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Migration und Gewerkschaften Viele Kolleginnen und Kollegen berichten von eingeschüchterten MitarbeiterInnen mit migrantischem Hintergrund, die den Kontakt mit der Gewerkschaft scheuen ...

Migration und Gewerkschaften

Schwerpunkt

Migration und Integration in Europa waren Themen einer Tagung Anfang 2012 in Portugal, organisiert von der Europäischen Gewerkschaftsakademie.

Bei allen Verschiedenheiten, die von der unterschiedlichen Anzahl der Bevölkerung mit Migrationshintergrund bis zu differenten rechtlichen Rahmenbedingungen reichen, stehen die europäischen GewerkschafterInnen doch vielfach vor denselben Problemstellungen:

  • Wie kann der Zugang zu Arbeitsrecht (z. B. Unterbezahlung) und Sozialleistungen für MigrantInnen gesichert werden?
  • Wie kann Rassismus in den jeweiligen Staaten entgegengetreten werden?
  • Wie können MigrantInnen besser erreicht und gewerkschaftlich organisiert werden?

Viele Kolleginnen und Kollegen berichten von eingeschüchterten MitarbeiterInnen mit migrantischem Hintergrund, die den Kontakt mit der Gewerkschaft scheuen, weil es in ihren Herkunftsländern zum Teil sehr gefährlich ist, sich einer ArbeitnehmerInnen-Interessensorganisation anzuschließen.

Drei Grundprinzipien

Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) hat drei Grundprinzipien formuliert, für die Gewerkschaften in Europa stehen sollen:

  • "Inclusive Citizenship"
  • Toleranz
  • Solidarität

Der englische Ausdruck "Inclusive Citizenship" steht für eine Politik, die darauf ausgerichtet ist, allen BürgerInnen das Gefühl zu geben, Teil der Gesamtgesellschaft zu sein. Dafür müssen Gesetze erlassen werden, die den gleichen Zugang zu allen arbeits- und sozialrechtlichen Angelegenheiten sicherstellen. Und das unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht oder Religion der Betroffenen.
Toleranz steht nicht für das einfache "Tolerieren" von Menschen anderer Hautfarbe oder anderer Religion. Toleranz heißt, Differenzen zu akzeptieren und sie als Teil einer pluralistischen Gesellschaft anzuerkennen.
Solidarität im Rahmen von Migration bedeutet, Zuwanderinnen und Zuwanderer, die in europäischen Ländern leben und arbeiten, einen Teil des Kuchens abzugeben. Und mehr noch: Wenn sie dieses Kuchenstück nicht bekommen, müssen wir als GewerkschafterInnen mit demselben Einsatz dafür sorgen, dass MigrantInnen erhalten, was ihnen zusteht, wie wir es bei ÖsterreicherInnen tun.
GewerkschafterInnen aus unterschiedlichen Staaten stellten in Sesimbra entsprechende Best-Practice-Beispiele aus ihren Ländern vor, um zu untermauern, wie diese drei Prinzipien in der Praxis gelebt werden können und sollen.

Finnland

Die Zentralorganisation der finnischen Gewerkschaften SAK ist der größte der drei Gewerkschaftsdachverbände des nordeuropäischen Landes. Während Finnland generell mit einer sehr hohen gewerkschaftlichen Organisationsrate von etwa 70 Prozent zur Spitze zählt, erreicht auch die Organisationsrate von MigrantInnen mit 30 Prozent im europäischen Vergleich einen hohen Wert.
Doch die Finninnen und Finnen wollen sich nicht auf ihren Lorbeeren ausruhen, und versuchen, besonders aktiv auf die ArbeiterInnen mit Migrationshintergrund zuzugehen. Ihr Motto lautet, dass der schriftliche Kontakt nie ausreicht und immer der persönliche Austausch gesucht werden soll. Zuletzt wurde in diesem Zusammenhang etwa eine eigene russischsprachige Abteilung innerhalb der finnischen Bauarbeitergewerkschaft eingerichtet, um Russisch sprechende Mitglieder nicht nur zu werben, sondern diese auch effektiv betreuen zu können.
Ein großer Erfolg gelang den finnischen Kolleginnen und Kollegen auch im Atomkraftwerk Olkiluoto. Polnische ArbeiterInnen brachten ungerechte Arbeitsbedingungen mit der Unterstützung der Gewerkschaft erfolgreich vor Gericht und erhöhten so das Ansehen der SAK und das Vertrauen innerhalb der polnischen Community zu den GewerkschafterInnen generell.
Man muss fairerweise anmerken, dass die finnischen Kolleginnen und Kollegen für ihre Aktivitäten auch bessere Rahmenbedingungen vorfinden als GewerkschafterInnen in anderen Ländern. So darf die Rolle des vorbildlichen finnischen Schulsystems bei der Integrationspolitik nicht unterschätzt werden. MigrantInnenkinder weisen kaum mehr Defizite auf als einheimische Kinder und werden gezielt und effektiv gefördert.

