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Es geht nicht um die normale Mithilfe im Haushalt, um Tisch abräumen oder das eigene Zimmer aufräumen, und auch nicht darum, ein vorübergehend erkranktes Familienmitglied kurzfristig zu unterstützen.

Pflegenotstand stiehlt Kindheit

Schwerpunkt

43.000 Kinder und Jugendliche müssen die Pflegearbeit übernehmen, mit der sie die Kürzungspolitik alleingelassen hat.

Ende Dezember 2012 wurde eine Studie des Instituts für Pflegewissenschaften der Universität Wien zur Pflegetätigkeit von Kindern und Jugendlichen veröffentlicht. Sie war vom Nationalrat in Auftrag gegeben worden.
Die Fakten sind erschreckend: Rund 43.000 Kinder und Jugendliche im Alter von 5 bis 18 Jahren, das sind 3,5 Prozent dieser Altersgruppe, pflegen regelmäßig Angehörige. Sie übernehmen vielfältige Tätigkeiten – von der Betreuung der Geschwister über die Haushaltsführung bis zur Pflege und emotionalen Unterstützung der kranken Angehörigen. Die Auswirkungen auf die pflegenden Kinder sind enorm, Hilfe für sie ist kaum existent.

In der Erwachsenenrolle

Es geht nicht um die normale Mithilfe im Haushalt, um Tisch abräumen oder das eigene Zimmer aufräumen, und auch nicht darum, ein vorübergehend erkranktes Familienmitglied kurzfristig zu unterstützen. Sondern es geht um Kinder und Jugendliche, die monate- oder auch jahrelang, oft viele Stunden pro Woche, die Rolle der Erwachsenen in der Familie übernehmen (müssen). 70 Prozent der pflegenden Kinder sind Mädchen, das traditionelle Rollenbild wird fortgesetzt und einzementiert.
Das Phänomen der „Young Carers“, der jungen Pflegenden, ist nichts Neues und wird seit einigen Jahren intensiver erforscht. In Österreich war bisher von ca. 20.000 Betroffenen ausgegangen worden, doch die Zahl ist mindestens doppelt so hoch.

Ergebnis des Pflegenotstandes

Eigentlich kann das nicht verwundern. Alle paar Jahre gibt es Diskussionen über den Pflegenotstand. Mehr als 430.000 Menschen erhalten Pflegegeld, brauchen also Unterstützung. Dem stehen rund 80.000 stationäre und 40.000 außerhäusliche Pflegekräfte gegenüber. Laut Rechnungshof deckte das Pflegegeld bereits 2009 maximal 58 Prozent der Kosten außerhäuslicher Pflege ab. Eine Studie des Instituts für Sozialpolitik der Wirtschaftsuniversität Wien hat schon 2005 ermittelt, dass 42 Prozent der pflegenden Angehörigen aus finanziellen Gründen mobile Dienste nicht oder nicht ausreichend in Anspruch nehmen, gerade im ländlichen Bereich gibt es dafür oft gar kein Angebot.
Seit den 1990er-Jahren und dem Bericht einer ministeriellen Arbeitsgruppe ist bekannt, dass es österreichweit zu wenig mobile Unterstützungsdienste für Pflegebedürftige gibt. Plätze in Pflegeheimen sind rar, teuer und oft – aufgrund des unzureichenden Betreuungsschlüssels und der überarbeiteten Beschäftigten – für liebende Angehörige keine Option. Wenn sich die Bundesländer im Regress die Kosten der außerhäuslichen Pflege von Angehörigen holen, führt das in der Folge ebenfalls dazu, dass die Pflege von diesen übernommen werden muss. Die Arbeitssituation im professionellen Pflegebereich selbst ist schlecht – problematischer Betreuungsschlüssel, miese Bezahlung und steigender Druck führen dazu, dass rund ein Drittel der Beschäftigten Burn-out-gefährdet sind. Die Qualität der Betreuung ist infolge des von der Politik beschlossenen Geldmangels entsprechend schlecht.
Wenn Menschen älter werden und Krankheiten im Gegensatz zu früher überleben, sollte das eigentlich positiv sein. Aber es muss auch mitbedacht werden, dass der Pflegebedarf steigt. Wenn nicht professionell von geschulten und bezahlten Fachkräften gepflegt wird, dann bleibt nur die Familie. Längst ist bekannt, dass ein großer Teil der Pflege von Angehörigen geleistet wird, zu 80 Prozent von Frauen. Es ist logisch, dass, wenn es sich nicht um „alte“ Eltern, also Seniorinnen und Senioren handelt, auch die pflegenden „Kinder“ jünger sind. Die aktuelle Bestürzung über diese Tatsache zeugt also bestenfalls davon, dass man es eigentlich nicht so genau wissen wollte.

