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In der internen Apotheke sind Regale bis zur Decke mit Tablettenschachteln gefüllt. Medizin bekommt nur, wer zuvor eine Ärztin/einen Arzt konsultiert hat.

"Wir wollen unser Leben zurück!"

Internationales

Allein in Thessaloniki leben 300.000 Menschen ohne Krankenversicherung. Die Klinik der Solidarität hilft. weltumspannend arbeiten unterstützt sie dabei.

Wir wollen unser Leben zurück!“, sagt Dimitra Chatzigiannaki. Die aparte 55-jährige Blondine hat als Abteilungsleiterin gearbeitet, ihr Mann ist Uni-Professor. Jetzt ist sie arbeitslos, wie jede/jeder Dritte in Griechenland. Das Gehalt ihres Mannes hat die Regierung auf 900 Euro gekürzt. Die Raten für das Haus im Zentrum von Thessaloniki sind nicht mehr drin. Trotzdem findet Dimitra, dass sie privilegiert ist: Sie kann die Stromrechnung zahlen und hat etwas zu essen. Eine neue Steuer auf Strom war der Anlass für Dimitra, eine Nachbarschaftsinitiative zu gründen. Die Mitglieder organisieren Protestaktionen beim Stromlieferanten und außerdem einen Direktmarkt, auf dem Produzentinnen und Produzenten ihre Waren ohne ZwischenhändlerInnen verkaufen. Wie etwa der Ex-Reisejournalist und die ehemalige Physiotherapeutin, die heute zu Hause Marmelade einkochen.

Geschlossene Rollläden

Im Zentrum von Thessaloniki brodelt das Leben. Der Verkehr braust zu jeder Tages- und Nachtzeit, Menschen sind auch um Mitternacht auf den Straßen. Auf den ersten Blick schaut die Stadt aus wie eine normale südeuropäische Metropole. Die Auslagen sind voll, die Cafés hip. Doch etwa bei jedem vierten Geschäft sind die Rollläden geschlossen. Und es gibt kein Fleckchen Hausmauer, keinen Blumentrog, kein Schild, das nicht mit Parolen besprüht ist.

Dimitra und ihre Nachbarn kaufen Seifen und Waschmittel bei Bio.me. Aus Solidarität. Die Arbeiter im Gewerbegebiet weit vor den Toren der Stadt haben den Betrieb in Eigenregie übernommen, nachdem ihre Firma pleiteging. 38 Arbeiter haben die Produktion auf natürliche Reinigungsmittel umgestellt, die sie selbst vermarkten. Sie bewegen sich im rechtsfreien Raum. Die Rezepte sind aus dem Internet, administrative Computerarbeit mussten sich die Männer aneignen, denn die Angestellten haben den Betrieb verlassen, als sie hörten, dass alle jetzt gleich viel vom Kuchen bekommen sollen. Im Freien, vor den Produktionsräumen, steht ein selbstgezimmerter Tisch aus Pressspanplatten, darum alte Plastiksessel. Dort versammeln sich die Arbeiter und treffen im Kollektiv ihre Entscheidungen. Im Februar läuft die staatliche Krankenversicherung – in die sie jahrzehntelang eingezahlt haben – aus, weil sie schon zu lange keine offizielle Arbeit mehr haben.

Ein Schicksal, das sie mit 30 Prozent der Griechinnen und Griechen teilen, die mangels Versicherung weder ins Krankenhaus noch zu einem Arzt gehen können. Dimitras Tochter Katerina Notopoulou ist Psychologin. Die 26-Jährige ist arbeitslos, wie zwei von drei Jungen in Griechenland. Gemeinsam mit Ärztinnen und Ärzten, Krankenpflegerinnen und Krankenpflegern sowie anderen Freiwilligen betreibt sie die „Klinik der Solidarität“ in einer schäbigen Seitenstraße im chinesischen Viertel. Der Gewerkschaftsverband GSEE hat dort ein Haus, in einem Stockwerk hat die Klinik ein Zuhause gefunden. Zwei streunende Hunde liegen vor dem Haus mit dem unscheinbaren Eingang, eine kleine Tafel dient als einziger Hinweis. Griechinnen und Griechen, die plötzlich keine Versicherung mehr haben, werden hier versorgt. Ehrenamtlich behandeln AllgemeinmedizinerInnen sowie Ärztinnen und Ärzte aus den Bereichen Kinder- und Zahnheilkunde sowie dem HNO-Bereich 5.000 bis 6.000 Menschen pro Jahr, die keinen anderen Zugang zu medizinischer Versorgung haben, impfen Kinder und versorgen Schwangere. 300.000 Unversicherte leben allein in Thessaloniki.

Milchpulver und Tabletten

Im kleinen Behandlungszimmer, in dem jeden Tag von 18.00 bis 21.00 Uhr ein anderer Facharzt ordiniert, öffnet Katerina eine Kommode, in der einige Dosen Milchpulver stehen. „Viele Patientinnen und Patienten fragen nach Babynahrung“, erzählt die Aktivistin, die selbst nichts verdient und auf die finanzielle Unterstützung ihrer Oma angewiesen ist. Die Klinik sammelt nicht nur Babynahrung, sondern auch Medikamente, die nicht mehr gebraucht werden. In der internen Apotheke sind Regale bis zur Decke mit Tablettenschachteln gefüllt. Medizin bekommt nur, wer zuvor eine Ärztin/einen Arzt konsultiert hat. Die Klinik lebt von Spenden, auch aus dem Ausland. 26.000 Euro hat der ÖGB-Verein weltumspannend arbeiten bereits gesammelt, um die Betriebskosten zu decken.

