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Symbolbild zum Beitrag: "Es gibt viele Gründe für die Flucht" In Algerien, Marokko, Ägypten oder Libyen erschweren Repression, Korruption, Willkür und Stagnation den Alltag. Und doch werden MigrantInnen aus diesen Ländern von manchen nicht als Flüchtlinge angesehen.
Buchtipp

"Es gibt viele Gründe für die Flucht"

Schwerpunkt

In Algerien, Marokko, aber auch Ägypten erschweren Repression, politische Verfolgung und enorme Arbeitslosigkeit den Alltag.

Amara L. sitzt in einem Internet-Café und telefoniert mit seiner Familie in Algier auf Skype. L. ist auf abenteuerlichen Wegen über Marokko per Schiff nach Frankreich und weiter mit Bus und Zug nach Deutschland und schließlich nach Österreich gekommen. Sein größter Wunsch ist, endlich eine Wohnung und Arbeit zu finden, um seine Familie nachholen zu können. Doch vor allem sein unsicherer Aufenthaltsstatus erschwert ihm die Integration. Seit Österreich dem deutschen Beispiel folgt und die Liste sicherer Herkunftsstaaten um nordafrikanische Länder wie Algerien und Marokko erweitert, macht sich Hoffnungslosigkeit breit. Menschenrechtsorganisationen kritisieren diese Maßnahmen scharf.

Misshandlungen und Folter
Wer von Europa nach Algerien oder Marokko abgeschoben wird, dem droht sofortige Haft. Noch am Flughafen werden die Personen abgeführt. Denn das illegale Auswandern steht unter Strafe. Dieses Gesetz wurde auf Druck der EU zur Bekämpfung der Migrationsströme verabschiedet. Amnesty International berichtet von schweren Misshandlungen und Folter in marokkanischen und algerischen Gefängnissen.
Die Online-Plattform der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW), die jährlich einen World Report zu den Menschenrechtsentwicklungen in über 90 Staaten herausgibt, listet detailliert alle Menschenrechtsverstöße auf.
„Aus Angst vor Terroranschlägen und dem massenhaften Zustrom von Flüchtlingen bewegen sich viele westliche Regierungen beim Schutz der Menschenrechte rückwärts“, kritisiert HRW-Direktor Kenneth Roth. „Diese Rückschritte bedrohen die Rechte aller Menschen, ohne dass sie nachweislich einen effektiven Schutz für die Bürger bewirken“, warnt er. Für die Flucht etwa aus nordafrikanischen Staaten gibt es zahlreiche Gründe, wirtschaftliche wie politische. „Die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch, die Aussichten für junge Menschen sind schlecht. Menschenrechte werden massiv eingeschränkt. Die Presse ist nicht frei, Minderheiten werden verfolgt, es gibt willkürliche Inhaftierungen und Misshandlungen“, berichtet Pro-Asyl-Referent Karl Kopp.
Der algerische Journalist Hassan Bouras wurde wegen regierungskritischen Berichten mehrfach zu Haftstrafen verurteilt. Die beiden Blogger und Menschenrechtsaktivisten Adel Ayachi und Tijani Ben Derrah wurden im November 2015 von der Polizei festgenommen, nachdem sie an einer Demo für Pressefreiheit teilgenommen hatten.
In Algerien, Marokko, Ägypten und Libyen erschweren Repression, Korruption, Vetternwirtschaft, Willkür und gesellschaftliche Stagnation den Alltag. Politik und Wirtschaft sind in den Händen einer Elite, die den Kontakt zu den Menschen verloren hat und nur am eigenen Wohlergehen interessiert scheint. In Marokko etwa gewährte der Monarch begrenzte Befugnisse an das Parlament, behielt aber die wichtigsten Machtinstrumente unter seiner Kontrolle.

Niedriger Ölpreis
Dass junge NordafrikanerInnen auf der Suche nach einer besseren Zukunft auf Europa setzen, ist für die Maghreb-Expertin bei Amnesty International, Sirine Rached, nur verständlich: „Die meisten Menschen verlassen diese Staaten, um der schlechten Wirtschaftslage zu entkommen. In Marokko sind Schätzungen zufolge bis zu 50 Prozent aller jungen Akademiker arbeits- und perspektivlos. Algerien leidet noch heute unter den Folgen des blutigen Bürgerkriegs in den 1990er-Jahren. Die Ökonomie des Landes hängt massiv vom Verkauf von Öl und Gas ab. Derzeit macht dem Land der niedrige Ölpreis zu schaffen. Gleichgeschlechtliche Handlungen sind in Marokko und Algerien strafbar.“
Die institutionelle Korruption sei in beiden Ländern extrem. In dem vom Wirtschaftsmagazin „The Economist“ berechneten Demokratieindex werden Algerien und Marokko als autoritäre Regime eingestuft. Bei der Anzahl der Asylanträge in Österreich liegen Marokko und Algerien nur im schwachen Mittelfeld. Mit rund 25.000 Asylanträgen im Jahr 2015 liegt Afghanistan an erster Stelle, gefolgt von Syrien mit rund 24.000 Anträgen. Lediglich 942 Asylanträge stammten aus Algerien und 730 aus Marokko.
In seinem neuen Buch „Ohrfeige“ stellt der irakische Schriftsteller Abbas Khider seinen Protagonisten Karim Mensy in den Mittelpunkt, dessen Asylgrund kein politischer ist. „Ich wollte die Erwartung der Leser nicht erfüllen. Wenn ich über das Thema Asyl schreibe, nimmt man an, dass es um Folter geht, weil man das durch meine Geschichte nachvollziehen kann. Mit dem Überraschungseffekt wollte ich gegen dieses Schubladendenken über politische Flüchtlinge versus Wirtschaftsflüchtlinge anschreiben. Es gibt viele Gründe, warum Menschen ihre Heimatländer verlassen“, sagt Khider.

