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Gefühl Macht Geschichte Die in den neunziger Jahren in Szene gesetzte "Sozialschmarotzer-Debatte" versuchte, durch die Erzeugung von Neid und Missgunst die Gesellschaft zu spalten.
Buchtipp

Gefühl Macht Geschichte

Schwerpunkt

HistorikerInnen erforschen, wie Emotionen unser (Er-)Leben verändern, denn sie haben immer auch etwas mit Macht und Herrschaft zu tun.

In den letzten Jahren hat sich - neben der Soziologie und Politikwissenschaft - auch die Geschichtswissenschaft mit den kollektiven "Gefühlen" einer Gesellschaft im Rahmen einer "Geschichte der Emotionen" beschäftigt. Dabei geht es - zum Teil mit Rückgriff auf sozialpsychologische und neurowissenschaftliche Forschungsansätze - vielfach nicht um neue, andere Erzählungen der Geschichte, sondern um eine interpretative Einbindung kollektiver Gefühlswelten in die Betrachtung der Vergangenheit. Im Vordergrund stehen die Fragen, wie Gefühle sozial hergestellt wurden, welche Rolle sie in und für die Gesellschaft oder gesellschaftliche Gruppierungen einnahmen, wie sie konstruiert und transportiert wurden. Weiter wird untersucht, wie sich Menschen von Emotionen und Interessen, die mit den jeweiligen Ordnungsvorstellungen der Gesellschaft im Widerspruch stehen, steuern ließen und wie die Geschichtsschreibung bisher in ihren Darstellungen damit umging. Kurz: Die Geschichte der Ängste, der Hoffnungen, des Zusammengehörigkeitsgefühls ist zu einem neuen, nun schon recht weit verbreiteten Forschungsfeld geworden.

Emotionen: Ergebnis unserer Werte

Die amerikanische Emotionshistorikerin Barbara Rosenwein sieht Emotionen als "das Ergebnis unserer Werte und Wertungen". Damit wird auch mit der gängigen Vorstellung aufgeräumt, dass Gefühle irrational, dem Verstand nicht zugänglich oder ihm entgegengerichtet seien, mit der Geschichte nichts zu tun haben und überdies - wenn überhaupt - nur individuell erfassbar seien. Vielmehr wird heute davon ausgegangen, dass sich Verstand und Gefühlsleben gleichsam ergänzen und eine Handlungsmotivation darstellen.

Geschichte der Gefühle

Ute Frevert, die seit 2008 am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung den Forschungsbereich "Geschichte der Gefühle" leitet, geht davon aus, dass Gefühle eine Geschichte haben: "Zwar kannten die Menschen vor 300 Jahren auch das, was PsychologInnen primäre oder sekundäre Emotionen nennen - Hass, Angst, Freude, Neid, Vertrauen. Wovor sie sich aber fürchteten, wem gegenüber sie Mitleid empfanden, worauf sie stolz waren, unterschied sich erheblich. Trieb viele Menschen die Angst vor Hexen um, ängstigen sie sich heute vor Klimawandel und Atomraketen. Mit der Zeit und dem Objekt ändert sich auch, wie Menschen ihre Angst ausdrücken und was sie daraufhin tun." Und Gefühle machen Geschichte: "Ausgelebte und unterdrückte Emotionen leiten menschliches Verhalten im privaten wie öffentlichen Leben, in Fragen des Konsums wie der Kultur. Und sie beeinflussen den Lauf der Geschichte: Kriege, Revolutionen, auch alltägliche Politik sind undenkbar ohne Angst, Wut, Enttäuschung, Ehrempfinden oder Vertrauen."
Gefühle haben immer auch etwas mit Macht und Herrschaft zu tun. Wer bestimmt, welche Gefühle gesellschaftskonform sind und welche nicht? War es nicht - um nur ein Beispiel aus der Geschlechtergeschichte zu nennen - in einer von männlichen Konventionen dominierten Gesellschaft bis vor wenigen Jahren gleichsam "unmännlich" zu weinen, war es Frauen nicht mehr oder minder "verboten", ihrer Wut und ihrem Ärger offen Ausdruck zu verleihen? Wir wissen, dass die Beobachtung und Kontrolle von kollektiven Gefühlen zum Repertoire aller Diktaturen bei der Machtgewinnung und -erhaltung gehört. Doch versuchen nicht auch demokratisch gewählte Regierungen den "Gefühlshaushalt" der Menschen zur Durchsetzung politischer Ziele zu manipulieren? Durch die "Angst vor einer Verbreitung kommunistischer Regimes" bekamen die USA über lange Jahre in der Bevölkerung Zustimmung für den Vietnam-Krieg, und die aufgrund von 9/11 ausgelöste und bewusst von der Bush-Regierung verstärkte "Terrorismus-Angst" war entscheidend für die Akzeptanz des Iran-Krieges, wie überhaupt die oft bewusste Herstellung von Furcht und Ängsten in den internationalen Beziehungen eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt.

