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Fremde Nachbarn Es muss nicht immer gleich eine Moschee inklusive Minarett und Muezzin geplant sein, um bei den AnrainerInnen für schlaflose Nächte zu sorgen. Auch architektonisch unauffällige islamische Kulturzentren stoßen auf massive Widerstände.

Fremde Nachbarn

Schwerpunkt

Türkische bzw. islamische Einrichtungen sorgen immer wieder bei AnrainerInnen für Ängste und Vorbehalte.

Wir schreiben den Oktober 2009: Eine Gruppe von KleingärtnerInnen aus Wiener Neustadt hat beschlossen, den Kampf gegen ein geplantes islamisch-türkisches Zentrum in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft aufzunehmen. Sie nennen sich fortan die Gartengallier, den (SP-)Bürgermeister nur noch Imperatorix und finden bald MitstreiterInnen unter den GemeindepolitikerInnen.
Die Website der Gartengallier ist äußerst umfangreich; laufend informieren Scheiberix, Schülerix & Co. Interessierte über den Stand der mittlerweile begonnenen Bauarbeiten. Lieferwägen und BaustellenbesucherInnen werden fotografiert etc. Auf den ersten Blick erscheint manches vielleicht sogar ganz witzig, doch man braucht angesichts der gallischen Rundumschläge gegen die Stadtregierung, die Grünen, die SPÖ, die EU und viele mehr kein außergewöhnliches psychologisches Einfühlungsvermögen, um zu vermuten, dass die Chancen für ein Aufeinanderzugehen, für gute Nachbarschaft hier äußerst gering sind.

Der Kampf geht weiter

Ein Mediationsverfahren wurde ohne konkretes Ergebnis beendet. Ende 2010 wurde die Baugenehmigung - mit einigen freiwilligen Änderungen seitens des türkischen Vereins Havas - erteilt. Die Gartengallier bleiben weiter wachsam, bei den nächsten Gemeinderatswahlen möchten sie für den Gemeinderat kandidieren.
Ein ähnlich großes islamisch-türkisches Kulturzentrum (mit Einkaufsladen, Schulungs- und Gebetsräumen plus Kindergarten) wird demnächst in Wien-Floridsdorf entstehen. Die AktivistInnen der dortigen Bürgerinitative Rappgasse/Umgebung haben sich Anfang 2010 zusammengeschlossen. BI-Sprecherin Leopoldine Weidinger: "Das Zentrum, zu dem etwa an Freitagen mehrere Hundert Menschen kamen, wurde ursprünglich ohne Genehmigung, ohne jegliche Information der AnrainerInnen in einer alten Fabrikshalle eröffnet. Erst nach unseren massiven Protesten und mit Unterstützung der Volksanwaltschaft wurde es schließlich geschlossen." Mittlerweile gibt es eine Baugenehmigung, der Eingang zum Zentrum wurde von der nur 200 Meter langen Rappgasse in die Koloniestraße verlegt. Die AktivistInnen der BI Rappgasse sind gespannt, was die Zukunft bringen wird. "Ich habe nichts gegen Religion, gegen Vielfalt oder Multikulti, ich bin selbst viel gereist", so die BI-Sprecherin, die sich nicht ins rechte Eck drängen lassen will. "Wir legen Wert auf Zusammenarbeit und Kommunikation. Und wir hoffen, dass sich die Besucher des Zentrums an die Gesetze halten werden."

Moschee ade

Im Jänner dieses Jahres haben sich die Bürgerinitiativen Rappgasse/Umgebung, Dammstraße (unter www.moschee-ade.at im Netz), Troststraße/Muhrengasse und die Gartengallier aus Wiener Neustadt zum Dachverband "Bewegung Pro Österreich" zusamengeschlossen. In der Dammstraße in Wien-Brigittenau kämpft die BI gegen den Ausbau einer Moschee des islamisch-türkischen Vereins ATIB. Vor allem durch das geplante Veranstaltungszentrum werden bis zu 1.500 BesucherInnen pro Tag erwartet. Die BI, unter anderem unterstützt von Ex-FPÖ-Politiker Hans-Jörg Schimanek, wirft den BezirkspolitikerInnen Wortbruch vor, da diese sich schon in den 1990er-Jahren gegen die Errichtung derartiger Großprojekte in verbautem Gebiet ausgesprochen haben sollen.

