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Symbolbild zum Bericht Seit Jahrhunderten hat die Siesta in Spanien Tradition und sie galt als heilig.
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Ausgeschlafen

Schwerpunkt

24-Stunden-Gesellschaften sind für das Individuum nicht schlaffördernd. Das ist für alle ungesund.

So viel Aufruhr hätte sich Joan Faus, Bürgermeister der kleinen Gemeinde Ador in der spanischen Provinz Valencia, nicht träumen lassen. Zu Sommerbeginn ordnete er an, von zwei bis fünf Uhr nachmittags Ruhe einzuhalten. Die Geschäfte wurden geschlossen, sogar das Schwimmbad machte zu. Die rund 1.400 EinwohnerInnen folgten dem Siesta-Erlass begeistert, meldeten die Lokalblätter. Landesweit sorgte die Rückkehr zur Mittagsruhe für Schlagzeilen, aus dem Ausland wurde beim Bürgermeister angerufen, aus Holland reiste ein Kamerateam an.

Tradition
Seit Jahrhunderten hat die Siesta in Spanien Tradition. Zur sechsten Stunde nach Sonnenaufgang (sexta hora) kamen die Menschen von den Feldern und aus den Geschäften nach Hause und ruhten sich aus. Sie aßen miteinander und unterhielten sich im Kreis von Familie und FreundInnen. Es gab die „siesta con pijama“ – und die ohne. Wie lange sie auch dauerte: Sie galt als heilig. Als große kulturelle Leistung bezeichnete der politische Journalist Werner A. Perger die Zeit entspannter Kontemplation, den Brauch, mit dem Generationen hindurch vor allem im Süden Spaniens der großen Hitze begegnet waren.
Als Spanien Mitte der 1980er-Jahre der Europäischen Gemeinschaft beitrat, wurde schnell klargemacht: Ein Land, dessen AmtsträgerInnen die Mittagszeit verdösen, passt nicht in eine effiziente europäische Verwaltung. Größere Firmen der Privatwirtschaft regelten die Siesta – bzw. vielmehr deren Beseitigung – bald über den Kollektivvertrag. Weiter beschnitten wurde die Siesta im Jahr 2005, als die Regierung von José Luis Rodríguez Zapatero die lange Mittagspause für die öffentlich Bediensteten strich.
„Reaktion auf die Schuldenkrise“, meldete die „Süddeutsche Zeitung“ am 29. Juli 2012, „Spanien schafft Siesta ab.“ Per 1. September 2012 „durfte“ der Einzelhandel, bis zu diesem Zeitpunkt eines der letzten wenigen Bollwerke gegen die Eliminierung eines Kulturgutes, durcharbeiten. Die wöchentliche Arbeitszeit wurde von 72 auf 90 Stunden ausgedehnt. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Mittagspause für Geschäfte unter 300 m2 verpflichtend gewesen.

Faulenzen
„Siempre la siesta“ betitelt
e der „Spiegel“ einen Beitrag in seiner Ausgabe vom 24. Juni 2013, den der deutsche Politikwissenschafter Max A. Höfer mit einem Vorwurf einleitete: Durch die Euro-Krise würden die SüdeuropäerInnen gezwungen, wie die Deutschen zu leben. Konkret beklagt wurde die Abschaffung der Siesta im Herbst 2012 – laut dem deutschen Magazin war diese auf Druck der Euro-Troika zustande gekommen. Denn „Faulenzen“, selbst in brütender Mittagshitze, solle sich ein Land im Staatsbankrott nicht leisten können.
„Der Schlaf, der dem müßiggängerischen Faulenzen so ähnlich ist, stellt die totale Nutzbarmachung der Zeit fundamental in Frage“, schreibt Max A. Höfer in dem zitierten Artikel. So stünde der Schlaf bei den Puritanern seit jeher unter Generalverdacht. Höfer nennt den Anthropologen Matthew Wolf-Meyer, der in der umfangreichen Studie „The Slumbering Masses. Sleep, Medicine and Modern American Life“ zeigt, dass die ursprünglich puritanische, auf Nützlichkeit orientierte Einstellung zum Schlaf bis heute das Verständnis um ihn präge. Selbst die medizinische Schlafforschung der USA hätte lange darauf abgezielt, „den Schlaf zu amerikanisieren, indem sie sich auf Effizienz und Schlafmanagement konzentrierte“.
Der Kapitalismus, so der deutsche Ökonom und Politikwissenschafter Höfer, mache systematisch aus der Nacht einen Tag. Schlaf gelte mittlerweile als Managementproblem, das prinzipiell lösbar sei, wenn man nur rationale Mittel, etwa Medikamente, anwende. „Die Frage, ob und wann in hochbeschleunigten Wettbewerbsgesellschaften jemals Schlafenszeit ist, raubt vielen den Schlaf“, schreibt Elisabeth von Thadden in der „Zeit“ vom 21. Oktober 2014. Die Statistiken, Ratgeber und Illustrierten notierten seit Jahren immer aufgeregter die fiebrig ansteigenden Kurven der neuen Schlaflosigkeit, insgesamt gebe es heute über 80 schlafmedizinische Diagnosen.

