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Symbolbild zum Bericht: Aus Rütli lernen Immer mehr Schulen in Österreich werden zu sozialen Brennpunktschulen wie einst Rütli.
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Aus Rütli lernen

Schwerpunkt

Wie die Rütli-Schule von der berüchtigtsten Hauptschule Deutschlands zum Liebling der Bildungspolitik wurde. Und was Österreich daraus lernen kann.

Wir sind ratlos“, schrieb 2006 die Schulleitung der Berliner Rütli-Hauptschule in einem offenen Brief. Die Stimmung in einigen Klassen sei geprägt von Aggression, Respektlosigkeit und menschenverachtendem Auftreten, die Gewaltbereitschaft sei gestiegen, die LehrerInnen sprechen nicht die Sprache ihrer SchülerInnen und würden sich nur mehr mit Handys in einige Klassen trauen, um jederzeit Hilfe rufen zu können. Auf einmal wurde aus der Rütli-Schule im Berliner Bezirk Neukölln die berüchtigtste Schule Deutschlands. Sie verkörperte das Versagen des Schulsystems in sozialen Brennpunkten.

Das war vor neun Jahren. Heute ist Rütli ein Vorzeigemodell gelungener Integration und das Lieblingskind der deutschen Bildungspolitik. Doch was hat den Unterschied ausgemacht? Abgesehen vom schlechten Ruf ließ der Brief der Schule potenzielle UnterstützerInnen auf den Plan treten. Vor allem hat die öffentliche Hand Geld in die Hand genommen, in Zahlen: 32 Millionen Euro.
Was hat Rütli mit Österreich gemeinsam? Die Bildungswissenschafterin Gertrud Nagy hat die Entwicklung städtischer Haupt- und Mittelschulen in Österreich erforscht und festgestellt, dass immer mehr Schulen zu sozialen Brennpunktschulen wie einst Rütli werden. Ihr Fazit: „Wir müssen dringend gegensteuern!“
Gertud Nagy sieht einen gemeinsamen Nenner zwischen Haupt- und Mittelschulen in österreichischen Ballungsräumen und der deutschen Rütli-Schule: ein sehr hoher Anteil an SchülerInnen mit Migrationshintergrund – und vor allem mit Herkunft aus einem sozial und ökonomisch schwachen Elternhaus. Der Knackpunkt, meint Nagy, ist die fehlende soziale Durchmischung an diesen Schulen. Ahmed und Kevin, wie sie überspitzt Prototypen dieser SchülerInnen nennt, finden sich in Brennpunktschulen gehäuft mit anderen, die null Bock auf die Schule und wegen ihrer schlechten Leistungen kaum berufliche Perspektiven haben. Sie werden zu Jugendlichen, die durch Aggression und Machtkämpfe Anerkennung suchen.
Ängste bildungsnaher Eltern, die Gesamtschule könnte ein niedrigeres Anforderungsniveau bedeuten, wenn Lehrkräfte nicht konstruktiv mit einer Vielfalt von Kindern umgehen können, kann Nagy nachvollziehen. Langfristig führe an einer besseren sozialen Durchmischung mittels Gesamtschule aber kein Weg vorbei. „Wenn wir weitermachen wie bisher, dann müssen wir alle dafür zahlen. Und ich meine wirklich alle!“, warnt Nagy eindringlich. Denn wenn Ahmed und Kevin nicht mit Lisa und Alexander zusammenkommen, bedeute das Parallelgesellschaften, leicht radikalisierbare Jugendliche, FacharbeiterInnenmangel und hohe Kosten für Eingliederungsmaßnahmen.

Mehr als eine Schule

Im Jahr 2009 wurde die Rütli-Schule mit einer benachbarten Realschule und einer Grundschule zu einer Gemeinschaftsschule, zum „Campus Rütli“, fusioniert. Damit wurde die Hauptschule aufgelöst, seit dem Schuljahr 2011/12 gibt es zudem eine gymnasiale Oberstufe. Im besten Fall können die SchülerInnen heute 13 Jahre lang zusammen lernen. Genial daran findet Nagy die Entwicklung der Schule hin zu einem lokalen Bildungsverband. Auf dem 48.000 Quadratmeter großen Campus sind zahlreiche Beratungs- und Betreuungsangebote zu finden: Kindergärten, eine Sporthalle, eine Volkshochschule, ein Gesundheitsdienst, Jugendklubs, ein Café und Berufsberatungsstellen. Dazwischen gibt es Grün- und Spielflächen. Der Stadtteil wurde durch den Campus aufgewertet. „Rütli ist nicht nur ein Projekt der Schulpolitik, sondern auch der Stadtentwicklung“, so Nagy.
Eine gemeinsame Schule nach ähnlichem Konzept könnte auch in Österreich erfolgreich sein. „Stellungnahmen der Sozialpartner wie im Bad Ischler Dialog 2013 zeigen Konsens, dass die frühe Trennung mit zehn Jahren abgelehnt wird – auch wenn meist der Begriff Gesamtschule gemieden wird“, meint Nagy. Aber die Angst der Mittelschicht vor dieser Schulform sei derzeit zu groß, um sie in den nächsten Jahren zu realisieren. Man müsse Schadensbegrenzung betreiben, indem sozial benachteiligte Kinder mittels bester Lernkultur gefördert werden – und in Form einer gerechten Mittelzuteilung.

