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Symbolbild zum Bericht: EU-Kommission mit zweifelhaftem Gewissen Ein soziales Europa muss jedenfalls mindestens fünf Kriterien erfüllen, um seinem Namen gerecht zu werden ...

EU-Kommission mit zweifelhaftem Gewissen

Schwerpunkt

Die soziale Schieflage wird weiterhin verharmlost. Ein Umdenken beginnt.

Im Vorfeld der EU-Parlamentswahl 2014 ist oft vom „sozialen Europa“ die Rede – vonseiten wahlwerbender Parteien, aber auch anderer EU-Institutionen, insbesondere der EU-Kommission (EK). Wie sieht aber ein „soziales Europa“ überhaupt aus? Gibt es hier eine realistische Perspektive?

Fünf Mindestkriterien

Über Details mag man sich trefflich streiten, die Zielrichtung ist jedoch klar definiert. Ein soziales Europa muss jedenfalls mindestens fünf Kriterien erfüllen, um seinem Namen gerecht zu werden: Vollbeschäftigung als wirtschaftspolitische Zielvorgabe, Gleichstellung nicht nur zwischen den Geschlechtern, existenzsichernde Lebensbedingungen über den Lebenszyklus unabhängig vom ökonomischen Status, realistische Perspektiven für eine angemessene Teilhabe am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt und ein wertschätzendes Menschenbild. Angesichts der tatsächlichen Politik, die seit gut zwei Jahrzehnten verfolgt wird, stellt sich die brennende Frage: Kann Europa diesen Anforderungen überhaupt gerecht werden?

Vor der Analyse des aktuellen Status quo in Europa muss vorangestellt werden, dass auch in Jahren mit guten konjunkturellen Rahmenbedingungen und einem (realen) jährlichen Wirtschaftswachstum über drei Prozent (z. B. 2006, 2007) rund 17 Mio. arbeitslose Menschen in der EU gelebt haben und weder soziale Ungleichgewichte abgebaut, noch glaubwürdige Antworten auf die sozialen Schieflagen gesucht wurden. Auf den Punkt gebracht: Bereits im „Vorkrisen-Modus“ versagte der wirtschaftsliberale EU-Kommissionskurs; die soziale Frage wurde leider nie auf Augenhöhe diskutiert und stets verharmlost.

Seitens der EU-Kommission wurde im Hinblick auf eine Verbesserung der sozialen Lage in Europa in erster Linie das Prinzip „Hoffnung“ verfolgt und gepredigt. Daher mag es kaum überraschen, dass auch während bzw. im Gefolge der Finanz- und Wirtschaftskrise keine probaten Antworten auf die zunehmende Zuspitzung der sozialen Frage in weiten Teilen Europas gefunden wurden. Im Gegenteil: Ein sozial verwerfliches und wirtschaftlich desaströses Spar- und Kürzungsregime wurde immer mehr Mitgliedsstaaten aufoktroyiert und im Rahmen neuer Regelungen zur sogenannten wirtschaftspolitischen Steuerung z. T. sogar unter Umgehung von EU- und Menschenrecht zwischenstaatlich „einbetoniert“ (z. B. „Fiskalpakt“).

Statistiken bestätigen Scheitern

Dass sich die soziale Lage insgesamt in Europa auch 2013 und im Frühjahr 2014, also mehr als fünf Jahre nach Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise, keineswegs entspannt hat, belegen auch die neuesten Daten aus dem Beschäftigungs- und Sozialbericht1 für Europa – im Gegenteil: rund zehn Millionen mehr Arbeitslose im Vergleich zu 2008, zunehmende prekäre und damit oft kaum existenzsichernde Beschäftigung sowie steigende Ungleichheit! Nur in vier Ländern konnte die Armuts- und Ausgrenzungsgefährdung zwischen 2008 und 2012 verringert werden, in acht Ländern blieb die Armutssituation „stabil“ – was immer das für die Betroffenen heißen mag – und in insgesamt 16 Ländern der EU-28, insbesondere in Ländern des europäischen Südens und der Peripherie, stiegen die ohnedies gegebenen Gefährdungslagen gar noch weiter an.

Dass auch die „Zwischenbilanz“ zur Umsetzung2 der EU-2020-Ziele entsprechend schlecht ausfällt, ist daher wenig überraschend. Allen Beobachtern ist heute klar, dass vor dem Hintergrund der ungebremst durchgezogenen Prämissen zur austeritätsorientierten Krisenbewältigung die bis 2020 formulierten Zielvorgaben weder für die Beschäftigung noch für die Armutsbekämpfung zu erreichen sein werden. Die Kommission selbst gesteht dies ein. Ihr ist somit mittlerweile zugutezuhalten, dass die Transparenz über die soziale Lage in Europa eine größere geworden ist. Ein Beleg dafür sind die vorhandenen „Standard-Reports“ und Monitoring-Berichte.