Gleiche Argumente und Ängste

Ganz ähnliche Vorbehalte, Probleme und Auseinandersetzungen gibt es in ganz Österreich (und in vielen anderen Ländern) sobald bekannt wird, dass irgendwo ein islamisches Kulturzentrum oder eine Moschee entstehen soll. Die Argumente und Ängste sind fast überall die gleichen: Ruhestörung (die südländische Lebensart finden die meisten EuropäerInnen eben nur im Urlaub charmant - sofern sie nicht direkt unter dem eigenen Hotelzimmer stattfindet), Parkplatznot etc.
Man argumentiert auch damit, dass es der Integration nicht gerade dienlich ist, wenn sich türkische MitbürgerInnen ihre eigenen Rückzugsorte schaffen, ja sogar eigene Kindergärten und Schulen bauen. Umgekehrt könnte man natürlich auch die Frage stellen, warum das Bedürfnis nach einem Rückzugsort bei vielen Moslems/Türken/-innen so groß zu sein scheint. Wären sie im Beisl ums Eck tatsächlich willkommen? Manche Gründe für Ängste und Vorbehalte gegenüber vielen türkischen/islamischen Einrichtungen sind vermutlich viel diffuser. Die Tatsache, dass der Islam nicht nur eine Religion ist, sondern auch ein Gesellschafts- und Politikmodell, also so gut wie alle Lebensbereiche erfasst, ist so manchen nicht geheuer. Neben Begriffen wie Scharia, Zwangsheirat oder Dschihad wurde sogar das schon seit vielen Jahrzehnten in Österreich heimische Kopftuch zum Reizwort. "Weil Europa im globalen Vergleich wohlhabend ist, zugleich aber demografisch vergreist und überdies durch die Verdrängung seines christlichen Erbes in eine schwere Identitätskrise geraten ist, fürchtet es jene Nachbarn, die im Kontrast dazu leben, also wirtschaftlich ärmer sind, demografisch jung und sich ihres islamischen Erbes höchst bewusst", so der Islamexperte und Theologe Stephan Baier auf der Veranstaltung "Das Unbehagen mit der Religion" im vergangenen Juni. Ängste gäbe es auf beiden Seiten, denn schließlich dominiere der Westen seit zweihundert Jahren die islamische Welt und nicht umgekehrt.
Zurück in die Niederungen der lokalen Politik: Dass PolitikerInnen geplante Kulturzentren bzw. deren Ausbau manchmal möglichst lange verschweigen, auf Anfragen von AnrainerInnen erst nach Monaten reagieren, fördert weder das gegenseitige Verständnis noch die Deeskalation.

Religion und Politik

Mit rund 90.000 Mitgliedern kann man den türkisch-islamischen Kulturverein ATIB wohl als Big Player der türkischen Community bezeichnen. Er ist derzeit Bauherr mehrerer Projekte in Österreich (z. B. Dammstraße, Rappgasse, Kufstein). Die Initiative Liberaler Muslime in Österreich (ILMÖ) etwa steht dem rührigen Verein kritisch gegenüber, da dessen Vorsitzender Seyfi Bozku auch beim staatlichen türkischen Amt für religiöse Angelegenheiten (der höchsten islamischen Autorität der Türkei) … und in der türkischen Botschaft in Wien als Diplomat (Botschaftsrat) angestellt ist. Dadurch vermische er staatliche und religiöse Aufgaben, was gegen den in der österreichischen Bundesverfassung festgelegten Grundsatz der Trennung von Staat und Religion verstoße.

Seit 1912 Islam anerkannt

Laut Islamischer Glaubensgemeinschaft (IGGiÖ) gibt es in Österreich insgesamt 190 Moscheen, betrieben werden die meisten von den beiden großen Vereinen ATIB und AIF (Islamische Föderation Österreich). Moscheen mit Minaretten gibt es nur wenige, meist wird während der Planungsphase mit der örtlichen Bevölkerung lange um die Höhe der Minarette gefeilscht.
1912 wurde der Islam als Religion anerkannt und den Muslimen Selbstbestimmung zugesichert. Seit 1983 wird in Österreich Islamunterricht für alle muslimischen SchülerInnen durch die IGGiÖ abgehalten, in den letzten zehn Jahren entstanden auch islamische Kindergärten und Schulen, die nach dem österreichischen Lehrplan unterrichten und zusätzlichen Religionsunterricht auf freiwilliger Basis anbieten. Derzeit gibt es im gesamten Bundesgebiet vier Volksschulen, zwei Hauptschulen, ein Gymnasium sowie eine berufsorientierte islamische Fachschule für soziale Bildung. Insgesamt leben mehr als 500.000 Muslime in Österreich, die weitaus größte Gruppe davon hat türkische Wurzeln.
Im Übrigen hat die IGGiÖ Ende 2010 mit der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes (nach einer Beschwerde der Aleviten), dass es in Österreich mehrere islamische Religions- bzw. Bekenntnisgemeinschaften geben darf, ihren bisherigen Alleinvertretungsanspruch für die österreichischen Muslime verloren.

Internet:
Zentralrat der Ex-Muslime in Österreich:
www.exmuslime.at 
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oder die Redaktion
aw@oegb.at 

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