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Armut jenseits der griechischen Grenze Im Winter 2012/13 führten Strompreiserhöhungen zu sozialen Unruhen, die von großen Teilen der Bevölkerung unterstützt wurden.
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Armut jenseits der griechischen Grenze

Schwerpunkt

Eine geringe Staatsverschuldung und eine harte Währung kennzeichnen die Wirtschaftspolitik Bulgariens. Die Zeche bezahlen die Menschen.

Das Magazin der „Bulgaria Air“ gibt sich (zweck-)optimistisch: Die Hauptstadt Sofia würde sich in den nächsten Jahren zur Topdestination entwickeln. Schließlich sei Sofia die billigste Metropole Europas. Die andere Seite dieser Medaille fasst die konservative „Wirtschaftswoche“ zusammen: „Die Armut dominiert in Bulgarien.“ Während in Griechenland bereits rund ein Drittel der Bevölkerung als armutsgefährdet gilt, betrifft das in Bulgarien inzwischen die Hälfte der Menschen. „Sparen“ und „Schuldenbremse(n)“ waren und sind demgegenüber die einzigen Rezepte im Umgang mit wirtschaftlichen und sozialen Problemen. Gleichzeitig hat das Steuersystem durch hohe Mehrwertsteuern auf alltägliche Güter die Masse der Bevölkerung zusätzlich belastet. Reiche hingegen wurden mittels Flat Tax entlastet. Nach einem Bericht des Instituts der deutschen Wirtschaft gehört Bulgarien zu jenen Ausnahmestaaten, in denen die reichsten 20 Prozent von Steuern und Transfers netto profitieren.1

Der Lew ist hart, aber oft unerreichbar

Eine Studie der Friedrich Ebert Stiftung beschreibt den Wirtschaftskurs des Landes als Politik, die sich seit über 20 Jahren lediglich den Zielen Privatisierung, sogenannter Stabilität bzw. einfach (neoliberalen) „Reformen“ verschrieben hat.2 Die staatliche Verschuldung ist extrem niedrig, der bulgarische Lew seit langer Zeit hart wie der Euro. Bezahlt wurde diese Stabilität aber mit der dramatischen Entwertung des sogenannten „Humankapitals“. Der Durchschnittslohn liegt bei 800 Lew im Monat, das sind 400 Euro. Jede fünfte Person muss mit nur 120 Euro pro Monat auskommen. Die Preise für Lebensmittel oder Bekleidung erreichen demgegenüber Westniveau. Als „Antwort“ auf die internationale Krise hat sich die öffentliche Hand seit 2008 noch weiter zurückgezogen. Dadurch verdoppelte sich die Arbeitslosenrate auf fast 13 Prozent. Bei einem Mindesttagessatz von vier Euro Arbeitslosengeld oder durchschnittlich 150 Euro Sozialhilfe für eine fünfköpfige Familie ist ein Jobverlust freilich oft gleichbedeutend mit einem Bettlerschicksal.

Proteste gegen „das System“

Das Scheitern der neoliberalen Transformation drückt sich auch in der dramatischen Abwanderung aus. Bulgarien hat inzwischen ungefähr die Bevölkerungsanzahl der 1950er-Jahre – allerdings mit einem um rund 50 Prozent höheren Altersdurchschnitt. Für junge und besser ausgebildete Schichten ist Migration aber nicht mehr das einzige massenhaft genutzte Ventil gegenüber den unhaltbaren Zuständen. Bemerkenswerterweise waren Umweltfragen der Ausgangspunkt für seit sieben Jahren wiederkehrende Proteste, die vor allem auf den Straßen Sofias stattfanden. Deren TrägerInnen begreifen sich selbst vor allem als „hart arbeitende Mitte“ der Gesellschaft und sehen als Hauptproblem Bulgariens noch immer das vermeintlich „sozialistische Erbe“ des Landes. In diesem Sinne steht nicht die Sparpolitik in Europa oder gar Kritik am Kapitalismus im Zentrum dieser Proteste. Vielmehr wird die Korruption und in diesem Kontext ein angeblich noch immer zu großer Einfluss des Staates als zentrales Feindbild fokussiert. Gegenüber sozialen Fragen – also Tariflöhnen, Pensionen, Sozialleistungen – herrscht bei diesen Protesten in der Regel Ignoranz vor.

