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Sozial ungleiche Wahlbeteiligung Andere Vorschläge - wie die Zusammenlegung von mehreren Wahlen an einem Wahltag oder die Belohnung der Wahlteilnahme mit einem Lottoschein - bringen vielleicht eine Erhöhung der Wahlbeteiligung. Sie ändern aber nichts an dem Grundproblem.

Sozial ungleiche Wahlbeteiligung

Schwerpunkt

Je mehr Einkommen und Bildung Menschen haben, desto eher nutzen sie ihre demokratischen Rechte. Das führt zu mancher Schieflage.

Ein mondänes Lokal in einem Hamburger Nobelbezirk. Dicht gedrängt starren die Gäste auf einen großen Flachbildschirm. Ganz vorne steht ein Mitfünfziger mit Smoking und schwarzer Fliege, glattrasiertem Gesicht und akkuratem Seitenscheitel. An seiner Seite blickt eine etwa gleich alte Frau gebannt auf den Bildschirm. Sie trägt einen perfekt sitzenden Blazer und ein unaufdringliches, aber exquisites Perlencollier schmückt ihren Hals. Plötzlich bricht die versammelte Menge in Jubel aus. Der Mann im Smoking verliert kurz die Contenance, ballt mehrmals beide Hände zu einer Faust und brüllt dabei vor Freude. Ein anwesendes ReporterInnenteam hält für ein erstes Statement das Mikrofon vor die jubelnde Menge. „Das – finde ich – ist gelebte Demokratie“, verrät die Frau mit dem Collier. 1

„Feiner“ Bürgerentscheid
Was diese feine Gesellschaft in solch eine Jubelstimmung versetzte, war das Abstimmungsergebnis eines sogenannten „Bürgerentscheids“ über eine weitreichende Schulreform in Hamburg im Juli 2010. Die Grundschule sollte von vier auf sechs Jahre verlängert werden. Durch das längere gemeinsame Lernen sollten vor allem die „Schwächeren“ mehr gefördert werden. Dies war den gut situierten Eltern ein Dorn im Auge. Sie pochten darauf, dass ihre wohl behüteten Sprösslinge auch weiterhin nach der 4. Schulstufe von den „schwächeren“ SchülerInnen getrennt werden sollten und gründeten eine BürgerInneninitiative. Diese machte erfolgreich gegen den einstimmigen (!) Beschluss für die Schulreform im Landesparlament mobil und erzwang einen Volksentscheid.

Blicken wir am Tag der Abstimmung aber auch in jene Teile der Stadt, die mit weniger Reichtum gesegnet sind. Zum Beispiel in den Bezirksteil Hamburg-Billstedt: Die Hälfte der Kinder wächst in einem Hartz-IV-Haushalt auf, ein Drittel der Jugendlichen schafft keinen Hauptschul- oder höheren Abschluss. Die Wahllokale sind am Tag der Abstimmung wie leergefegt. Lediglich die VertreterInnen der Wahlbehörden langweilen sich dort an diesem schönen Sommertag. Viele Menschen auf der Straße hören – von ReporterInnen dazu befragt – das erste Mal von der Abstimmung. Eine Frau hat ganz offensichtlich den Sinn der Fragestellung des Bürgerentscheids nicht erfasst: Sie habe gegen die Schulreform gestimmt, weil die Kinder sowieso schon so wenig Freizeit hätten, erklärt sie der erstaunten Reporterin.
Bei der Abstimmung stimmten 58 Prozent gegen die geplante Schulreform. Eine Analyse der Ergebnisse zeigte Folgendes: In den reicheren Stadtteilen, in denen das jährliche Durchschnittseinkommen rund 60.000 Euro pro Haushalt beträgt, lag die Wahlbeteiligung bei 54 Prozent. Dort, wo die Bevölkerung besonders von der Schulreform profitiert hätte, in den ärmeren Stadtteilen mit 20.000 Euro jährlichem Durchschnittseinkommen, nahmen nur 27 Prozent an der Abstimmung teil. 2
Handelt es sich bei diesem Beispiel um einen bedenklichen Einzelfall? Oder verabschieden sich einkommensschwache und bildungsferne Schichten in westlichen Demokratien immer mehr von der Beteiligung an Wahlen?
Dann wäre eine der größten Errungenschaften der ArbeiterInnenbewegung infrage gestellt.