Angesichts dieser geradezu offiziellen Bestätigung des Scheiterns des bisherigen neoliberalen „Krisenlösungsmodus“ würde man fundamentale Konsequenzen hinsichtlich der künftigen Politikgestaltung erwarten, so auch die Bereitschaft zu einem Kurswechsel, der die soziale Frage in Europa auch mit „sozialen“ Antworten adressiert.

Und in der Tat scheint in den EU-Institutionen selbst ein Umdenken einzusetzen. Der bisherige Weg, durch radikales Sparen und Sozialabbau die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen und quasi automatisch Wachstum zu generieren, ist gescheitert. Als wichtiger Schritt in diese Richtung kann die Vorlage eines Sozialinvestitionspaketes durch die EU-Kommission angesehen werden.3

Erstmals ist eine Art Paradigmenwechsel zu erkennen: Investitionen in den Sozialstaat nicht nur als Kostenfaktor, sondern v. a. auch als Investitionen in die Zukunft zu sehen, die sich auch gesamtwirtschaftlich und budgetär rechnen. Sie stärken nicht nur den Sozialstaat, sondern erhöhen mittel- und langfristig die Beschäftigungsquote, Teilhabemöglichkeiten von am Arbeitsmarkt benachteiligten Gruppen und sind somit auch ökonomisch sinnvoll.

Über erste Absichtserklärungen ist die europäische Politik hier jedoch nicht hinausgekommen. Kaum überraschend daher, dass sowohl der EGB als auch der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) im Rahmen eines groß angelegten Investitionsprogramms auch ambitionierte Ziele bei der Investition in die soziale Infrastruktur Europas fordern.

Vorschläge des EWSA

In Stellungnahmen des EWSA4 werden, wie auch von der AK seit Längerem unterstrichen, die mehrfach positiven Wirkungsketten sozialer Investitionen dargelegt:

  • Die Ausweitung sozialer Dienste deckt nicht nur gesellschaftliche Bedürfnisse, sie trägt europaweit auch mehr zur Beschäftigung bei als jede andere Form öffentlicher Ausgaben;
  • Investitionen in den Wohlfahrtsstaat bringen aber nicht nur sozialen Fortschritt, sondern „rechnen sich“ auch ökonomisch und fiskalisch. Sie können dauerhaft öffentliche Haushalte entlasten und stehen somit keinesfalls in Konkurrenz zur Haushaltskonsolidierung;
  • Gerade „Nicht-Handeln“ im Sozialbereich hat seinen „Preis“, d. h. Folgekosten unterlassener sozialer Investitionen fallen vielfach höher aus.

Aus Sicht des EWSA ist aber auch klar, dass ein glaubhafter Kurswechsel zu (präventiven) sozialen Investitionen mit der Abkehr von einseitiger Sparpolitik verbunden sein muss. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang der Vorschlag des EWSA zu sehen, im Sinne der goldenen Finanzierungsregel („golden rule“) auch Sozialinvestitionen im Kontext des fiskalischen Regelwerks der Wirtschafts- und Währungsunion als Zukunftsinvestitionen aus der Berechnung staatlicher Nettodefizite auszunehmen, um zu vermeiden, dass Investitionen mit langfristigen Nettogewinnen unterbleiben. Und ebenso ist klar: Ohne finanzielle Sicherstellung sind die Potenziale sozialer Investitionen nicht auszuschöpfen. Bei anstehenden Haushalts-konsolidierungen ist daher auch die Erschließung neuer Einnahmequellen unumgänglich. Hierbei sind neue Einnahmequellen heranzuziehen, die auch eine entsprechend vorteilhafte Verteilungswirkung haben, wie insbesondere Vermögenssteuern und -abgaben, aber auch die Bekämpfung von Steuerdumping, Steuerflucht und Steuerhinterziehung, die Einführung EU-weiter Mindestsätze für Unternehmenssteuern und die Finanztransaktionssteuer.

Die Kommission und die Regierungen in den EU-Ländern sind also gefordert, hoffnungsvollen Worten nun auch gewissenhafte Taten folgen zu lassen.

1 Vgl. Europäische Kommission (2014A), Employment and Social Development in Europe 2013, Brüssel, tinyurl.com/ns7r55t.
2 Vgl. Europäische Kommission (2014B), COM(2014) 130 – vorläufige Fassung, Kommissionsmitteilung: Bestandsaufnahme der Strategie Europa 2020 für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum, Brüssel, tinyurl.com/oclhvwj.
3 Kommissionsmitteilung COM(2013) 83 final vom 20. Februar 2013.
4 Siehe zwei Stellungnahmen des EWSA zum Sozialinvestitionspaket: SOC 481: „Stellungnahme zum Sozialinvestitionspaket der Kommission“ (2013, Berichterstatter: Oliver Röpke) und SOC 496: „Auswirkungen von Sozialinvestitionen auf die Beschäftigung und die öffentlichen Haushalte“ (2014, Berichterstatter: Wolfgang Greif).

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA): www.eesc.europa.eu/?i=portal.de.home

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