Belgien 

Eine OECD-Studie aus dem Jahr 2009 stellt große Übereinstimmungen zwischen Belgien und Österreich fest, wenn auch leider nicht im positiven Sinne.1 
Belgien hat teilweise ähnliche Probleme wie Österreich: Wie hierzulande ist die Arbeitslosenquote von jungen Erwachsenen (20-29 Jahre) mit Migrationshintergrund verglichen mit jener von Einheimischen mehr als doppelt so hoch. Ein besonders großes Problem stellen in diesem Zusammenhang auch die selektiven Bildungssysteme der beiden Länder dar, die Kinder von MigrantInnen nur unzureichend fördern. So wiesen junge Erwachsene der zweiten Generation (Menschen, die zwar eine migrantische Herkunft haben, aber bereits in Belgien bzw. Österreich geboren sind) im Durchschnitt ein weitaus schlechteres Bildungsniveau auf als Einheimische.2
Die belgische Gewerkschaft versucht hier gegenzusteuern. Der christlich-soziale Gewerkschaftsdachverband ACV-CSC ist mit 1,7 Mio. Mitgliedern die größte der drei belgischen Gewerkschaftsdachorganisationen und diesbezüglich der einflussreichste Player.
Um möglichst alle MigrantInnengruppen zu erreichen, legen die belgischen GewerkschafterInnen Arbeitsrechtsbroschüren in 30 verschiedenen Sprachen auf: von Serbisch über Arabisch bis zu Deutsch. Auch in Belgien konnten die größten Erfolge bei der polnischen Community erzielt werden. Die Gewerkschaft nutzte die enge organisatorische Verflechtung der Polinnen und Polen untereinander, um sie zu organisieren. Schwieriger gestaltet sich dieses Unterfangen bei den - mehrheitlich eher schlecht ausgebildeten - NordafrikanerInnen.
Um zu zeigen, dass die Themen Migration und Integration nicht immer nur todernst zu sein haben, engagierten die belgischen GewerkschafterInnen bekannte Kabarettisten, die in Form von kleinen Videos auf ironische und humoristische Weise auf einer Website Integrationsprobleme präsentierten.

Großbritannien

Der englische Gewerkschaftsdachverband TUC engagierte sich bereits in den 1970er-Jahren aktiv gegen Rassismus. Ein bis heute gerne zitiertes Beispiel dafür ist etwa die Unterstützung von Musikveranstaltungen unter dem Banner "Rock against racism". Die Anti-Rassismus-Kurse innerhalb der britischen Gewerkschaften sind bis heute verpflichtender und wichtiger Teil der Ausbildung von hauptamtlichen GewerkschafterInnen.
Nach der EU-Osterweiterung und der sich daraus ergebenden stärkeren Zuwanderung - Großbritannien sprach sich gegen jegliche Übergangsfristen aus - aus Polen und Portugal, wurden enge Kooperationen mit den Gewerkschaften der beiden Länder gebildet. Die polnischen und portugiesischen Gewerkschaften unterstützen den TUC vor Ort bei der Organisierung ihrer Landsleute, die in Großbritannien oft mit schlechten Lohn- und Arbeitsbedingungen konfrontiert sind, welche auch zu Sozialdumping geführt haben. Von der britischen Gewerkschaft werden die wichtigsten Informationen auch auf Polnisch und Portugiesisch zur Verfügung gestellt.
Die englischen GewerkschafterInnen vertreten die Ansicht, dass die MigrantInnen insgesamt die Wirtschaft Großbritanniens gestärkt und zum Wirtschaftswachstum beigetragen haben. Trotzdem werden die Rechte der MigrantInnen immer noch oft missachtet, und auch gut ausgebildete OsteuropäerInnen üben unqualifizierte Jobs aus, die von Britinnen und Briten als zu minder angesehen werden. Der Agrar- und der Nahrungsmittelsektor könnten ohne Zuwanderinnen und Zuwanderer etwa überhaupt nicht mehr existieren.
Insgesamt gilt für alle europäischen Gewerkschaften gleichermaßen, dass sie die Herausforderungen, die Migration mit sich bringt, annehmen und ihrer Verpflichtung nachkommen müssen, Neuankömmlinge aktiv zu unterstützen.


1 Thomas Liebig, Sarah Widmaier (2009): "Children of Immigrants in the Labour Markets of EU and OECD Countries: An Overview", OECD Social, Employment and Migration Working Papers no. 97
2 Dass es auch anders geht, zeigen angloamerikanische Länder wie Großbritannien oder Kanada vor, wo sich die Arbeitslosenraten von In- und AusländerInnen de facto nicht unterscheiden und sich auch bei Bildungstests zumindest bei der zweiten Generation keine Defizite mehr gegenüber der einheimischen Bevölkerung feststellen lassen.

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