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Symbolbild zum Bericht Der Euro muss immer wieder als Sündenbock für Teuerungen und eine fehlende EU-Wirtschaftspolitik herhalten. Insgesamt wird die EU überwiegend für wirtschaftlich wichtig, Frieden stiftend, demokratisch, solidarisch und sozial gehalten.

Reality Bites

Schwerpunkt

Die ambivalente und indifferente EU-Stimmung ist auch ein Spiegelbild des mehrdeutigen Diskurses und europapolitischer Passivität heimischer Akteurinnen.

Seit genau zwanzig Jahren ist Österreich EU-Mitglied, zwei Jahrzehnte, in denen sich die Lebenswirklichkeit der Menschen drastisch verändert hat. Die europäische Integration ist mit der Euro-Einführung, drei Erweiterungsrunden, dem Ende von Pass- und Grenzkontrollen, der Liberalisierung nationaler Arbeitsmärkte oder dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon weit vorangeschritten. Zugleich waren die letzten Jahre vom Kampf gegen die Wirtschafts- und Finanzkrise mit ihren dramatischen sozialen Verwerfungen überschattet. Beschleunigte Globalisierung und Digitalisierung sowie ein verändertes geopolitisches Umfeld als Folge von Extremismus und expansivem Nationalismus zwingen zu einer ständigen Neuorientierung und machen die Interdependenz der handelnden AkteurInnen deutlich.

Neue Möglichkeiten

Österreichs Weg in die EU war lange versperrt, erst der Fall des Eisernen Vorhangs öffnete der europäischen Integration neue Möglichkeiten. Die Aussicht auf gesteigerten wirtschaftlichen Wohlstand im „neu entstandenen“ Zentrum Europas sowie das Zusammenwirken von Regierung und Sozialpartnern führten zu einer Zweidrittelmehrheit für die EU-Mitgliedschaft. Das Versiegen des Dialogs nach dem Beitritt ließ jedoch viele Fragen offen und manche Meinungen, Widersprüche und (Vor-)Urteile über die EU entstehen, die sich teils bis heute halten.
Das „EUropa“-Bild der ÖsterreicherInnen ist seither ambivalent, die Mitgliedschaft selbst jedoch unbestritten. Zwei von drei Befragten sind heute der Meinung, dass unser Land in der EU bleiben soll, ein Viertel ist für den Austritt. 57 Prozent sagen, dass die Beitrittsentscheidung richtig gewesen sei, 36 Prozent halten sie für falsch. Diese Ergebnisse folgen einem Trend, der sich seit 1995 im Großen und Ganzen hält.

Vor- und Nachteile

Etwa die Hälfte sieht für unser Land mehr Vorteile aus der Mitgliedschaft, ein Drittel mehr Nachteile. Am meisten hätten große Unternehmen profitiert („mehr Vorteile“: 86 Prozent) sowie SchülerInnen, Studierende und Lehrlinge (52 Prozent). Für ArbeitnehmerInnen würden sich Vor- und Nachteile die Waage halten (je 40 Prozent). Klare Verlierer wären kleine und mittlere Unternehmen („mehr Nachteile“: 58 Prozent) und LandwirtInnen (56 Prozent). PensionistInnen hätten nur für 17 Prozent der Befragten profitiert, für 34 Prozent jedoch Nachteile erfahren.
Die EU wird überwiegend für wirtschaftlich wichtig, Frieden stiftend, demokratisch, solidarisch und sozial gehalten. Für neun von zehn ÖsterreicherInnen ist sie aber auch kompliziert, sechs von zehn empfinden sie als fern, mehr als die Hälfte charakterisiert sie als schwach und unsicher und verbindet sie mit Zwang.
Differenziert
erweist sich die Beurteilung der wichtigsten Integrationsschritte. So stellte die Euro-Einführung 2002 für viele eine Zäsur dar. Dennoch hielten ein halbes Jahr vor der Währungsumstellung fast zwei Drittel die Euro-Teilnahme für richtig. Allerdings rechnete schon damals eine Mehrheit mit Preiserhöhungen. Seitdem muss der Euro als Sündenbock für Teuerungen und eine fehlende gemeinschaftlichen Wirtschaftspolitik herhalten. Demgegenüber stehen die wahrgenommen Vorteile, etwa der Wegfall des Geldwechsels sowie die positive Rolle des Euro für die Stellung der EU in der globalen Wirtschaft.
In den Krisenjahren hat das Euro-Vertrauen stark gelitten und sank von Frühjahr 2010 bis Ende 2012 von 70 auf 38 Prozent. Heute hat sich das Meinungsbild stabilisiert. Knapp die Hälfte zeigt wieder Vertrauen, rund zwei Drittel glauben konstant an die langfristige Zukunft des Euro und sehen seine Einführung positiv. Der Euro macht Europa an-greifbar – im doppelten Sinne. Er emotionalisiert die Debatte und trägt – über seine geldpolitische Funktion hinaus – zur Ausbildung einer europäischen Identität bei.

