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Ganz nah an ganz unten Mit dem Aufkommen der Fotografie waren naturgetreue Dokumentationen des Elends möglich. In Wien veröffentlichte Max Winter in der Arbeiter-Zeitung zahlreiche Sozialreportagen.
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Ganz nah an ganz unten

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Slum-Tourismus ist der neue Trend am Reisemarkt - doch so neu sind die Ausflüge zu den Armen und Ausgegrenzten auch wieder nicht.

Ausflüge in großstädtische Armenviertel sind zwar an sich kein ganz neues Phänomen, aber dennoch ist der sogenannte Slum-Tourismus ein relativ junger Teil der Reisebranche. Wiener Ferienmesse Anfang Jänner: Infotainment in Reinkultur, alpenländische Volksmusik vermischt sich mit exotischen Klängen, thailändische Maskentänzer beim Pausen-Kaffee mit einem Pärchen in Lederhose und Dirndl … Führungen durch Slums oder Favelas sind hier (noch?) kein Thema. Wer allerdings bei Google das Stichwort Slum-Tourismus eingibt, wird schon wesentlich schneller fündig.

Abseits der Postkartenidylle

Von Jakarta über Kapstadt und Mumbai bis Rio de Janeiro werden abseits der üblichen Sightseeing-Routen immer häufiger auch Slum-Führungen angeboten. In den „Kampungs“ (Slums) der indonesischen Hauptstadt Jakarta kann man etwa im Rahmen der Social Humanity Tour die Ärmsten der Bevölkerung zu Hause besuchen und ihren Alltag besser kennenlernen. Wie in den meisten Armenvierteln weltweit verdient auch hier der größte Teil der BewohnerInnen sein Geld im „informellen“ Sektor mit kleinen persönlichen Dienstleistungen, zum Teil mit dem Sammeln und Recycling von Müll. Rund ein Viertel der 240 Mio. IndonesierInnen leben in Armut, auf der Insel Java gibt es ca. 1,5 Mio. Straßenkinder. Nicht alle TouristInnen wollen diesen Teil der Realität so weit wie möglich ausblenden, sie wünschen sich authentische Eindrücke abseits der Postkartenidylle.

Viktorianisch wallraffen

Wie weit steckt wirklich soziales Engagement dahinter, oder geht es hier vor allem um Abenteuer- und Schaulust? Diese Frage stellte man sich schon vor mehr als 100 Jahren. Damals musste man zur Erkundung der Armut Europa nicht verlassen, sondern nur das Elendsviertel ein paar Straßen weiter besuchen. Wohlhabende konnten sich schon als Entdecker fühlen, sobald sie diese Terra incognita betraten, in der Schmutz, Krankheiten und Ungeziefer lauerten. Sozialwissenschaftler, Stadtforscher, Reporter und KünstlerInnen waren die ersten, die sich mit dem Phänomen der Armut in den Städten beschäftigten. Im Rahmen einer Studie ließ sich etwa die aus reichem Hause stammende und sozial engagierte Beatrice Potter 1887 als jüdische Näherin anlernen und arbeitete in einem Londoner Sweatshop. Der Londoner Autor James Greenwood verkleidete sich als Obdachloser und beschrieb 1866 seine Erlebnisse in einem Männerheim in dem Buch „A Night in a Workhouse“. Es entstand ein regelrechtes Disguise-Business, bei dem es bald nicht mehr nur um soziales Engagement oder das Anprangern von Missständen ging. Die Reporter fungierten zum Teil einfach als Kundschafter für das sensationslüsterne Publikum.
Mit dem Aufkommen der Fotografie waren naturgetreue Dokumentationen des Elends möglich. In Wien veröffentlichte Max Winter in der Arbeiter-Zeitung zahlreiche Sozialreportagen, für die er meist verkleidet bei den Obdachlosen oder in Gefängnissen recherchierte. Daraus entstand 1905 sein Buch „Im unterirdischen Wien“, unter anderem auch mit Berichten über die Kanalstrotter, die Knochen und Fett aus der Kanalisation fischten und an die Seifenindustrie verkauften. Ausgestattet mit einer Kamera wird so mancher „Slummer“ vermutlich nicht lange unerkannt geblieben sein. Doch das tat dem Erfolg der Sozialreporter keinen Abbruch. In der Wiener Urania waren die Lichtbild-Vorträge der beiden Slummer Hermann Drawe und Emil Kläger, die „in Elendskleidung“ auftraten, monatelang ausgebucht. Unter den wohlhabenden Großstädtern wurde es regelrecht modern, sich – meistens verkleidet – unter das einfache Volk zu mischen.