Kinder als Opfer des Ehrenamts

Spätestens seit den 1980er-Jahren gibt es das Dogma der Rentabilität oder Kostendeckung auch im Sozialbereich. Die Folge sind Kürzungen in genau jenem Bereich, wo der Bedarf immer größer wird. Flankiert wird die ökonomisch neoliberale Offensive auch ideologisch: Es begann mit „Mehr privat, weniger Staat“ und führt zu „Ehrenamt ist Ehrensache“. Seit einigen Jahren werden den freiwilligen, unbezahlten Helferinnen und Helfern vonseiten der Politik Rosen gestreut. Logisch, denn sie stopfen ein Loch, das die Kürzungen der Politik gerissen haben. Um es klarzustellen: nichts gegen Nachbarschaftshilfe, nichts gegen praktische Solidarität. Aber hier geht es darum, die Arbeit, die von öffentlicher Seite geleistet werden müsste, aber dem Sparstift zum Opfer gefallen ist, durch kostenlose Arbeit zu ersetzen. Das geht einher mit einem konservativen Backslash beim Frauen- und Familienbild, da ja vor allem Frauen diese Arbeit in der Familie leisten müssen.
Kinder sind die jüngsten und schwächsten Opfer dieser Politik. Viele wachsen mit der Pflege-Aufgabe auf. Sie werden in die Rolle der verantwortlichen Person in der Familie gedrängt und kennen gar keine Alternative. Natürlich sollen Kinder nicht unter einen Glassturz gestellt werden. Es geht auch nicht darum, ihnen jeden Handgriff abzunehmen. Aber wenn Kinder mehrere Stunden pro Tag Haushalt und Pflegearbeit verrichten müssen, wenn sie ihre Eltern emotional stützen müssen, dann wird ihnen ihre Kindheit geraubt. Wenn pflegende Kinder nach ihren Wünschen gefragt werden, sind diese zu 81 Prozent für andere – das spiegelt den enormen Leidensdruck dieser in die Rolle von Erwachsenen gedrängten Kinder wider. Oder wie ein Kind es formulierte: „Ich wünsche mir, dass ich mir nicht sooooo viele Sorgen mache.“

Der zynische Umgang der Politik

Die offizielle Politik zieht sich aus der Verantwotung. Die Tatsache, dass Kinder eigentlich laut Kinder- und Jugendlichen-Beschäftigungsgesetz (KJBG) gar nicht arbeiten dürften, kommt in der Debatte nicht vor. Dass sie unbezahlt arbeiten, wird auch ignoriert. Im Sinne eines tradierten Familienbildes wird die unbezahlte und meist noch nicht einmal wahrgenommene Arbeit von (meist weiblichen) Kindern und Frauen als normal interpretiert.
Der Fokus der offiziellen Politik liegt darauf, Kinder in ihrer pflegenden Tätigkeit zu unterstützen – und nicht, sie von dieser Arbeit zu befreien! Sie sollen nun mehr Informationen erhalten. Doch im Wesentlichen bleibt es bei einer Holschuld der Betroffenen. Die Scham über die eigene Sondersituation hält sie oft davon ab, sich Hilfe zu holen, dabei wollen diese Kinder doch vor allem eines: Normalität. Die Angst davor, dass die Familie auseinandergerissen wird, verdammt die Kinder zum Schweigen. Kinder und Jugendliche müssen dort abgeholt werden, wo sie sind – doch SozialarbeiterInnen an den Schulen fehlen.

Angebot einer Auszeit

Mit Sozialminister Hundstorfer gibt es auch für Kinder das Angebot, sich eine „Auszeit“ von der Pflege von bis zu vier Wochen pro Jahr nehmen zu können. Doch das reicht nicht aus, denn es bedeutet, dass sie 48 Wochen im Jahr die Arbeit von Pflegepersonal verrichten!
Auch der Studienautor Martin Nagl-Cupal erklärt: „Es braucht Einrichtungen, wo sie sich mit Gleichgesinnten treffen können, wo sie aber auch Erwachsene treffen, die sie beraten, mit denen sie reden können.“ Die Volkshilfe überreicht den österreichischen Pflege- und Betreuungspreis auch an Jugendliche. Und die Diakonie hat mit „superhands“ eine Internetplattform speziell für junge Pflegende geschaffen, auf der auch „Pflegefit-Workshops“ angeboten werden. Alles Ansätze zu einer Professionalisierung des Problems, keine Lösung.

Kinder haben Rechte

Dass Kinder nicht bloß kleine Erwachsene sind, ist allgemein gesehen noch eine relativ junge Erkenntnis. Dass Kinder Rechte haben, die auch geschützt werden müssen, ist eine noch jüngere Idee, die gerade durch die aufkommende ArbeiterInnenbewegung getragen wurde. Als Grönemeyer 1985 sang „Gebt den Kindern das Kommando“, hat er wohl nicht gemeint, dass sie die Arbeit übernehmen sollen, die durch Sozialabbau privatisiert wurde

Studie im Auftrag des BMASK:
Kinder und Jugendliche als pflegende Angehörige:
tinyurl.com/po7dwdm
Plattform der Diakonie:
www.superhands.at

Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin sonja@slp.at  oder die Redaktion aw@oegb.at

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