Reiter kritisiert auch die öffentliche Hand: „Dort wo Wohnbauförderungen und Steuergelder hineinfließen, gibt es für Armutsbetroffene und Wohnungslose wenig Hilfestellung, leistbaren Wohnraum zu finden.“ In den letzten Jahren wurden Zugangsregeln verschärft. Menschen, die um eine Gemeindewohnung ansuchen, müssen zwei Jahre durchgehend in Wien gemeldet sein. „Für Obdachlose ist das schon fast ein K.-o.-Kriterium. Wohnungslosigkeit führt oft zu Meldelücken.“ Diese Änderung ist für Reiter nicht nachvollziehbar. „Von einem Jahr aufs andere bekamen wir von Wiener Wohnen 140 Wohnungen weniger zugewiesen. Bis dahin hat es immer gereicht, wenn unsere SozialarbeiterInnen etwa mit AMS-Bezügen nachweisen konnten, dass Betroffene in Wien aufhältig waren.“
Reiter fordert, dass Obdachlosigkeit als Dringlichkeitsgrund bei der Wohnvergabe zu berücksichtigen wäre. Außerdem fordert er, dass bei befristeten Mietverträgen die Mindestfrist von drei auf zehn Jahre erhöht wird: „Das unterstützt Familien, da es durch Befristungen zu häufigen Wohnungswechseln mit immer teureren Mieten kommt.“
Wer bei der Josefstädter Straße in Wien aus der U6 aussteigt und einmal um die Station geht, dem kann es passieren, dass er auf eine Gruppe von Menschen trifft, die vor einer grünen Tür auf Einlass warten. „wieder wohnen“ steht auf dem Schild darüber und gleich darunter „Josi – Tageszentrum für Obdachlose und Straßensozialarbeit“. „Wir dürfen nur 100 Menschen gleichzeitig ins Gebäude lassen. Wenn wir voll sind, müssen die anderen leider warten, bis jemand geht“, erklärt Leiterin Nora Kobermann. Im Josi selbst können Menschen all das machen, was sie auch in einer eigenen Wohnung tun können: duschen, Wäsche waschen, kochen, Schach spielen oder sich entspannen. In Depots kann persönliches Hab und Gut verwahrt werden.
An der Theke gibt es Kaffee, Tee, Brot, Marmelade und Butter. „Wir helfen den Menschen, aus ihrer Situation herauszukommen, indem wir Nachtquartiere und Übergangswohnungen vermitteln“, sagt Kobermann. Josi unterstützt die Menschen bei der Geltendmachung von Ansprüchen wie der Mindestsicherung und AMS-Leistungen. „Zentral ist die Beschaffung von Dokumenten. Diese gehen auf der Straße oft verloren oder werden gestohlen.“
So nützlich und wertvoll Einrichtungen wie das Josi auch sind – Barbara war dort eher selten anzutreffen. „Ich wollte nicht mit den immergleichen schlimmen Schicksalen konfrontiert sein. Das zieht einen nur runter.“ Den Tag hat sie anders verbracht: „Ich habe den Kulturpass und bin damit ins Museum gegangen. Da konnte ich mir dann wenigstens einreden, dass das jetzt etwas Sinnvolles war“, sagt sie lachend. Die Wohnungssuche ist für Barbara gut ausgegangen: Seit einigen Wochen hat sie eine neue Bleibe. Ihr nächstes Ziel ist ein Job als Fremdenführerin. Die Ausbildung dazu hat Barbara bereits begonnen. 

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