„Wie die Armen in Paris essen“

Die teilweise heftig umstrittenen Themen Armut und Armenfürsorge beschäftigten schon damals die noch junge Filmbranche. Gefilmt wurde nicht nur „Wie die Armen in Paris essen“, man machte sich ebenso über die Slum-Ausflüge der gut situierten BürgerInnen lustig. Diese suchten dort nicht nur den Nervenkitzel, sondern auch das Ursprüngliche, Wilde, Leidenschaft und sexuelle Freizügigkeit – im Hintergrund immer die Angst vor dem eigenen sozialen Abstieg.

Destination Slum

Die Lust an der Grenzüberschreitung kannte man übrigens schon damals auch außerhalb Europas. Ab 1900 entdeckten Wohlhabende die Migrantenviertel der damaligen Metropolen als spannende Orte voller Folklore und „ursprünglicher“ Lebensart. Heute findet Slum-Tourismus (fast) komplett außerhalb Europas statt. Schon vor mehr als 20 Jahren waren Anti-Apartheid-AktivistInnen in den Townships von Südafrika unterwegs. Nach dem Ende der Apartheid kamen immer mehr TouristInnen, nicht nur um in die Armut zu reisen, sondern auch um den Kampf des schwarzen Afrikas für seine Rechte zu sehen. Im Gegensatz zu dieser eher politischen Motivation stand bei den Favela-Touren immer die Darstellung des authentischen Lebensstils mit viel Musik und Tanz im Vordergrund. In Indien begann der Slum-Tourismus erst vor wenigen Jahren, deutlich gepusht wurde der Trend durch den Film-Hit „Slumdog Millionaire“.
Welche Auswirkungen haben Slum-Tours auf die TouristInnen und auf die dort ansässige Bevölkerung? Der Sozialgeograf Malte Steinbrink von der Universität Osnabrück befragte 2007 TouristInnen vor und nach dem Slumbesuch und stellte fest, „dass sich die Ansichten der Touristen während des Besuchs stark verändern. Vorher werden mit den Slums vor allem Elend, Dreck, Krankheit und Kriminalität assoziiert – hinterher sind viele dagegen regelrecht begeistert von der Kultur, der Vielfalt, der Lebendigkeit in diesen Stadtgebieten“. Wobei man darüber diskutieren könne, „ob die Begeisterung der Besucher etwas Positives ist oder eher mit einer Romantisierung und Entproblematisierung von Armut zu tun hat“ (Interview in „Die Zeit“, 12. Jänner 2012).

Responsible Tourism

Vorurteile und falsche Vorstellungen über das Leben in Elendsvierteln abzubauen, kann ein positiver Effekt von Slum-Tourismus sein. Problematisch wird es allerdings dann, wenn Armut nicht mehr als strukturelle Ungleichheit gesehen wird, sondern als Ausdruck von afrikanischer Kultur oder Lebensweise, wenn Stereotype wie „arm, aber glücklich“ womöglich sogar verfestigt werden. Tatsächlich kann man einen Slum nicht mit dem anderen vergleichen, so ähnlich die Anhäufung armseliger Behausungen von Weitem auch aussehen mag, wobei die Unterschiede weit mehr als nur länderspezifisch sind.
Die Guides von Slum-Touren wissen, wovon sie reden, denn in der Regel kommen sie aus dem betreffenden Armenviertel. Ein Teil der Gewinne von Slum-Tour-Anbietern wird meist für soziale Projekte vor Ort bzw. für Sprachkurse neuer Guides verwendet. 2012 erhielt Reality Tours and Travel, das seit 2005 Slum-Touren in Dharavi, einem riesigen Slum-Viertel mitten in Mumbai, anbietet, den Responsible Tourism Award. 80 Prozent des Gewinns aus allen Führungen werden für soziale Projekte eingesetzt. TouristInnen erfahren im Laufe einer Führung nicht nur, dass die Wertschöpfung sämtlicher Kleinunternehmen Dharavis mehr als 660 Millionen Dollar ausmachen soll, sondern sehen direkt vor Ort Beispiele für diesen Unternehmergeist. Der Responsible Tourism Award wurde im Übrigen 2011 an die soziale Einrichtung Sockmob Events/Unseen Tours verliehen: Londoner Wohnungslose zeigen TouristInnen ihre speziellen Stadtansichten. Man muss also auch im Jahr 2013 gar nicht (mehr) so weit reisen, um die Welt einmal aus einem anderen Blickwinkel zu sehen.

Gratis Download des wissenschaftlichen Artikels „Slum Tourism: Developments in a Young Field of Interdisciplinary Tourism Research“, Fabian Frenzel und Ko Koens: tinyurl.com/b8rwow5

Webseite zum Forschungsprojekt der Universität Osnabrück über den städtischen Armutstourismus im globalen Süden: www.slumming.de

Englischsprachige Seite mit vielen Links und Buchtipps rund um das Thema Slumtourismus:
www.slumtourism.net

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