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Symbolbild zum Bericht Die TCM wurde jahrtausendelang von Gelehrten ausgeübt, die ihr Wissen nicht als Volksheilkunde sahen, sondern untereinander weitergaben.

West-östlicher Austausch

Schwerpunkt

Die Koexistenz von Traditioneller Chinesischer Medizin (TCM) und westlicher Schulmedizin kann zu unerwünschten Nebenwirkungen führen.

Seinem Arzt die Zunge zu zeigen, das ist in der Traditionellen Chinesischen Medizin ganz normal. Denn deren Beschaffenheit liefert den Medizinerinnen und Medizinern wertvolle Hinweise auf Veränderungen im Körper. Auch der Puls wird in der TCM nicht einfach nur gemessen, sondern genau beobachtet. 28 verschiedene Pulsqualitäten geben Aufschluss über den Zustand der inneren Organe. Beobachten, riechen, horchen, befragen und betasten – nach der Traditionellen Chinesischen Medizin muss ein Arzt zur Diagnoseerstellung alle fünf Sinne einsetzen. Zungen- und Pulsdiagnostik, Tastbefund sowie eine ausführliche Anamnese nehmen vor al-lem beim ersten Mal wesentlich mehr Zeit in Anspruch als bei einem üblichen Arztbesuch.

Durchhaltevermögen und Geld

Das Einnehmen der oft extrem bitter schmeckenden Kräuterzubereitungen sowie die in den meisten Fällen nötige Umstellung der Lebensgewohnheiten erfordern viel Durchhaltevermögen seitens der Patientinnen und Patienten – und auch einigen finanziellen Einsatz. Trotzdem hat sich die Zahl der TCM-Ärztinnen und -Ärzte in den vergangenen 20 Jahren deutlich erhöht. Funktionelle Störungen wie Verdauungsbeschwerden, Schwindel, Tinnitus etc. sind eine Domäne dieser östlichen Heilkunde, aber auch bei chronischen Krankheiten kann sie die Schulmedizin wirkungsvoll unterstützen.

Patientinnen und Patienten, die dank Akupunktur schwere Operationen bei vollem Bewusstsein erlebten – diese Bilder gingen in den 1970er-Jahren um die Welt. Und obwohl die Schulmedizin für die anästhesierende Wirkung der Nadeln keine Erklärung fand, setzte sich die TCM-Methode Akupunktur hierzulande durch. 1991 wurde das Ärztekammer-Diplom für Akupunktur eingeführt. Ungefähr zu dieser Zeit wurde die Traditionelle Chinesische Medizin als ganzheitliche Heilmethode allmählich auch in Österreich bekannt. Was damals mit einer Handvoll engagierter Ärzte, die ihre Ausbildung in China erworben hatten, begonnen hat, führte unter anderem 2004 zur Gründung der TCM-Privatuniversität Li Shizhen in Wien, die allerdings aus finanziellen Gründen schon 2009 wieder schließen musste. Ebenfalls 2004 hat die Österreichische Ärztekammer das Spezialdiplom „Chinesische Medizin und Arzneitherapie“ eingeführt. Heute bietet eine Reihe spezialisierter Einrichtungen die zweijährige TCM-Ausbildung für das ÖÄK-Diplom1 an. Mehr als 70 Ärztinnen und Ärzte in ganz Österreich haben dieses Diplom bisher erhalten. Angeboten wird TCM allerdings von mehr Medizinerinnen und Medizinern, denn manche besuchen zwar die entsprechenden Kurse, absolvieren aber keine Prüfung. Denn an sich dürfen Ärztinnen und Ärzte auch ohne formelle Prüfungen mit speziellen Methoden wie etwa TCM arbeiten, sie müssen dabei allerdings innerhalb ihres Fachgebietes bleiben.

Die in der Schulmedizin übliche Unterteilung in Fachgebiete gibt es in der Traditionellen Chinesischen Medizin nicht. Denn bekämpft werden nicht die Symptome, wie Hautprobleme, Kopfschmerzen oder Verdauungsstörungen, sondern das zugrunde liegende energetische Ungleichgewicht. Es gibt zwar Akupunkturpunkte und andere Mittel für die Akutbehandlung bzw. zur Selbstmedikation, aber im Allgemeinen behandeln TCM-Ärztinnen und -Ärzte ihre Patientinnen und Patienten immer individuell – mit Arzneimischungen, Tuina (Massage), Schröpfen, Akupunktur, Moxibustion (Akupunktur plus Wärme) etc. Ein wichtiger Bestandteil der chinesischen Gesundheitslehre ist die Ernährung, die Fünf-Elemente-Küche ist mittlerweile auch hierzulande ein Begriff. Sie wird auch von Ernährungsberaterinnen und -beratern angeboten und kann unter anderem helfen, bei Alltagsbeschwerden wie beispielsweise Wetterfühligkeit frühzeitig einzugreifen.