Bedarfsorientierte Mittelverteilung

Soziale Brennpunktschulen brauchen mehr finanzielle Ressourcen, fordert Bildungswissenschafterin Nagy und plädiert wie Arbeiterkammer und OECD (2012) für eine bedarfsorientierte Mittelverteilung. Die Idee dahinter: Schulen mit mehr sozial benachteiligten Kindern erhalten mehr Ressourcen, da sie unter schwierigeren Bedingungen arbeiten und mehr Aufwand als gut funktionierende Schulen haben. „Manchmal braucht es Ungleichheit, um Gleichheit zu erzeugen“, sagt Nagy. Derzeit spielt die Zusammensetzung der SchülerInnenschaft einer Schule bei der Verteilung von Personal- und Sachaufwand kaum eine Rolle. In einigen Kantonen der Schweiz, in Teilen Deutschlands und in den Niederlanden ist die bedarfsorientierte Mittelverteilung längst gang und gäbe. „Das Geld, das wir heute in Bildung einsparen, investieren wir morgen in Gefängnisse“, bringt es die Rektorin der Rütli-Schule Cordula Heckmann auf den Punkt. Und das scheint, angesichts der Chronik ihrer Schule, nicht einmal dramatisierend.
„Ich unterstelle jeder Lehrperson, dass sie einen möglichst guten Unterricht halten will. Aber wenn sie mit so vielen Problemen befasst ist, kommt das Lernziel zu kurz“, erklärt die Bildungswissenschafterin. Am Campus Rütli hat man gute Lösungen gefunden. Vor Ort kümmern sich SchulpsychologInnen und SozialpädagogInnen um die Anliegen der SchülerInnen. Damit werden die Probleme aus dem Unterricht genommen, die LehrerInnen können sich auf ihre Lehrziele konzentrieren und werden entlastet. Eine gute Bildungsreform setze auch bei der Ausbildung und Auswahl der Lehrkräfte an, betont Nagy. In Rütli habe die neue Schulleitung gesagt: „Da kommt jetzt Arbeit auf uns zu – schulinterne Fortbildungen, Arbeit an Wochenenden. Wer das nicht mittragen will, soll lieber gehen.“ Ein Drittel des Lehrpersonals hat die Schule verlassen.

Beste Lehrpersonen

Die gemeinsame Unterrichtsentwicklung hat dazu geführt, dass die SchülerInnen nun deutlich bessere Leistungen erbringen. Heute gehören zum Kollegium in Rütli auch türkische und arabische LehrerInnen, die die Sprache der SchülerInnen sprechen. Vor allem aber, meint Nagy, sollten an Schulen in sozialen Brennpunkten nur die besten Lehrpersonen unterrichten, die es schaffen, auch leistungsschwachen Kindern Freude am Lernen zu vermitteln.
Am Campus Rütli setzt man auf neue Lernkultur und Personalisierung, das heißt, Kinder entsprechend ihrer Möglichkeiten zu fördern und zu fordern. Bestenfalls holt man dazu die Eltern mit ins Boot. Die Rütli-Schule hat das mit zum Erfolg geführt. Interkulturelle ModeratorInnen vermitteln den Kontakt zu den meist türkischen und arabischen Eltern, sie begleiten LehrerInnen bei Hausbesuchen und dolmetschen bei Elterncafés.

Eine Wende ist möglich

Im Jahr 2014 haben die ersten SchülerInnen in Rütli das Abitur gemacht. Etwa fünf Prozent der Kinder verließen die Schule ohne Abschluss – vor neun Jahren waren es noch knapp 20 Prozent. Dazu muss gesagt werden, dass die Zusammensetzung der SchülerInnenschaft unverändert ist: 86 Prozent der etwa 900 Jugendlichen haben Migrationshintergrund, rund 80 Prozent der Familien leben von staatlichen Transferleistungen. Die soziale Durchmischung verändert sich aber bereits in den unteren Klassen. Laut Rektorin Cordula Heckmann sei es nur eine Frage der Zeit, bis der Wandel alle Jahrgänge erreicht.
Nach dem Aufschrei der Schulleitung vor neun Jahren hat sich die Gesellschaft, nicht nur die Schule, die Frage gestellt: Wohin führt es, wenn wir soziale Brennpunktschulen verkümmern lassen? Diese Diskussion wünscht sich Gertrud Nagy auch für Österreich. „Wollen wir jahrelang mit unserem Steuergeld für Maßnahmen zur sozialen Eingliederung zahlen, nur weil die Politik verabsäumt, allen Jugendlichen gute Chancen zu bieten?“

Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin steindlirene@gmail.com oder die Redaktion aw@oegb.at

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