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Symbolbild zum Bericht Spätestens seit Mitte der 2000er-Jahre stehen junge WanderarbeiterInnen (nongmingong; wörtlich: BauernarbeiterInnen) aus dem ländlichen China im Zentrum der sozialen Konflikte.
Buchtipp

Mitten im Arbeitskampf

Schwerpunkt

Hintergründe, Charakteristika und Auswirkungen von Streiks und ArbeiterInnenprotesten in China.1

Der letzte Streik ist noch nicht lange her: Im April dieses Jahres legten zwischen 40.000 und 50.000 ArbeiterInnen ihre Arbeit nieder. Schauplatz des Streiks war eine der größten chinesischen Schuhfabriken, gelegen in der südchinesischen Stadt Dongguan. Die Arbeitsniederlegung dauerte etwa zwei Wochen, stellte einen der größten Arbeitskämpfe in der Volksrepublik (VR) China in den letzten mehr als zehn Jahren dar und erlangte daher auch weltweite mediale Aufmerksamkeit. Tatsächlich war die Ende der 1970er-Jahre eingeleitete Integration Chinas in den globalen, neoliberalen Kapitalismus bereits von Beginn an von massiven Protesten der Lohnabhängigen geprägt.

Vermehrte Proteste

Offiziellen Statistiken zufolge nahm die Zahl sogenannter „Massenvorfälle“ (quntixing shijian), das heißt größerer Proteste, Demonstrationen und Streiks, zwischen 1993 und 2005 von 11.000 auf 87.000 im Jahr zu. Bis in das Jahr 2010 kam es nach unabhängigen Schätzungen zu einem weiteren Anstieg auf 180.000. Der Anteil von ArbeiterInnenprotesten an diesen Massenvorfällen wird auf etwa 30 Prozent geschätzt. Einen wesentlichen strukturellen Hintergrund für die Entwicklung der Arbeitskämpfe in China in den letzten mehr als 30 Jahren von „Reform und Öffnung“ stellt die Neuzusammensetzung der chinesischen ArbeiterInnenklasse dar. Der Transformationsprozess Chinas ist zum einen durch einen massiven Rückgang der in staatlichen Betrieben beschäftigten ArbeiterInnen und zum anderen durch einen in seinem Ausmaß beispiellosen Proletarisierungsprozess ländlicher Arbeitsmigrantinnen und -migranten gekennzeichnet. Dies spiegelt sich in unterschiedlichen Phasen der Arbeitskämpfe wider: Standen bis Anfang der 2000er-Jahre ArbeiterInnen in staatlichen Betrieben im Zentrum von Protesten, so werden Streiks und andere Formen des Widerstands seit Mitte der 2000er-Jahre in erster Linie von jungen Wanderarbeiterinnen und -arbeitern getragen.

Obwohl das Streikrecht 1982 aus der bis heute gültigen Verfassung gestrichen worden war, führte die Restrukturierung der staatlichen Industrie bereits in den 1980er-Jahren zu Protesten und Streiks. Der Hintergrund hierfür war die schrittweise durchgeführte Zerschlagung der sogenannten „eisernen Reisschüssel“ (tie fanwan), d. h. die Rücknahme der bis dahin existierenden umfassenden Wohlfahrtsleistungen für ArbeiterInnen in staatlichen Arbeitseinheiten (danwei) wie etwa eine lebenslange Arbeitsplatzgarantie, die Bereitstellung von Wohnungen, medizinische Versorgung sowie Pensionszahlungen. Als ab Mitte der 1990er-Jahre etwa 50 Millionen städtische ArbeiterInnen, darunter vor allem Frauen, im Zuge weitreichender Privatisierungen ihren Arbeitsplatz verloren, erreichten die Auseinandersetzungen ihren Höhepunkt. Vor allem im „Rostgürtel“, dem ehemaligen Zentrum der Schwerindustrie im Nordosten Chinas, gingen mehrere Zehntausend Menschen gegen die Massenentlassungen und die deutliche Verschlechterung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen auf die Straße.

Spätestens seit Mitte der 2000er-Jahre stehen demgegenüber junge WanderarbeiterInnen (nongmingong; wörtlich: BauernarbeiterInnen) aus dem ländlichen China im Zentrum der sozialen Konflikte: Vor allem die massive Ausweitung des exportorientierten Privatsektors auf Basis ausländlicher Kapitalinvestitionen hat seit Anfang der 1990er-Jahre zu einer in ihrem Ausmaß historisch einzigartigen Zunahme der Binnenmigration geführt. Die meist sehr jungen Menschen migrieren vor allem aus den ökonomisch weniger entwickelten Regionen in West- und Zentralchina in die vom internationalen Kapital erschlossenen Küstenregionen des Landes. Aktuell beträgt die Gesamtzahl dieser Arbeitsmigrantinnen und -migranten zwischen 260 und 280 Millionen. Ihr Anteil an der ArbeiterInnenschaft in der verarbeitenden Industrie und im Bausektor wird auf 68 bzw. 80 Prozent geschätzt, sie befinden sich dabei jedoch in einer doppelt prekären Lage. Aufgrund des sogenannten Systems der Haushaltsregistrierung (hukou) sind WanderarbeiterInnen offiziell als ländliche Bevölkerung gemeldet. Das bedeutet, dass sie sich nur mittels temporärer Genehmigungen in den Städten aufhalten können (siehe „Riesige Städte - Riesige Probleme“). Vor allem aber sind sie Ausbeutung und schlechten Arbeitsbedingungen ausgesetzt. Trotz beträchtlicher Unterschiede zwischen Sektoren und einzelnen Betrieben sind die Arbeitsverhältnisse insgesamt betrachtet vor allem durch überlange Arbeitszeiten, niedrige bzw. nicht ausbezahlte Löhne, häufige Arbeitsunfälle und nach wie vor oft fehlende Arbeitsverträge gekennzeichnet.