Angst macht auch Politik

Somit bleibt Axel Schildt nur zuzustimmen, wenn er etwa feststellt: "Ohne Berücksichtigung der Angstpotentiale der Bevölkerung, die stets auch medial konstruiert waren und mit denen stets auch Politik gemacht wurde, lässt sich der historische Prozess insgesamt nur sehr unvollkommen verstehen."
Zugegeben, die Geschichtswissenschaft befindet sich in der Emotionsforschung noch auf sehr dünnem Boden, zumal sich wohl viele Ereignisse in der Vergangenheit allzu leicht auf kollektive Gefühlswelten zurückführen ließen. Strukturell bedingte Entwicklungen, ökonomischer und sozialer Wandel sowie die kulturelle Verfasstheit von Gesellschaften sollen und dürfen nicht emotionsgeschichtlich ersetzt werden. Andererseits: Emotionen spielten in der ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbewegung schon immer eine tragende Rolle. War es beispielsweise der kollektive Aufschrei der Wiener ArbeiterInnen gegen die soziale und politische Unterdrückung, der sie 1848 (erfolglos) auf die Barrikaden gehen ließ, war es nicht das Gefühl, nur gemeinsam etwas verändern zu können, das zur Gründung von ArbeiterInnenparteien und Gewerkschaften führte? Begleitet nicht das Gefühl der Solidarität, verbunden mit individuellen Sorgen und Ängsten, ArbeitgeberInnen hilflos ausgeliefert zu sein, den Aufstieg der Gewerkschaften?
Bislang wurde auch in der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung den Emotionen als "soft facts" gegenüber sozial-ökonomischen Merkmalen zu wenig Beachtung geschenkt. Gefühle sind Bestandteil gesellschaftlicher Deutungs- und Handlungszusammenhänge und haben eine gemeinschaftsbildende Kraft. Die Solidargemeinschaft konstituiert sich nicht allein durch Status, Herkunft, Arbeitsverrichtung, sondern vielmehr durch gemeinsame Nöte, Sorgen, Ängste, aber auch durch geteilte Zukunftshoffnungen und -erwartungen.

Wandel kollektiver Gefühle

Wie sich der Wandel von kollektiven Gefühlswelten vollzieht, konnte in den letzten beiden Jahrzehnten beobachtet werden. Der ökonomische und soziale Wandel gepaart mit neoliberalem Denken schuf durch die damit einhergehenden Veränderungen von gesellschaftlichen Werten eine neue kollektive "Gefühlshierarchie", in der die sogenannte "Freiheit des Individuums" einen zentralen Stellenwert bekam. Individualisierte Gefühlswelten traten zur Abschaffung des Sozialen und zur Etablierung eines unbeschränkten Kapitalismus an. Die in den neunziger Jahren in Szene gesetzte "Sozialschmarotzer-Debatte" versuchte, durch die Erzeugung von Neid und Missgunst die Gesellschaft zu spalten. Solidargemeinschaften wurden desavouiert und die Freiheit von staatlichen Regulierungen sollte in jene Zukunft führen, in der für alle - sofern man den Interessen des Kapitals dient und nicht in die Armutsfalle tappt - das individuelle Glück nur abzuholen wäre. Indes wurde die "Risikogesellschaft" durch eine Zunahme kollektiver Sorgen gekennzeichnet. Ängste vor wachsender Arbeitslosigkeit, einer Verschlechterung der Wirtschaftslage, steigenden Lebenserhaltungskosten und sinkendem Lebensstandard wurden zu den "Hauptsorgen der Bevölkerung".

Gefühlsgemeinschaft Gewerkschaft

Während nun - nach Zusammenbruch des Finanzkapitalismus - der Politik immer weniger Gestaltungskraft zugesprochen wird, PopulistInnen ihr perfides Spiel treiben und als "AngstmacherInnen" Menschen, Gesellschaften und Staaten gegeneinander aufzuhetzen versuchen, gewinnen Solidargemeinschaften, die sich für eine soziale und gerechtere Gestaltung der Gesellschaft einsetzen, wieder zunehmend an Interesse und Bedeutung. Darin liegt - auch aus historischer Perspektive - die große Chance der Gewerkschaften, als emotionale Gefühlsgemeinschaft den ArbeitnehmerInnen jenen Halt und jene Sicherheiten zu erkämpfen und zu vermitteln, die zur Bewältigung ihres Alltags notwendig sind.

Internet:
Mehr Infos unter: www.mpib-berlin.mpg.de/de/forschung/geschichte-der-gefuehle

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