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Reformen des sozialen Dialogs in Frankreich Ein effektiver sozialer Dialog setzt verpflichtungsfähige Partner und damit die Eindämmung der Zersplitterung und der damit einhergehenden Rivalität auf Gewerkschaftsseite voraus.

Reformen des sozialen Dialogs in Frankreich

Internationales

Die französischen Gewerkschaften müssen umdenken.

Seit 2007 erfolgten in Frankreich tiefgreifende Reformen des sozialen Dialogs. Aus Perspektive der konservativen Regierungen bestand das Ziel der eingeleiteten Reformen darin, den Unternehmen erweiterte Flexibilitätsspielräume zu bieten, die allerdings in sozialpartnerschaftlichen Verhandlungen festzulegen wären, um den sozialen Frieden zu gewährleisten.
Ein Hauptproblem für die Umsetzung dieser arbeitspolitischen Konzeption liegt in der Schwäche der Gewerkschaften, ihrer Zersplitterung und Rivalität. Die institutionellen Reformen im Bereich des sozialen Dialogs zielen auch darauf ab, diesem Problem entgegenzutreten bzw. es zu umgehen.

Reformgesetze 

Die französische Gewerkschaftsbewegung war in den 2000er-Jahren charakterisiert durch einen sehr niedrigen Organisationsgrad (acht Prozent 2009), den Pluralismus rivalisierender Richtungsgewerkschaften, zunehmende organisatorische Zersplitterung aufgrund der Entstehung neuer Berufs- und Branchengewerkschaften, abnehmende Legitimation durch die betrieblichen Vertretungswahlen und sinkenden Einfluss auf Politik und Gesellschaft.
Das "Gesetz über die Modernisierung des sozialen Dialogs" aus 2007 verpflichtete die Regierung, Reformen in den Bereichen Arbeitsbeziehungen und Beschäftigung zunächst im Rahmen des nationalen sozialen Dialogs zu beraten und den Sozialpartnern die Möglichkeit zu geben, eine Vereinbarung zu treffen, die in der Folge Grundlage eines Gesetzes werden könnte.

Neuregelung der Repräsentativität

Schon 2008 wurde bei der lange überfälligen Neuregelung der Repräsentativität von Gewerkschaften so verfahren. Die beiden mitgliederstärksten Gewerkschaftsdachverbände und die beiden größten Arbeitgeberdachverbände einigten sich auf eine Neudefinition der Repräsentativität von Gewerkschaften auf Basis der Ergebnisse der betrieblichen Vertretungswahlen und auf neue Regeln hinsichtlich der Gültigkeit von Kollektivverträgen (KV) auf allen Ebenen. Das in der Folge verabschiedete "Gesetz über die Erneuerung der sozialen Demokratie" orientierte sich in wichtigen Punkten an der Sozialpartner-Übereinkunft.
Bis dahin galten jene fünf Gewerkschaftsdachverbände als repräsentativ, die durch ein Regierungsdekret 1966 diesen Status erhalten hatten. Das sicherte ihnen - unabhängig von der jeweiligen Mitgliederzahl und vom jeweiligen Organisationsgrad - das KV-Recht auf allen Ebenen, die Ernennung von KandidatInnen für die Wahlen zu betrieblichen Vertretungsorganen und zu sozialpolitischen Gremien sowie Sitze in den Verwaltungsräten der Sozialversicherungsfonds.
Nicht überraschend unterzeichneten die beiden größten Gewerkschaftsdachverbände CGT und CFDT dieses Abkommen über die Neuordnung des sozialen Dialogs, stimmten doch ihre Interessen in dieser Sache weitgehend mit jenen von Staat und Arbeitgeberdachverbänden überein: Ein effektiver sozialer Dialog setzt verpflichtungsfähige Partner und damit die Eindämmung der Zersplitterung und der damit einhergehenden Rivalität auf Gewerkschaftsseite voraus.
Bei der Neudefinition der Repräsentativität der Gewerkschaften übernahm das Gesetz die Schwellenwerte aus dem Sozialpartnerabkommen: Zehn Prozent Stimmenanteil bei den letzten Wahlen zu betrieblichen Vertretungsgremien (Betriebsausschuss bzw. Belegschaftsdelegierte) als Voraussetzung für die Ernennung von Gewerkschaftsdelegierten und die Teilnahme an Verhandlungen über einen Unternehmens-KV, acht Prozent Stimmenquote (aufsummiert) auf Branchen- bzw. nationaler Ebene.

