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EU-Gesundheitspolitik: Gefahr in Verzug? Die GPA-djp setzt sich gemeinsam mit Gewerkschaftskolleginnen und -kollegen aus Deutschland dafür ein, Mehrwertsteuerbefreiungen und ermäßigte Mehrwertsteuersätze im Gesundheitsbereich beizubehalten ...

EU-Gesundheitspolitik: Gefahr in Verzug?

Schwerpunkt

Die zunehmenden Harmonisierungstendenzen bringen nicht nur Vorteile mit sich.

Gesundheitspolitik in der Europäischen Union war lange Zeit alleinige Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedsstaaten. Entsprechend verschieden sind auch bis heute die Gesundheitssysteme der einzelnen Länder. Sie unterscheiden sich in der Art der Finanzierung, der Organisation und der Qualität der Versorgung genauso wie im Grad der Privatisierung. Bis heute hat die EU im Bereich der Gesundheit nur koordinierende und keine rechtsetzende Kompetenz.

Trend zur Europäisierung

Die ökonomische Integration ist dennoch an den Gesundheitssystemen der Mitgliedsländer nicht völlig spurlos vorübergegangen. Es zeichnet sich vielmehr längst ein eindeutiger Trend zur Europäisierung ab. Auch wenn die Kommission über nahezu keine Kompetenzen in diesem Bereich verfügt, so ist sie doch sehr geschickt darin, diese aus anderen Politikfeldern abzuleiten. Das führt schließlich dazu, dass sich die ökonomische Integration ganz konkret auf nationale Sozial- und Gesundheitspolitiken auswirkt. Die Gesundheitssysteme in der EU befinden sich zunehmend in einem Wettbewerb: Immer mehr Dienstleistungen werden grenzüberschreitend angeboten. Große Konzerne haben längst die Potenziale des „Gesundheitsmarktes“ erkannt und lobbyieren auf allen Ebenen für mehr Marktöffnung. In der Folge geraten Gesundheitsdienstleistungen zunehmend unter Liberalisierungsdruck. Andererseits zwingen die budgetären Vorgaben der EU die einzelnen Mitgliedsstaaten, die staatlichen Ausgaben bei der Gesundheit zu reduzieren. Besonders dramatische Auswirkungen hat das derzeit in Griechenland. Auch die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes der letzten 15 Jahre legen nahe, dass die vier Freiheiten des Binnenmarktes auch im Gesundheitsbereich konsequent angewendet werden. Schon 1998 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH)1 entschieden, dass die im Ausland erworbene Brille bzw. der Zahnersatz von der nationalen Krankenkasse zu erstatten sei, da sonst eine unzulässige Beschränkung des freien Waren- und Dienstleistungsverkehrs vorliege. Weitere Entscheide gingen in eine ähnliche Richtung. Indem der Europäische Gerichtshof konsequent die vier Marktfreiheiten im Gesundheitsbereich einforderte, gestaltete er die EU-Gesundheitssysteme mit.

Patientinnen-/Patientenmobilität

Als Reaktion auf diese Entwicklungen startete die Kommission daher 2002 einen Diskussionsprozess zum Thema Patientinnen-/Patientenmobilität, mit dem Ziel, medizinische Versorgung im Ausland zu erleichtern und ohne vorherige Genehmigung der Krankenkasse zu ermöglichen. Nach jahrelangen Verhandlungen wurde 2011 im Europäischen Parlament schließlich die „Richtlinie zur Ausübung von Patientenrechten in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung“ beschlossen. Patientinnen und Patienten können sich in Zukunft auch im Ausland behandeln lassen, vorausgesetzt, sie hätten auf diese Behandlung auch im Heimatland Anspruch. Die Kosten dafür müssen sie vorstrecken und erhalten sie bis zu der Höhe erstattet, die die Behandlung auch im Inland gekostet hätte.

Die Reaktionen auf den Kompromiss sind gemischt: Man erhofft sich einerseits mehr Klarheit für Patientinnen und Patienten. KritikerInnen befürchten allerdings auch einen verstärkten Trend zur Zweiklassenmedizin. Sprich: Wer es sich leisten kann, fährt dorthin, wo sie/er sich die beste Behandlung erhofft. Umgekehrt könnte es vor allem in Grenzräumen dazu kommen, dass die Krankenkassen Patientinnen und Patienten nahelegen, sich im Ausland behandeln zu lassen, um Kosten zu sparen.

Brisant ist diese Debatte im Übrigen nicht, weil damit zu rechnen wäre, dass es in Zukunft Millionen Gesundheitstouristinnen und -touristen in der EU geben könnte. Es geht vielmehr darum, wie viel Wettbewerb es im Gesundheitsbereich zukünftig geben wird.