Waffenlieferungen
Nicht nur politische Gründe und Krieg, sondern Hunger, Arbeitslosigkeit, fehlende Perspektiven, Gewalt, Unterdrückung, fehlende Freiheiten, Verfolgung von Minderheiten zwingen Menschen zur Flucht. Der 43-jährige Autor ist selbst 1996 nach politischer Verfolgung aus Bagdad geflohen und lebte als „illegaler“ Flüchtling in verschiedenen Ländern. Die Hürden des europäischen Verwaltungssystems sind ihm nicht fremd. „Ich habe das alles mitgemacht, wie die Tausenden Menschen, die jetzt hier sind. Ich war in vielen Asylunterkünften, darunter auch in einem Obdachlosenheim. Ich habe die Schikanen durch die Behörden erlebt. Ich weiß, dass es sogar in der Demokratie diese Unmenschlichkeit gibt“, sagt Abbas Khider in einem Interview mit dem Standard. Wie viele AktivistInnen appelliert auch er dringend an alle westlichen Regierungen, sie sollten endlich aufhören, Waffen zu liefern. Dem Westen müsse klar sein, dass die Menschen vor diesen Waffen flüchten. „Man schickt Waffen in alle Welt. Warum hat der Westen ein Problem mit dem Iran und dem Jemen und liefert Waffen nach Saudi Arabien? Im Irak herrscht immer noch Chaos, auch in Libyen. Und falls in Syrien der IS verschwindet, wird es noch lange dauern, bis für die Menschen Ruhe einkehrt. Es gibt im Land so viele Gruppierungen, die alle bewaffnet wurden“, sorgt sich Khider. Er könne kaum glauben, dass wieder Zäune und Mauern errichtet werden, als gäbe es eine Welt erster und zweiter Klasse: „Damit machen wir uns vor der Geschichte lächerlich.“
Dass es auch anders geht, hat Italien zu Jahresbeginn mit der Errichtung eines humanitären Korridors bewiesen. Syrische Kriegsflüchtlinge werden direkt aus dem Libanon, Subsahara-Flüchtlinge aus Marokko und vor allem SomalierInnen, EritreerInnen und SudanesInnen aus Äthiopien nach Rom geflogen. Insgesamt 1.000 Menschen wird durch eine sichere legale Einreise die lebensgefährliche Überfahrt über das Meer erspart bleiben. Der Korridor wurde in Zusammenarbeit zwischen kirchlichen Organisationen, die für Unterkunft und Verpflegung sorgen, und dem italienischen Außenministerium, das die Visa ausstellt, ins Leben gerufen. Die ankommenden Menschen – Kinder, Familien, darunter auch viele Kriegsverletzte – wurden auf dem römischen Flughafen Fiumicino von Außenminister Paolo Gentiloni persönlich begrüßt. „Humanitäre Korridore“ seien nicht die Lösung für die Flüchtlingskrise, aber sie seien „ein Teil der Antwort“, sagte der Minister und forderte: „Um diese Krise zu meistern, brauchen wir jetzt keine neuen Mauern und Zäune.“ Er erhofft sich von der humanitären Aktion eine „ansteckende Botschaft“, damit auch andere Länder Flüchtlinge direkt aufnehmen.

Taube Ohren
Das stößt in Österreich auf taube Ohren. Hier verfolgt die Regierung einen rigiden Kurs der Grenzschließung und führte von der EU scharf kritisierte Flüchtlingsobergrenzen ein. Der damit gezielt provozierte Dominoeffekt der Grenzschließungen entlang der Balkanroute hat katastrophale Folgen. Im griechischen Flüchtlingslager Idomeni mit Zehntausenden Menschen droht eine humanitäre Katastrophe.

Linktipps:
Demokratieindex 2015:
tinyurl.com/hx8erc7
Interview mit Abbas Khider:
tinyurl.com/zbz2n3z

Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin irene_mayer@hotmail.com oder die Redaktion aw@oegb.at

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