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EU: Endlich Vorrang für Soziales Regelmäßig wurde den sogenannten "wirtschaftlichen Grundfreiheiten" der EU, vor allem der Dienstleistungsfreiheit und der Niederlassungsfreiheit, Vorrang vor sozialen Grundrechten eingeräumt.

EU: Endlich Vorrang für Soziales

Schwerpunkt

Die europäischen Gewerkschaften fordern eine wirkliche soziale Dimension für die EU. Auch der Leitantrag des ÖGB-Bundeskongresses verlangt einen Kurswechsel.

Seit Jahren beklagen die Gewerkschaften die einseitige Ausrichtung der EU-Institutionen und vieler Mitgliedsstaaten auf den Binnenmarkt: Die Dienstleistungsrichtlinie markierte 2006 einen unrühmlichen vorläufigen Höhepunkt, als die EU-Kommission ernsthaft das Herkunftslandprinzip einführen wollte. Jedes Unternehmen sollte demnach überall in der EU seine Dienstleistungen anbieten können, aber – und das war der eigentliche Skandal – zu den Bedingungen des Herkunftslandes, also des Sitzstaates des Unternehmens. Erst massive Proteste der Gewerkschaften und Massendemonstrationen in Brüssel und Straßburg konnten diese Einladung zum legalen Sozialdumping verhindern, das Herkunftslandprinzip wurde schließlich abgeschwächt.

Soziale Rechte nur nachgeordnet?

Dieser Erfolg kann jedoch über eine generelle Entwicklung in der EU nicht hinwegtäuschen. Zahlreiche Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) gingen in den folgenden Jahren in die gleiche verheerende Richtung. Regelmäßig wurde den sogenannten „wirtschaftlichen Grundfreiheiten“ der EU, vor allem der Dienstleistungsfreiheit und der Niederlassungsfreiheit, Vorrang vor sozialen Grundrechten eingeräumt. Sogar das Arbeitskampfrecht, das von der Europäischen Menschenrechtskonvention ausdrücklich als Menschenrecht anerkannt wurde, wurde vom EuGH zugunsten der Dienstleistungsfreiheit eingeschränkt. Damit wurde ein Wirtschaftsprinzip zumindest in den konkreten Anlassfällen als höherrangig eingestuft als ein soziales Grund- und Menschenrecht. Andere Entscheidungen schränkten beispielsweise das Recht von Mitgliedsstaaten ein, bei öffentlichen Ausschreibungen auch soziale Kriterien vorzugeben, zum Beispiel die Einhaltung von Kollektivverträgen durch die betreffenden Unternehmen.

Rahmenbedingungen ändern

Bis heute sind diese skandalösen Urteile nicht korrigiert worden. Sie haften quasi als offizieller Beleg für den einseitigen Vorrang wirtschaftlicher Interessen vor den Belangen der BürgerInnen an der EU. Auch gut gemeinte Versuche von EU-Sozialkommissar László Andor, diese Situation zu ändern, scheiterten. Dabei geht es bei dieser offenkundigen Schieflage nicht nur um eine falsche Politik, sondern um die rechtlichen Rahmenbedingungen, die sich die EU gegeben hat.
Die Union ist nach wie vor primär eine Wirtschaftsunion, die das Soziale als nachgeordnet versteht und weitgehend den Mitgliedsstaaten überlässt. Deshalb war für die europäischen Gewerkschaften schnell klar, dass ein wirklicher Prioritätenwechsel nur durch eine Änderung dieser europäischen Rahmenbedingungen möglich ist. Eine konkrete gewerkschaftliche Forderung von EGB und ÖGB ist deshalb seit Jahren die Einführung eines sogenannten sozialen Fortschrittsprotokolls im EU-Vertrag. Was umständlich klingt, ist ein einfaches Prinzip: Im EU-Vertrag soll durch das Sozialprotokoll ausdrücklich festgeschrieben werden, dass es keinen Vorrang wirtschaftlicher Marktfreiheiten vor sozialen Grundrechten geben darf. Fundamentale soziale Rechte sind einzuhalten.