Wenig Schlaf verdirbt die Laune
Einer der Diagnostiker ist Ingo Fietze, der den Anstieg der Schlafstörungen nicht nur auf längere Lebenszeit zurückführt: Stress in der Arbeit und zu Hause nage am Schlaf, die wachsenden Herausforderungen der Leistungsgesellschaft trügen das Ihre bei. Die häufigsten Schlafstörungen wie Insomnie, Schlafapnoe und unruhige Beine verkürzen die Lebenserwartung, erhöhen das Risiko für Herz-Kreislauf- und andere Erkrankungen. Sie verderben die Laune oder führen gar zu Depressionen, weiß der Experte.
Ein Erwachsener schläft im Schnitt 7 bis 7,5 Stunden. Der Anteil der KurzschläferInnen mit einer Schlafzeit von unter sechs Stunden steige dramatisch, so der Fachmann. Ein Experiment von Forschern an der Universität Freiburg, die mehrere StudentInnen unter Steinzeitbedingungen ohne externe Einflüsse unter Beobachtung stellten, zeigte, dass sich deren Schlafzeit um rund 90 Minuten verlängerte. Conclusio des Schlafexperten: Die Industrialisierung raubt uns den Schlaf. Die Siesta light wurde in den Ländern des Nordens durch den mittäglichen Powernap eingeführt, mit dem nicht nur etwaiger fehlender Nachtschlaf kompensiert werden sollte. Zwar hat sich der Kurzzeitschlaf am Arbeitsplatz nicht durchgesetzt, doch findet er weiterhin zahlreiche VerfechterInnen in der Wissenschaft.
„Warme Speisen ziehen Blut aus dem Gehirn Richtung Magen. Die Verdauung braucht Energie, die dem Gehirn fehlt“, transportiert Ingo Fietze das Sprichwort vom vollen Bauch in die Arbeitswelt. So sei es ökonomisch sinnvoll, zwischen 12.00 und 14.00 Uhr eine Siesta zu machen. „Jeder Arbeitgeber trifft eine gute Entscheidung, wenn er flexible Arbeitszeiten und Ruhepausen zulässt. Das erhält die Arbeitsmoral, die Leistungsbereitschaft und sicher auch den Spaß an der Arbeit.“ Allerdings, so sein Rat, sollte nach spätestens 40 Minuten der Wecker klingeln, um ein Absinken in den Tiefschlaf zu vermeiden.

Subversiver Schlaf
„Schlaf ist die kompromisslose Unterbrechung der uns vom Kapitalismus geraubten Zeit“, schreibt der Kunstkritiker Jonathan Crary in seinem 100-seitigen Essay „24/7: Schlaflos im Spätkapitalismus“. Darin rechnet er mit einer Gesellschaft ab, in der die Menschen 24 Stunden auf Trab gehalten werden sollen: als KäuferInnen, KonsumentInnen, als ewig Erreichbare und Alarmierte. In ihr steht es nicht gut um den Schlaf. MedizinerInnen berichten von Netzsüchtigen, die mehrmals des Nachts E-Mails checken. Der Schlaf verkümmert so zum „sleep mode“, zu einer Art lästigem Bereitschaftsmodus, immer verfügbar für die wichtigen Nachrichten der realen Welt.

Schlafen statt schuften?
Wenn man so will, ließe sich der Siesta-Erlass des Bürgermeisters im spanischen Dorf Ador auch politisch interpretieren. Nach den Kommunalwahlen im Mai mussten die beiden etablierten Großparteien, Sozialisten und Konservative, zahlreiche Rathäuser räumen. Neue, oft linksalternative Wahlbündnisse – gegründet aus Protest gegen Korruption und rigiden Sparkurs – übernahmen das Ruder. Kann die Wiedereinführung der Siesta als Systemkritik verstanden werden? Heißt schlafen statt schuften die neue Devise? Joan Faus wehrt sich gegen eine Überinterpretation und zitiert die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Derzufolge ist ein 20- bis 30-minütiges Nickerchen zu Mittag der Gesundheit zuträglich. Außerdem, so Joan Faus, bewahre es besonders die Schwächsten vor einem Hitzschlag.

Linktipp
Mehr Infos unter:
tinyurl.com/pwh5pmc

Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin gabriele.mueller@utanet.at oder die Redaktion aw@oegb.at

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