Positive Bilanz

Eine weitere zentrale Integrationsetappe war die große EU-Erweiterung 2004: Die Mitgliedschaft Ungarns wurde in Österreich stets mehrheitlich begrüßt, auch die Aufnahme Sloweniens wurde akzeptiert. Zu Tschechien und der Slowakei war das Meinungsbild geteilt, doch fand sich nie eine Mehrheit gegen ihren Beitritt. Heute ziehen die ÖsterreicherInnen eine positive Bilanz über die Integration unserer Nachbarn. Künftigen Erweiterungen stehen sie allerdings skeptisch gegenüber. Die Aufnahme Kroatiens wurde noch begrüßt, die Konsolidierung der EU sollte gegenwärtig jedoch im Vordergrund stehen, so die mehrheitliche Meinung.
Polarisierend
erweist sich das sukzessive Ende von Pass- und Grenzkontrollen bis Ende 2007: Etwa die Hälfte (49 Prozent) sieht dies positiv, 43 Prozent negativ. „Offene Grenzen“ werden zum einen als großes Plus der EU gesehen, zum anderen aber auch als Ursache für steigende Kriminalität, zunehmenden Verkehr und die Gefährdung von Arbeitsplätzen. Gerade vor der Liberalisierung des heimischen Arbeitsmarktes 2011 befürchtete rund die Hälfte einen Ansturm von Arbeitskräften aus den Nachbarländern, ein knappes Zehntel hatte Sorge um den eigenen Arbeitsplatz. Ein Jahr danach sah eine Mehrheit jedoch keinen starken Arbeitskräftezuzug – ein Hinweis darauf, dass die siebenjährige Übergangszeit vor der Arbeitsmarktöffnung genutzt wurde, um etwaige Folgen abzufedern.
Bis heute haben
sich viele Befürchtungen aus der Vor-Beitrittszeit gehalten. Zwar hätte sich der heraufbeschworene Verlust der heimischen Identität oder der Ausverkauf von Grund und Boden nicht bestätigt. Eine Mehrheit bilanziert jedoch, dass Szenarien wie die Gefährdung von Arbeitsplätzen und kleinen landwirtschaftlichen Betrieben, der Aus-verkauf von Firmen oder die Zulassung genmanipulierter Lebensmittel zumindest „zum Teil“ eingetreten wären.

Fehlende politische Visionen

Dieses EU-Stimmungsbild prägen systemische Probleme der EU und politische Divergenzen, aber eben vor allem auch gravierende Kommunikationsmängel auf nationaler wie europäischer Ebene und fehlende politische Visionen. Ziel muss es daher sein, nunmehr auf jene verstärkt einzugehen, die dieser EU kritisch gegenüberstehen, weil sie die Union momentan eben nicht als Schutz vor der Globalisierung, sondern als ihren Motor betrachten. Hierzu zählen vor allem die Ältesten, aber auch Personen, die über eine niedrigere formelle Ausbildung verfügen. Gemeinsam ist dieser Gruppe das Gefühl, nicht von den Vorteilen der Integration zu profitieren und der zunehmenden Vernetzung der Welt ohnmächtig gegenüberzustehen. Dieses Empfinden teilen sie mit vielen: „Meine Stimme ändert nichts“ zählte zu den meistgenannten Motiven bei jenen, die nicht an den letzten Wahlen zum Europäischen Parlament teilnahmen. Nachdenklich stimmt ebenfalls, dass zwar die Jugend der europäischen Integration positiver gegenübersteht, sich aber bisher in einem geringeren Ausmaß an den Wahlen beteiligt.

Normalzustand

Dennoch: Bei aller Kritik ist die EU letztlich zum Normalzustand geworden. Die Gesamtperformance Österreichs in der EU kann sich sehen lassen – vor allem die heimische Wirtschaft konnte von der Mitgliedschaft profitieren. Der neu gewonnene europapolitische Spielraum wurde bisher nur begrenzt genutzt. Österreich muss die europäische Integration aktiver mitgestalten, muss die heimische Politik stärker europäisieren und die öffentlichen Debatten intensivieren. Gesucht sind entschiedene Maßnahmen für Wachstum und Beschäftigung sowie die Demokratisierung von Entscheidungsprozessen, um Vertrauen wiederherzustellen und KritikerInnen und Demokratieverdrossene in den gesellschaftlichen Diskurs zurückzuholen. Gefragt ist weniger nationale Selbstverzwergung, sondern eine mutige, selbstbewusste und proaktive Europapolitik. Einen Fehlstart in das dritte Jahrzehnt der österreichischen EU-Mitgliedschaft könnten wir damit vermeiden.

Webtipp:
Österreichische Gesellschaft für Europapolitik:
tinyurl.com/p2c45mw

Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor paul.schmidt@oegfe.at oder die Redaktion aw@oegb.at

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