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Symbolbild zum Bericht: Das Rennen in den Abgrund Debatten wie jene über die Zumutbarkeit in Österreich lassen sich in einen größeren Kontext einordnen: Es ist eine klassische Forderung nach einem "Workfare"-Regime.

Das Rennen in den Abgrund

Schwerpunkt

Forderungen nach strengerer Zumutbarkeit in Österreich reihen sich in den europäischen Kontext ein. Ein Vergleich.

Das österreichische Sozialsystem als „allerletztes Auffangnetz“, das „nicht zu einer generellen Option“ werden dürfe. „Das Stichwort in diesem Zusammenhang lautet Zumutbarkeit“, erklärte im Februar 2015 der Tiroler Wirtschaftskammerpräsident Jürgen Bodenseer. „Einerseits müssen die Zahlungen den Leistungsträgern zumutbar sein. Andererseits kann den Empfängern zugemutet werden, alles zu unternehmen, um bei nächster Gelegenheit wieder aus dem System auszusteigen. Dazu gehören unter anderem die sogenannten Zumutbarkeitsbestimmungen bei der Annahme von Arbeitsangeboten.“ Dies ist nur eine von vielen Stimmen von Wirtschaftsseite, die sich für die Verschärfung der Zumutbarkeitsbestimmungen aussprechen.

Verkürzt

Es wäre verkürzt, würde man meinen, dass es sich um eine österreichische Debatte handelt. Vielmehr lassen sich Vorstöße wie diese in einen größeren Kontext einordnen: Es ist eine klassische Forderung nach Errichtung eines „Workfare“-Regimes. Workfare ist ein sozialstaatliches Konzept, das sich in Europa während der letzten 20 Jahre immer weiter ausgebreitet hat.
Als absoluter europäischer Vorreiter gilt Großbritannien, aber auch skandinavische Staaten wie Schweden und Norwegen, die traditionell als Paradebeispiele sozialpartnerschaftlicher Sozialpolitik angesehen werden – doch damit ist es schon lange vorbei.

Workfare und die Pflicht zur Arbeit

Workfare bedeutet, dass Sozialleistungen und Arbeitslosenunterstützung kein Grundrecht mehr für alle in einem Land lebenden Menschen sind. Stattdessen wird staatliche Hilfe zu einem „Privileg“ umgedeutet. Entsprechend haben sich die Menschen anzustrengen, um es „genießen“ zu können. Das Motto ist: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Und man soll jede Arbeit annehmen, egal ob sie schlechter bezahlt ist als der vorherige Job, egal ob man dafür über- oder unterqualifiziert ist, egal ob man dafür in eine andere Region ziehen muss.
In Norwegen wurde das Recht auf Sozialhilfen schon in den frühen 1990er-Jahren mit dem „Recht und der Pflicht auf Arbeit“ verknüpft. Seit 1998 sind Arbeitslose verpflichtet, jede Arbeit in jedem Landesteil Norwegens anzunehmen, die ihnen vermittelt wird. Gleichzeitig wurden Programme eingeführt, die Arbeitslose zur Arbeit in staatlichen Programmen verpflichten. Gezahlt wird nur der niedrigste Sozialhilfesatz, der auf jeden Fall niedriger ist als ein etwaiger kollektivvertraglicher Lohn. So sollen Arbeitslose beweisen, „ernsthafte Arbeitssuchende zu sein“.
In Dänemark gab es in den 1980er-Jahren noch einen unbefristeten Anspruch auf Arbeitslosengeld. Voraussetzung war aber die Teilnahme an regelmäßigen Fortbildungskursen. In den 1990er-Jahren wurde dieser Anspruch schrittweise eingeengt. Hatten Arbeitslose zunächst noch sieben Jahre Anspruch auf Arbeitslosengeld, sank diese Zahl bis 1998 auf nur mehr vier Jahre. Innerhalb dieser vier Jahre muss man drei Jahre für „obligatorische Vollzeitaktivierung“ zur Verfügung stehen. Jugendliche unter einem Alter von 25 Jahren müssen nach sechs Monaten Arbeitslosigkeit an Ausbildungs- und Trainingsmaßnahmen teilnehmen. Allen, die sich solcher „Aktivierung“ verweigern, wird die Sozialhilfe um 20 Prozent gekürzt.
Auch in Schweden müssen Arbeitslose seit 1998 verpflichtend an Arbeitsmaßnahmen in ihren Gemeinden teilnehmen. Als „Lohn“ gibt es nur die niedrigste Stufe der schwedischen Sozialhilfe. Die Gemeinden kommen so an billige Arbeitskräfte und können kollektivvertraglich bezahlte Jobs einsparen. Wer sich weigert, mitzumachen, wird mit dem Entzug von Beihilfen bestraft.