Mehrwertsteuerreform

Wie andere Politikfelder die Gesundheitspolitik beeinflussen, zeigt sich aktuell auch an der Debatte um eine Mehrwertsteuerreform. Die Europäische Union ist für die Koordination der nationalen Mehrwertsteuersysteme im Rahmen des Binnenmarktes zuständig. Nach dem Willen der Europäischen Kommission soll das europäische Mehrwertsteuersystem nun reformiert werden. Zu den Überlegungen gehört auch, Steuerbefreiungen sowie steuerliche Ermäßigungen weitgehend zu beschränken.

Die unterschiedlichen Medikamentenpreise in Europa lassen sich zu einem großen Teil durch die unterschiedliche Höhe der Mehrwertsteuersätze erklären, die auf die Preise der einzelnen Medikamente erhoben werden. So verlangt Dänemark in Europa die höchste Mehrwertsteuer mit 25 Prozent, Bulgarien liegt an zweiter Stelle und Deutschland an dritter Stelle mit 19 Prozent. Frankreichs Mehrwertsteuersatz liegt bei 2,1 Prozent für erstattungsfähige und bei sieben Prozent für nicht erstattungsfähige Arzneimittel und ist somit deutlich niedriger als in den meisten anderen EU-Ländern. Für unsere deutschen Nachbarn lohnt es sich also, in den meisten angrenzenden Ländern ihre nicht verschreibungspflichtigen Medikamente zu kaufen: in den Niederlanden, in der Schweiz, in Belgien, Österreich und Polen. In Frankreich können Deutsche oft bis zu 50 Prozent und mehr sparen, zum Beispiel bei Aspirin und der Antibabypille.

Die Beseitigung von Ausnahmen bei der Mehrwertsteuer würde in Deutschland, im Gegensatz zu Österreich, wo seit 2010 ein ermäßigter Steuersatz von zehn Prozent auf Medikamente gilt, Arzneimittel nicht betreffen. Aber es geht nicht nur um die Medikamentenpreise. Denn bislang unterliegen in Deutschland gesetzliche Gesundheitsdienstleistungen zu einem großen Teil nicht der Mehrwertsteuer oder nur einem ermäßigten Steuersatz. So sind beispielsweise die ärztliche Heilbehandlung sowie die Krankenhausbehandlung grundsätzlich von der Mehrwertsteuer befreit.

Bei einer Mehrwertsteuer-Harmonisierung würde bei gleichen Gesundheitsleistungen eine Mehrbelastung von rund 34 Mrd. Euro pro Jahr für die deutsche Sozialversicherung entstehen. Die Folge wäre, dass der Beitragssatz zur Sozialversicherung insgesamt um mehr als drei Prozentpunkte steigen müsste. Zu diesem Ergebnis kommt eine Analyse, die letztes Jahr von der Deutschen Rentenversicherung Bund, dem GKV-Spitzenverband, den Verbänden der Kranken- und Pflegekassen auf Bundesebene sowie von der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung durchgeführt wurde.

Betroffen wären nicht nur die Krankenversicherungen, sondern auch die gesetzliche Renten- und Unfallversicherung in ihrer Funktion als Rehabilitationsträger. Steigt in einem Sozialversicherungszweig der Beitragssatz, würde dies zudem zu Mehrkosten in anderen Sozialversicherungszweigen überall dort führen, wo diese Beiträge für ihre Versicherten übernehmen. So zahlt die deutsche Rentenversicherung beispielsweise für RentnerInnen einen Teil der Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung.

Auswirkungen auf Österreich

Welche Auswirkungen diese Pläne auf Österreich haben, scheint noch nicht absehbar zu sein. Nach dem Gesund-heits- und Sozialbereich-Beihilfengesetz (GSBG) bekommen die Sozialversicherungsträger hierzulande die ihnen von den Vertragspartnern in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer zur Gänze in Form einer Beihilfe ersetzt. Diese Eins-zu-eins-Abdeckung beträgt circa 500 Mio. Euro pro Jahr. Allerdings sind Umsätze innerhalb der SV-Träger komplett steuerfrei.

Würde die Mehrwertsteuer auf Medikamente statt zehn Prozent nun 20 Prozent betragen bzw. würden auch die Bereiche Ärztinnen und Ärzte sowie Krankenanstalten und die Eigenumsätze der SV-Träger diesem Steuersatz unterworfen, so würde sich die Mehrbelastung auf etwa 2,2 Mrd. Euro belaufen. Wer das dann zu bezahlen hätte, wäre, wie so vieles, Verhandlungssache.

Lobbying in Brüssel

Die GPA-djp setzt sich daher gemeinsam mit Gewerkschaftskolleginnen und -kollegen aus Deutschland dafür ein, Mehrwertsteuerbefreiungen und ermäßigte Mehrwertsteuersätze im Gesundheitsbereich beizubehalten, um zusätzliche Kosten für Sozialversicherungen sowie Patientinnen und Patienten zu vermeiden.

1 Rechtssache Kholl (C-158/96), Rechtssache Decker (C-120/95). 

EU-Politik bei der GPA-djp: euinfo.gpa-djp.at

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