1906: Allgemeines Wahlrecht
Blicken wir kurz zurück in die Österreichisch-Ungarische Monarchie am Anfang des 20. Jahrhunderts: 5.000 Großgrundbesitzer wählen 85 Abgeordnete, 5,3 Mio. Menschen aus der allgemeinen Wählerklasse entsenden 72 Abgeordnete in den Reichsrat. Noch 1901 fanden die Wahlen zum Wiener Reichsrat nach dem Zensuswahlrecht statt. Nicht jede Stimme zählte gleich viel, sondern ihr Wert bemaß sich am Steueraufkommen, Grundbesitz oder Vermögen. Der politische Druck der Sozialdemokratie unter der Federführung Viktor Adlers und Massenproteste im November 1905 führten im Jahr darauf zur Einführung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts. Das allgemeine, gleiche Wahlrecht war zunächst auf Männer beschränkt, galt 1918 dann auch für Frauen. Wenn alle 3 ab Erreichung des Wahlalters wählen, sollten auch die politischen Interessen der Bevölkerung gleichwertig und unabhängig vom sozialen Stand im Parlament vertreten sein. Heute lässt sich ein deutliches Sinken der Wahlbeteiligung seit den 1980er-Jahren diagnostizieren. Lag bei österreichischen Nationalratswahlen die Wahlbeteiligung in der Zweiten Republik zunächst stets über 90 Prozent, so sank dieser Wert auf unter 80 Prozent bei den letzten beiden Wahlen 2006 und 2008. Der Trend einer sinkenden Wahlbeteiligung ist auch in anderen westlichen Ländern 4 feststellbar.

In den Debatten über Ursachen und Folgen der sinkenden Wahlbeteiligung wird eine Frage leider viel zu selten untersucht – jene nach Einkommen und Bildungsgrad der NichtwählerInnen. Der deutsche Politikwissenschafter Sebastian Bödeker hat dies getan. Er zieht dazu die Ergebnisse einer in Deutschland regelmäßig stattfindenden Bevölkerungsumfrage (ALLBUS) 5 heran. Bödeker vergleicht die Wahlbeteiligung des ärmsten und des reichsten Fünftels der Bevölkerung bei den Bundestagswahlen 1987 und 2009. Bei den Wahlen 1987 war die Gesamtwahlbeteiligung mit 84,3 Prozent noch relativ hoch. Der Unterschied in der Wahlteilnahme zwischen Arm und Reich fiel mit 2,9 Prozent gering aus. 2009 betrug die Gesamtwahlbeteiligung nur mehr 70,8 Prozent. Die Wahlbeteiligung des reichsten Fünftels war aber um 32 Prozent höher als jene des ärmsten Fünftels. Schaut man sich die Wahlbeteiligung nach Bildungsniveau getrennt an, ergibt sich ein ähnliches Bild: HauptschulabsolventInnen wählten weniger oft als MaturantInnen, der Unterschied ist auch hier 2009 gegenüber 1987 größer geworden.
Bödeker kommt zu folgendem Schluss: „Politische Partizipation steigt mit der Verfügbarkeit von Einkommen und Bildung. Soziale und wirtschaftliche Ausgrenzung führen nicht zu einer gesteigerten Bereitschaft für Protest und politischem Engagement, sondern zu politischer Apathie.“ 6 Dieses Ergebnis bestätigt auch Bödekers Kollege Armin Schäfer mit seiner Analyse der Wahlbeteiligung in 86 Kölner Stadtteilen in Abhängigkeit von der Arbeitslosenquote. 7 Die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2005 war in reichen Stadtteilen um bis zu 40 Prozent höher als in armen Stadtteilen. Schäfers Untersuchungen belegen auch: Je niedriger die Wahlbeteiligung, umso sozial ungleicher ist sie.
8