Korruption ist nur Teil des Problems

Korruption ist ein immer wiederkehrendes Thema, wenn es um osteuropäische Länder geht. Tatsächlich wies Bulgarien in puncto Korruption 2013 – nach Griechenland – die zweitschlechtesten Werte in der gesamten EU auf.3 Der Aufstieg der kleinen und großen Oligarchen fand während der Privatisierungsprozesse der großen Staatsgesellschaften statt. Vor allem diese Transformation wurde von den europäischen Gremien eingefordert und von internationalen Konzernen und den neuen bulgarischen Eliten zur Sicherung der wichtigsten Marktsegmente genutzt. Die aktuellen Privatisierungsprozesse im Nachbarland Griechenland zeigen übrigens ähnliche Begleiterscheinungen wie in Bulgarien. 2013 musste der Chef der griechischen Privatisierungsbehörde, Stelios Stavridis, nach einem Korruptionsfall zurücktreten. Aber auch andere Aspekte unterstreichen, dass die bulgarische Volkswirtschaft durchaus grundlegendere bzw. auch mit anderen Staaten vergleichbare Probleme als „nur“ die Korruption hat. So weist beispielsweise die Handelsbilanz Bulgariens – trotz Billiglöhnen – ein permanentes Defizit aus. 2013 betrug dies 3,617 Milliarden Euro. Dem stehen pro Jahr lediglich 700 Millionen Nettotransfers aus EU-Töpfen gegenüber, die zudem tatsächlich zu einem großen Teil im Korruptionssumpf der Eliten versickern dürften.

Politische Instabilität

Extrem instabil zeigt sich auch das politische System des Landes. Erst im Mai 2014 trat ein Bündnis aus der zumindest offiziell „sozialdemokratisch/links/grün“ orientierten „Koalition der Bulgaren“ und der Partei der türkischen Minderheit an, die sich gleichzeitig von der rechtsextremen und antisemitischen Partei ATAKA stützen ließ. Bereits kurz vor dem Sommer musste diese Regierung aufgrund einer Bankenkrise den Weg für Neuwahlen im Herbst 2014 frei machen. Zuvor wurden allerdings auf Empfehlung der EU noch 1,6 Milliarden Euro in das Finanzsystem des Landes gepumpt, welches zu 85 Prozent in ausländischer Hand ist. Für Bulgarien ist das umgekehrt eine astronomische Summe, die den Sparkurs erneut verschärfen könnte. Laut Umfragen erwartet aber ohnehin kaum jemand in Bulgarien noch irgendetwas Positives von „der Politik“.

Kaum organisierter Protest

Im Winter 2012/13 führten Strompreiserhöhungen nicht nur zu etlichen Todesfällen durch Erfrieren. Mindestens sieben ArbeitnehmerInnen bzw. Arbeitslose verbrannten sich aus Protest. Soziale Unruhen folgten, unterstützt von großen Teilen der Bevölkerung. Der Widerstand gegen die Preispolitik der internationalen Energiekonzerne – zu denen auch die österreichische EVN gehört – war schließlich so groß, dass die Regierung zurücktreten und deren Nachfolgekabinett in die Tarifgestaltung eingreifen musste. Trotz dieses punktuellen Erfolges ist aber organisierter sozialer Protest momentan fast kaum vorhanden. Die bulgarischen Gewerkschaften, die solche Bewegungen nachhaltiger gestalten könnten, zählen selbst zu den Opfern der neoliberalen Transformation. Trotz eines vergleichsweise hohen Organisationgrades von 20 Prozent kämpfen sie mit enormen strukturellen und politischen Problemen. So hat die Schließung von ehemals staatlichen Großbetrieben in den letzten 15 Jahren zu einer Reduktion der Mitglieder um mehr als die Hälfte geführt. Gewerkschaftlicher Widerstand konzentrierte sich demgegenüber auf die wenigen Bereiche, in denen trotzdem eine gewisse Organisationskraft aufrechterhalten werden konnte. Zuletzt (2011/12) waren das vor allem der Bergbau und das Eisenbahnwesen. Aber auch hier werden von den bulgarischen Gewerkschaften staatliche Streikverbote für ganze Gruppen von Beschäftigten und direkte Angriffe auf Gewerkschaftseigentum thematisiert.4 Die entscheidende Frage lautet somit, ob die bulgarischen Gewerkschaften selbst aus dieser Spirale nach unten ausbrechen können. Es kann in diesem Kontext wohl nur darum gehen, anschlussfähig gegenüber kommenden Protestbewegungen zu sein bzw. selbst die Initiative zu übernehmen. Gleichzeitig wird es auch an den Gewerkschaften liegen, das politische System des Landes zumindest ein Stück weit (mit) zu erneuern. Griechenland bzw. die aktuelle Rolle der griechischen Gewerkschaften erscheint hier bemerkenswerterweise geradezu als strategisches Vorbild.

1 
Vgl.: Judith Niehues, Staatliche Umverteilung in der Europäischen Union, März 2013.
2 
FES, Fighting poverty in Bulgaria, November 2013.
3 
cpi.transparency.org/cpi2013/results/

4 Vgl.: tinyurl.com/mqb54eo

Mehr Infos im Web unter: Friedrich Ebert Stiftung: tinyurl.com/m5ajh6r

Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor john.evers@gmx.net oder die Redaktion aw@oegb.at

Der Autor bereiste in den letzten 25 Jahren rund zehnmal unterschiedliche Regionen Bulgariens.

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