Tradition trifft Moderne

Die meisten chinesischen Arzneimittel sind seit Jahrtausenden bekannt. Ein bedeutendes Standardwerk wurde vor mehr als 400 Jahren von dem chinesischen Gelehrten Li Shizhen verfasst. Er benötigte fast 27 Jahre, um Tausende Rezepte aufzulisten und deren Bestandteile zu beschreiben. In Europa sind heute mehrere Hundert Rohstoffe gebräuchlich, die meisten davon pflanzlicher Herkunft. Das Geschäft mit TCM läuft gut: Man schätzt, dass 2012 weltweit TCM-Produkte im Wert von 83,1 Mrd. US-Dollar produziert wurden, um 20 Prozent mehr als 20112. Die zunehmende Popularität einer traditionellen Heilmethode, die ursprünglich nur von gut ausgebildeten Heilkundigen praktiziert wurde, hat aber auch Schattenseiten:

  • Durch die stark gesteigerte Nachfrage nach „Modedrogen“ werden die Produktionsbedingungen (Anbaugebiete, verwendete Pflanzenteile etc.) verändert – und dadurch meist auch die Inhaltsstoffe.
  • 2013 wurden bei einer Untersuchung von chinesischen Heilkräutern in 17 von 36 Proben Pestizidrückstände festgestellt, die von der Weltgesundheitsorganisation als extrem gefährlich oder gefährlich eingestuft werden. 26 der 36 Proben wiesen Rückstände oberhalb der in der EU zugelassenen Höchstmengen auf.
  • Durch die nicht sachgemäße Anwendung bzw. Selbstmedikation kam es zu schweren Vergiftungsfällen nach der Einnahme von TCM-Arzneien.
  • Flora und Fauna werden dezimiert, Tiere gequält. Angesichts von illegalen Tierfarmen und Wilderei bringen (vor allem nationale) Verbote zu wenig. Bei Pflanzen gibt es den Trend, vermehrt westliche Kräuter nach TCM-Kriterien zu klassifizieren und einzusetzen.
  • Egal ob Handtaschen, Viagra oder TCM-Arzneien, gesteigerte Nachfrage führt vor allem in asiatischen Ländern zu Fälschungen. Auch Zertifikate für artgemäße Haltung u. Ä. werden gefälscht.

Bedenkliche (krebserregende) Inhaltsstoffe wurden auch in traditionellen heimischen Heilkräutern wie etwa Huflattich schon entdeckt. Spezielle Züchtungen, aber auch die korrekte Anwendung können derlei Gefahren reduzieren. Außerdem ist fraglich, wie weit der westliche Ansatz, Arzneien vorwiegend zur Symptombekämpfung einzusetzen und nach den quantifizierbaren Inhaltsstoffen zu beurteilen, bei TCM-Arzneien überhaupt sinnvoll ist. Im Grunde handelt es sich bei autochthonen Heilmethoden wie TCM um das geistige Eigentum bestimmter Regionen. Die Frage, wie weit (ungefragt) Teile daraus hier in Europa übernommen und (unreflektiert) kommerzialisiert werden sollten, beschäftigte übrigens auch die WHO. Wie auch immer: Wer TCM-Produkte in der Apotheke und nicht auf dem Wochenmarkt oder im Internet kauft, ist an sich auf der sicheren Seite.

Wechselvolle Geschichte

Die TCM wurde jahrtausendelang von Gelehrten ausgeübt, die ihr Wissen nicht als Volksheilkunde sahen, sondern untereinander weitergaben bzw. an speziellen Lehrstätten ausgebildet wurden. Noch heute gibt es TCM-Universitäten und Spitäler. Immer wieder kam es auch zum Austausch etwa mit Japan. Um 1900 kam es in China zu großen Epidemien von Infektionskrankheiten, gegen welche die westliche Medizin mit Desinfektionsmitteln und später Antibiotika wesentlich mehr ausrichten konnte als die TCM. Die kommunistische Regierung unter Mao verbot die TCM zuerst, bemühte sich aber ab den 1950er-Jahren, die alten Traditionen wieder aufzuwerten. Seit 1995 versucht man, die TCM in die Moderne zu integrieren und gezielt zu vermarkten.

Austausch in beide Richtungen

Chinesinnen und Chinesen können heute zwischen westlicher und östlicher Medizin wählen, 2009 betrug der TCM-Anteil 18 Prozent (16 Prozent bei den Spitalspatientinnen und -patienten). Der Austausch funktioniert in beide Richtungen: Von 2000 bis 2010 hat sich der Anteil chinesischer Koautorinnen und Koautoren bei internationalen Studien von fünf auf 13 Prozent erhöht. Pharmariesen wie Boehringer Ingelheim oder Bayer melden aus China nicht nur zweistellige Wachstumsraten für ihre Produkte, sie haben auch längst die TCM für sich entdeckt. Im vergangenen März etwa hat Bayer Health Care für kolportierte 587 Mio. US-Dollar die chinesische Dihon Pharmaceutical Group gekauft, die sich auf rezeptfreie Medikamente und TCM-Produkte spezialisiert hat.

1 Mindestens 500 Unterrichtseinheiten à 45 Minuten; davon circa zwei Drittel Seminare und Kurse, ein Drittel Praxis.
2 WHO Traditional Medicine Strategy: 2014–2023.

Web-Tipps:
Liste der Ärztinnen und Ärzte mit ÖÄK-Diplom „Chinesische Medizin und Arzneitherapie“: www.praxisplan.at
Dachverband für TCM & verwandte Gesundheitslehren Österreichs: www.dachverband-tcm.at

Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin afadler@aon.at oder die  Redaktion aw@oegb.at

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