Mindestens 30 Prozent der Stimmen

Diese grundlegende Reform der Repräsentativität der Gewerkschaften trat für die Unternehmensebene am 1. Jänner 2009 in Kraft. 2012 werden die Ergebnisse aller betrieblichen Vertretungswahlen auf Branchen- und nationaler Ebene addiert werden, um auch auf diesen Ebenen die Frage der Repräsentativität zu klären. KV sind gemäß dem neuen Gesetz nur dann gültig, wenn die abschließende/n Gewerkschaft/en bei den jeweiligen Vertretungswahlen mindestens 30 Prozent der Stimmen erhielt/en und die Gewerkschaft/en mit der Stimmenmehrheit keinen Einspruch erhob/en. Durch kleine Minderheitengewerkschaften abgeschlossene KV, die sich häufig als instabil erwiesen, gehören damit der Vergangenheit an.
In Unternehmen mit weniger als 200 Beschäftigten, in denen es keine Gewerkschaftsdelegierten gibt, kann der/die ArbeitgeberIn mit einer nichtgewerkschaftlichen ArbeitnehmerInnenvertretung (Belegschaftsdelegierten bzw. dem Betriebsausschuss) einen Unternehmens-KV abschließen.
Seit den ersten Vertretungswahlen nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes sind erwartungsgemäß weniger Gewerkschaften repräsentativ, und es werden Allianzen eingegangen, um die Anteilshürde zu nehmen.
Die Reform der Repräsentativitätsvoraussetzungen und der Kriterien für rechtskräftige KV dürften also die beiden großen Gewerkschaftsdachverbände CGT und CFDT stärken sowie Fusionen und Bündnisse der kleineren begünstigen. Alle Gewerkschaften werden ihre Basisorientierung und ihre Bemühungen, neue Mitglieder zu gewinnen, verstärken müssen. Inwieweit eine Konsolidierung der Gewerkschaftsstruktur stattfindet, wird sich freilich erst in einigen Jahren beurteilen lassen.

Kollektivverträge

Von repräsentativen Gewerkschaften abgeschlossene KV gelten für alle Beschäftigten des jeweiligen Bereichs, nicht nur für die Mitglieder der betreffenden Gewerkschaften. Sie besitzen normativen Charakter, d. h. den gleichen rechtlichen Status wie gesetzliche Regelungen. Auf nationaler Ebene verhandeln die Sozialpartner über grundlegende Aspekte des sozialen Dialogs sowie über Rahmenabkommen zu sozialpolitischen Themen (z.B. berufliche Aus- und Weiterbildung, Arbeitszeitverkürzung).

Branchen-KV und Mindestlöhne

Die Branchen-KV-Verhandlungen haben ihre Funktion als wichtigste Lohnverhandlungsebene im Zuge der seit den 1980er-Jahren wirksamen Dezentralisierungstendenz an die Unternehmensebene verloren. Auf Branchenebene wird in lohnpolitischer Hinsicht meist nur über spezifische Mindestlöhne verhandelt, die sich oft am gesetzlichen Mindestlohn orientieren.
Neben alljährlichen Lohn-KV-Verhandlungen über Branchenmindestlöhne werden zumindest alle fünf Jahre Verhandlungen über die Festlegung der Lohnstufen nach Qualifikationen geführt. Diese unregelmäßige Anpassung führt dazu, dass viele kollektivvertragliche Branchenmindestlöhne unter dem gesetzlichen Mindestlohn liegen und daher bedeutungslos sind.
Für die Lohnentwicklung entscheidend ist die Unternehmensebene. Gemäß dem Günstigkeitsprinzip dürfen Unternehmens-KV die Mindestlöhne aus Branchen-KV nicht unterschreiten.
In Frankreich hat der Arbeitsminister die Möglichkeit, Branchen-KV, die Lohnbestimmungen enthalten, auch für jene Unternehmen der betreffenden Branche verbindlich zu erklären, die nicht den unterzeichnenden Arbeitgeberverbänden angehören. In den 2000er-Jahren wurden meist mehr als die Hälfte der Branchen-KV für allgemeinverbindlich erklärt. Vor allem aufgrund der häufigen und sehr weite Wirtschaftsbereiche betreffenden Allgemeinverbindlichkeitsverordnungen liegt der KV-Deckungsgrad in Frankreich bei rund 90 Prozent.
Ohne diese Praxis bestünde wegen der Schwäche der Gewerkschaften die Gefahr einer Erosion der KV: Die Anreize für Unternehmen, sich der kollektiven Regelung zu entziehen, würden stark steigen.
Der Einfluss der französischen Gewerkschaften auf die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten stützt sich heute in hohem Maße auf externe Quellen der Unterstützung, nämlich Institutionen wie den sozialen Dialog auf allen Ebenen, die KV, die Allgemeinverbindlichkeitsverordnungen, die Übertragung von öffentlichen Aufgaben im Bereich der Sozialversicherung usw.
Die jüngsten Reformen im Bereich des sozialen Dialogs zwingen die Gewerkschaften, ihre Bemühungen um die Schaffung interner Ressourcen - Werbung von Mitgliedern, verstärkte betriebliche Präsenz, organisatorische Konsolidierung durch Zusammenarbeit und Zusammenschlüsse etc. - massiv zu verstärken.

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