Frustriert von denen da oben
Die Konsequenzen sozial ungleicher Wahlbeteiligung liegen auf der Hand. PolitikerInnen vertreten vor allem die Interessen ihrer WählerInnen. Brechen die unteren sozialen Schichten als WählerInnen weg, werden politische Maßnahmen eher zu ihrem Nachteil ausfallen. 9 Immer mehr Menschen werden an den sozialen Rand gedrängt und sehen keine Aufstiegschancen mehr. Sie sind frustriert vom politischen System, von „denen da oben“ und verzichten auf politische Beteiligung. Dem demokratischen System droht die Erosion. Aber was muss passieren, damit Menschen wie die BewohnerInnen von Hamburg-Billstedt wieder für ihre Interessen zur Wahl schreiten?

Vertrauensbildende Maßnahmen
In erster Linie müssen Maßnahmen gesetzt werden, die allgemein zu mehr Vertrauen in das politische System führen. Sebastian Bödeker nennt zum Beispiel die Beschränkung der Lobby-Macht wirtschaftlicher Interessen. Aber auch strenge Anti-Korruptionsgesetze würden „die Politik“ weniger angreifbar für berechtigte oder unberechtigte Pauschalverurteilungen machen. Andere Vorschläge, wie die Zusammenlegung von mehreren Wahlen an einem Wahltag oder die Belohnung der Wahlteilnahme mit einem Lottoschein, bringen vielleicht eine Erhöhung der Wahlbeteiligung. Sie ändern aber nichts an dem Grundproblem – im Gegenteil: Das Ziehen eines Lottoscheins als bestimmendes Wahlmotiv kann wohl nicht das Ziel sein.
Will man die Wurzel des Problems bekämpfen, müssen vor allem die sozialen Ungleichheiten verringert werden. Die Schulreform in Hamburg wäre wohl ein kleiner Mosaikstein dafür gewesen. Die Mehrheit war dagegen – das ist gelebte Demokratie. Oder auch nicht.

Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor christian.zickbauer@gmail.com
oder die Redaktion aw@oegb.at


1 Volksentscheid Hamburg: Egoismus macht Schule – PANORAMA  (DAS ERSTE, NDR, ARD), veröffentlicht auf YouTube am 23. 7. 2010, www.youtube.com/watch?v=xjB8z0_-2dQ [Stand: 27. 9. 2012]
2 MigrantInnen ohne deutschen Pass, deren Kinder mittlerweile einen hohen Anteil in Grundschulen stellen, waren überhaupt von der Abstimmung ausgeschlossen.
3 Ausländische StaatsbürgerInnen waren und sind bis heute, unabhängig von der Dauer ihres Aufenthaltes in Österreich, nicht vom allgemeinen Wahlrecht erfasst.
4 Werner T. Bauer, Wenn die Wähler weniger werden: Überlegungen zum Problem der sinkenden Wahlbeteiligung, Wien 2004.
5 ALLBUS: Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften
6 Sebastian Bödeker, Soziale Ungleichheit und politische Partizipation in Deutschland, 2012, Arbeitspapier Nr. 1 der Otto Brenner Stiftung
7 Armin Schäfer, Wer geht wählen? Die soziale Schieflage einer niedrigen Wahlbeteiligung, Köln 2009, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung
8 Armin Schäfer, Die Folgen sozialer Ungleichheit für die Demokratie in Westeuropa, 2010, in: Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft 4 (1), S. 131–156.
9 Für die USA hat dies der Politikwissenschafter Martin Gilens u. a. in seinem aktuellen Buch „Affluence & Influence: Economic Inequality and Political Power in America“, 2012, nachgewiesen. In Europa gibt es zur Zeit noch wenig Forschung zu diesem Thema.

 

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