Hilfesuchende stehen Schlange

An den Tagen, an denen die Arzttermine vergeben werden, stehen die Hilfesuchenden bis auf die Straße Schlange. „Wir nehmen uns Zeit für unsere Patientinnen und Patienten. Die Bedingungen sind in unserer Ambulanz wahrscheinlich besser als in so manchem öffentlichen Spital, denn dort mangelt es sogar an Reinigungsmitteln“, sagt Katerina. Doch die Klinik kann nur ambulante Versorgung übernehmen. Wer operiert werden muss, braucht ein Krankenhaus. Die Ärztinnen und Ärzte sowie die PflegerInnen in der Universitätsklinik von Thessaloniki tun ihr Möglichstes, den radikalen Personalabbau zu kompensieren, doch es fehlen Medikamente, Verbandsmaterial, alles. Wer eine Versicherung hat, zahlt nichts für die Behandlung. Die 30 Prozent ohne Versicherung werden nur aufgenommen, wenn ihr Leben in Gefahr ist, danach wird für die Leistung kassiert. „Menschen sterben, weil sie keine medizinischen Leistungen bekommen, viele werden krank, weil es keine Prävention gibt“, klagt ein Belegschaftsvertreter das Versagen der Regierung an.

Kein Geld für Miete und Strom

Keine Frage, Griechenland hatte auch vor der Krise große Probleme. Der Filz in der Politik, der überbordende öffentliche Sektor, eine nicht wettbewerbsfähige Wirtschaft und fehlende Industrie haben zu unhaltbaren Zuständen geführt. Doch unter dem Spardiktat der Troika hat die Regierung, gebildet aus der Mitte-rechts-Partei Nea Dimokratia und der sozialdemokratischen Pasok, den Sozialstaat zugrunde gerichtet und Griechenland von einem westeuropäischen Wohlfahrtsstaat zu einem Land gemacht, in dem Zustände wie in der Dritten Welt herrschen. Der Mindestlohn wurde auf 500 Euro brutto für Junge und 580 Euro für Erwachsene gekürzt, die Regierung schmälerte Pensionen, entließ Tausende Beamte und sparte das Gesundheitswesen kaputt.

Die Armut ist in Thessaloniki noch unsichtbar. Die Menschen auf den Straßen sind gut gekleidet, die Zahl der BettlerInnen ist nicht höher als in einer österreichischen Stadt. Die Hunderttausenden, denen das soziale Netz entzogen wurde, sind zu Hause, in den Arbeitervierteln außerhalb des Zentrums. Noch wurden sie nicht aus ihren Wohnungen geschmissen, obwohl sie die Miete nicht mehr aufbringen, noch haben die meisten Strom, noch sind es nur 15 Prozent, die die Wasserrechnung nicht zahlen können und die beim staatlichen Versorgungsunternehmen um Stundung ersuchen, damit ihnen die Leitung nicht abgedreht wird. Dass nun das Ende der Fahnenstange erreicht ist, erkennt auch der Pasok-Generalsekretär von Thessaloniki, der von „Entwicklungsmaßnahmen“ spricht, die nun folgen müssten. Doch die Troika verlangt Privatisierungen. So soll auch das staatliche Wasserversorgungsunternehmen an einen Konzern verkauft werden.

Überhaupt glauben nur mehr wenige Menschen an die Pasok, die blutleer wirkt und visionslos. Sie verzeihen der Regierung nicht, dass sie Proteste niederschlagen lässt, dass sie das öffentlich-rechtliche Fernsehen ERT abdrehte, die 3.000 Beschäftigten feuerte und nun einen neuen Staatsfunk aufbaut. Pagonis Panajotis gehört der Pasok-Mehrheit in der Gewerkschaft an. Die eigene Regierungspartei ruiniert gerade finanziell den Gewerkschaftsdachverband, weil sie Streiks und Widerstand brechen will. Er wirkt beschämt. Viele haben der Pasok den Rücken gekehrt. Sie und viele Menschen aus sozialen Initiativen setzen ihre Hoffnungen nun in die junge Linkspartei Syriza, die den Menschen vermittelt, alles anders machen zu wollen, die populistisch der Troika die Stirn bietet. Allein, den Wahrheitsbeweis in einer Regierung musste sie noch nicht antreten.

Schreiben Sie Ihre Meinungan die Autorin carmen.janko@oegb.at oder die Redaktion aw@oegb.at 

Info&News
Klinik der Solidarität
Die Klinik versteht sich als politisches Projekt und organisiert Aktionen gegen Sozialabbau, Rassismus und Rechtsextremismus. Alle MitarbeiterInnen sind Freiwillige, die Spenden fließen direkt in die Versorgung der Patientinnen und Patienten.

Kontoinhaber: weltumspannend arbeiten
Kontonummer: 46610093809
BLZ: 14 000 (BAWAG P.S.K.)
IBAN: AT091400046610093809
BIC: BAWAATWW
www.klinik-der-solidaritaet.at

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