Minderheit arbeitslosenversichert

Eine schwedische Besonderheit ist die gewerkschaftliche Verantwortung für die Arbeitslosenversicherung. 2007 zwang der Staat diese zur Erhöhung der Beiträge. Besonders stark wurden die ArbeitnehmerInnenbeiträge für die Sozialversicherung ausgerechnet in jenen Berufsgruppen erhöht, in denen die Arbeitslosigkeit am drastischsten anstieg. Davon waren unter anderem Zehntausende IndustriearbeiterInnen betroffen, die aufgrund der Weltwirtschaftskrise ihren Arbeitsplatz verloren hatten.
Durch diese Neustrukturierung der Arbeitslosenversicherung verloren die schwedischen Gewerkschaften zwischen 2007 und 2013 273.000 Mitglieder. Viele ArbeitnehmerInnen können oder wollen sich die erhöhten Beiträge nicht leisten. Somit kam im Jahr 2013 nur ein Drittel aller Arbeitslosen in Schweden in den Genuss der Arbeitslosenversicherung, die übrigens maximal für 300 Arbeitstage ausgezahlt wird. Als letzten Notnagel gibt es noch eine von den Gemeinden verwaltete Notstandshilfe. Auf die hat aber nur Anspruch, wer keinerlei eigenes Vermögen besitzt.  
Workfare soll Menschen in Arbeit bringen. Doch das scheint nicht zu klappen. Allein die Jugendarbeitslosigkeit steht in Schweden stabil bei weit über 20 Prozent. Die BefürworterInnen von Workfare sprechen gerne von einer notwendigen „Aktivierung“, die man den Arbeitslosen angedeihen müsse: Wenn man nur genug Druck ausübe, dann würden sich die Menschen schon anstrengen, einen Job zu finden.

Unbeschränkte Zumutbarkeit

Mancherorts sind längst nicht mehr „nur“ Arbeitslose gezwungen, jeden noch so schlecht bezahlten Job anzunehmen.
In Großbritannien müssen sich längst auch dauerhaft krank geschriebene Menschen sowie Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen sogenannten „Arbeitsfähigkeitstests“ unterziehen, die vom ATOS-Konzern organisiert werden. Immer wieder werden Selbstmorde von Menschen bekannt, die zuvor von ATOS als „arbeitsfähig“ deklariert wurden.
Begleitet werden diese Maßnahmen mit einem fast täglichen Trommelfeuer in den Tageszeitungen über das angebliche „arbeitsscheue Gesindel“, welches den Sozialstaat missbrauche. Dabei greift die britische Regierung auch arbeitende Menschen an, etwa indem Beihilfen für Familien mit Kindern gekürzt werden sollen. Außerdem gilt eine sogenannte „benefit cap“ – wegen ihr darf etwa ein Ehepaar nur höchstens 500 Pfund Sozialhilfe im Monat beziehen. Unter dem Deckmantel, Arbeitslose, „zurück an die Arbeit“ schicken zu wollen, werden die Sozialstandards für alle Menschen abgesenkt.

Fragwürdige Jobchancen

Wer laut ATOS-Test arbeitsfähig ist, muss ins „Arbeitsprogramm“. Dort wird man zu ehrenamtlicher Arbeit verpflichtet. Ähnlich wie in skandinavischen Ländern werden „Arbeitsfähige“ unter anderem zur Verrichtung kommunaler Dienstleistungen verpflichtet. Dazu gehören Tätigkeiten wie das Anstreichen von Zäunen.
Aber bekommen die so „aktivierten“ Menschen dadurch Jobs? Neue Statistiken geben Anlass zur Skepsis. So bekamen zwischen 2011 und 2014 nur 21 Prozent aller sich im sogenannten „Arbeitsprogramm“ befindlichen Menschen einen Job. Bei Menschen mit geistigen Behinderungen sieht es noch schlechter aus. Nur sechs Prozent von ihnen fanden im selben Zeitraum einen Arbeitsplatz. Das geht aus neuen Statistiken der britischen Sozialorganisation „Mind“ hervor. 
Dem zunehmenden Aushebeln sozialer Standards für Arbeitslose und SozialhilfeempfängerInnen stehen Angriffe auf die Rechte von ArbeitnehmerInnen und Gewerkschaften gegenüber.

Kehrseite

Ein Beispiel ist das neue, im Jahr 2015 in Kraft getretene norwegische Arbeitsgesetz. Dieses führt den Zehnstundentag als Normalarbeitszeit ein und ermöglicht außerdem den Zwölfstundentag. Letzteres ist eine auch in Österreich wohlbekannte Forderung der Wirtschaftskammer, die immer noch aufrecht ist. Hier liegt die Kehrseite der Zumutbarkeitsdebatte.
Je stärker der Druck auf arbeitslose Menschen wird, jede Arbeit anzunehmen, desto größer der Druck auf Gewerkschaften, Verschlechterungen im Arbeitsleben zuzustimmen. Es droht ein „race to the bottom“ – ein Rennen in den Abgrund.


Linktipp:
Beigewum – Beirat für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen – Heft 4/​2009,
State(s) of Workfare, Wandel der Sozialhilfe- und Arbeitsmarktpolitik:
tinyurl.com/hume6b9

Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor christian@bunke.info oder die Redaktion aw@oegb.at

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