Angriff auf den Sozialstaat

Wie aktuell diese Forderung ist, zeigt die Entwicklung der letzten Jahre. Neben weiteren Versuchen, auch die Daseinsvorsorge und öffentliche Dienstleistungen immer stärker dem Wettbewerb des Binnenmarktes zu unterwerfen, hat vor allem die von der EU koordinierte Politik der Krisenbewältigung einen gewaltigen Rückschritt für das soziale Europa gebracht. In erster Linie ist hier die desaströse Politik der sogenannten Troika aus Internationalem Währungsfonds, EU-Kommission und Europäischer Zentralbank zu nennen. Deren Politikdiktat hat in den EU-Staaten, die auf Finanzhilfe angewiesen sind, zu einem massiven Abbau des Sozialstaates und der Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie der Gewerkschaften geführt. Zahlreiche andere EU-Staaten sind diesem Beispiel auf Druck der EU-Kommission und ihren „Empfehlungen“ gefolgt. Die Ergebnisse sind hinreichend bekannt. So hat die EU-Kommission in ihrer Frühjahrsprognose für 2013 die Warnungen der Gewerkschaften ein weiteres Mal bestätigen müssen: Die Rekordarbeitslosigkeit wird weiter dramatisch ansteigen, die Rezession setzt sich in der Eurozone fort (–0,4 Prozent), in den Krisenstaaten bricht die Wirtschaft nochmals um bis zu –4,2 Prozent ein, in Zypern gar um fast neun Prozent. Die wirtschaftliche Trendwende wird von der Kommission (wieder einmal) für das nächste Jahr angekündigt.
Dabei zeigt eine gemeinsame Studie von Forba und AK1, dass eine ganze Reihe von Mitgliedsstaaten die Krisenbekämpfung zu einem großflächigen Angriff auf den Sozialstaat genutzt hat, vor allem in folgenden Bereichen:

  • Lohnsenkungen im öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft,
  • Kürzung und Einfrieren von Mindestlöhnen,
  • Aushöhlung und zum Teil De-facto-Demontage von Kollektivvertragssystemen,
  • Dezentralisierung und Schwächung von Kollektivverträgen,
  • Liberalisierung und Ausweitung der Arbeitszeiten,
  • Abbau von Kündigungsschutzvorschriften,
  • Förderung von atypischer Beschäftigung,
  • massiver Arbeitsplatzabbau im öffentlichen Dienst,
  • Angriffe auf die Pensionssysteme (Leistungskürzungen, höheres Antrittsalter).

Soziale Dimension endlich umsetzen

Was kann dieser Entwicklung der letzten Jahre entgegengesetzt werden? Es kann gar nicht oft genug betont werden, dass die konkrete Politik der EU in erster Linie von den jeweiligen politischen Mehrheiten abhängt. Also: Abhängig davon, wie die meisten Mitgliedsstaaten regiert werden, wie sich die EU-Kommission zusammensetzt und welche Mehrheiten im EU-Parlament bestehen, wird auch die Politik „der EU“ aussehen.
Dennoch stellen die europäischen Gewerkschaften darüber hinaus inhaltliche Forderungen an eine verstärkte soziale Dimension, die den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern von den Staats- und Regierungschefs versprochen wurde. Dazu gehören ein grundsätzlicher wirtschaftspolitischer Kurswechsel, ein Ende der einseitigen ruinösen Sparpolitik und eine Konzentration auf Wachstum und Beschäftigung.
Alle europäischen Gewerkschaftsbünde fordern mit dem EGB einen neuen europäischen Marshallplan, mit dem privates Kapital für ein notwendiges Investitions- und Konjunkturprogramm gewonnen werden soll. Bestehende nationale Sozialstandards dürfen durch länderspezifische Empfehlungen der EU nicht infrage gestellt werden. Im Bereich der Steuerpolitik muss das Dumping beendet werden, vor allem durch Mindestsätze bei Unternehmenssteuern und eine Harmonisierung der Bemessungsgrundlage.

Soziale Garantien notwendig

Unverzichtbar ist jedoch bei einer möglichen Vertragsänderung die Verankerung des angesprochenen sozialen Fortschrittsprotokolls, um neben der Grundrechtecharta ein verbindliches Instrument zur Abwehr von Angriffen auf soziale Rechte zu haben. Sollte die EU mittelfristig weitere (auch sozialpolitische) Kompetenzen für sich beanspruchen, sind weitere wirksame Garantien gegen Eingriffe und den Abbau sozialer Standards unverzichtbar. Ein erster notwendiger Schritt ist die stärkere und substanzielle Einbindung der Sozialpartner in die europäische Politikkoordinierung. Eine enge verzahnte Sozialpartnerschaft, wie sie in Österreich besteht, ist zwar auf absehbare Zeit auf europäischer Ebene kaum realistisch, aber es muss jetzt der Grundstein gelegt werden. Eine stärkere Rolle für die nationalen Gewerkschaftsbünde und eine Stärkung des EGB sind hierbei unverzichtbar. Schließlich darf die sogenannte „horizontale Sozialklausel“ im Artikel 9 des Lissabon-Vertrages nicht länger ein Papiertiger bleiben, sondern sie muss endlich auch praktische Wirksamkeit erlangen. Diese Regelung verpflichtet die EU bei der Durchführung ihrer Politik zur Schaffung eines hohen Beschäftigungsniveaus, zu sozialem Schutz, zur Bekämpfung sozialer Ausgrenzung und zu einem hohen Bildungsniveau und Gesundheitsschutz. Leider haben EU-Kommission und viele Mitgliedsstaaten in den letzten Jahren das genaue Gegenteil gemacht.

1 Die Finanzkrise und ihre Auswirkungen auf Sozialstaaten und Arbeitsbeziehungen, November 2012.

EGB:
www.etuc.org

Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor oliver.roepke@oegb-eu.at oder die Redaktion aw@oegb.at

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