Wunschziel Stadt

Insbesondere die mittlerweile zweite und dritte Generation der WanderarbeiterInnen setzten sich in den vergangenen zehn Jahren gegen diese Arbeits- und Lebensbedingungen zur Wehr. Die jungen Migrantinnen und Migranten sind kaum mehr gewillt, in ihre Heimatdörfer zurückzukehren. Im Gegensatz zur Elterngeneration haben sie nicht in der Landwirtschaft gearbeitet und setzen ihre Hoffnungen in ein „modernes“ Leben und somit eine dauerhafte Niederlassung in den Städten Chinas. Ihre veränderten Lebensweisen, Erwartungen und Zukunftsperspektiven erhöhen die Bereitschaft, aktiv für eine Verbesserung der Bedingungen einzutreten. Damit verbunden ist auch eine qualitative Veränderung der Arbeitskämpfe von Wanderarbeiterinnen und -arbeitern. Während es in der Vergangenheit in der Regel nur im Falle von offensichtlichen Rechtsbrüchen zu Protesten kam, streikten ArbeiterInnen in den letzten Jahren zunehmend auch auf Basis ihrer Erfahrungen und Erwartungen an angemessene und würdevolle Arbeits- und Lebensbedingungen. Vermehrt werden offensive ökonomische Forderungen gestellt, die über den rechtlichen Rahmen hinausgehen. Darüber hinaus machen sich die Arbeitsmigrantinnen und -migranten erfolgreich neuere Kommunikationstechnologien wie etwa Internet-Chatrooms, Blogs oder Weibo (das chinesische Twitter-Pendant) zunutze. Immer häufiger kommt es zu „ansteckenden Streiks“ und Streikwellen wie etwa in der chinesischen Automobilindustrie im Sommer 2010. Vor diesem Hintergrund sind die Löhne in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen – in der Stadt Shenzhen im Perlflussdelta etwa hat sich die Höhe des gesetzlichen Mindestlohns zwischen 2004 und 2011 verdreifacht.

Der Anstieg der sozialen Konflikte war ein wesentlicher Beweggrund dafür, dass die chinesische Partei- und Staatsspitze seit 2002/2003 den Aufbau einer „harmonischen Gesellschaft“ proklamierte. Der Fokus staatlicher Reformen lag dabei bisher auf der Verrechtlichung der entstandenen kapitalistischen Arbeitsverhältnisse sowie der Etablierung von Mechanismen für eine institutionalisierte Konfliktaustragung. Den Allchinesischen Gewerkschaftsbund, selbst integraler Bestandteil des chinesischen Staates und der Parteiführung unterstehend, will die Zentralregierung reformieren. Konkret wurden Schritte zur gewerkschaftlichen Integration von Wanderarbeiterinnen und -arbeitern gesetzt, eine Demokratisierung der Gewerkschaften auf betrieblicher Ebene angestoßen und erste Maßnahmen für die Einführung von Kollektivverhandlungen gesetzt (siehe „In kritischer Solidarität“). Derartige Versuche der Einhegung von Arbeitskämpfen stoßen jedoch an ihre Grenzen. Gewerkschaftsvorsitzende werden weiterhin vorwiegend direkt aus den Reihen der Betriebsleitung rekrutiert, wodurch die Gewerkschaften in Konfliktsituationen in der Regel die Position der Kapitalseite einnehmen.

Reform oder weiter so?

Ein Rückgang der Proteste und Streiks ist daher in den kommenden Jahren nicht zu erwarten. Es wird vielmehr von der Entschlossenheit der jungen WanderarbeiterInnen abhängen, ob das gegenwärtige Billigproduktionsmodell im „Wirtschaftswunderland“ China weiterhin Bestand haben kann – oder ob es stattdessen zu tiefgreifenden Reformen in den Arbeitsbeziehungen kommt.

1 Der Artikel basiert in wesentlichen Teilen auf Egger, Georg / Fuchs, Daniel / Immervoll, Thomas / Steinmassl, Lydia (2013): „Arbeitskämpfe in China. Eine Einleitung“, in dies. (Hg.): Arbeitskämpfe in China. Berichte von der Werkbank der Welt. Wien: Promedia, 11–22.

Web-Tipp:
Forschungskollektiv „Gongchao“: www.gongchao.org

Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor daniel.fuchs@univie.ac.at oder die Redaktion aw@oegb.at

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